Proteste und Angst in Russland

Teile der Zivilgesellschaft Russlands wagen noch zu demonstrieren, der Staat greift hart durch

Massiver Polizeieinsatz am 6.3.2022 in Moskau: Wer wagt es noch, auf die Straße zu gehen?

Es war ihr 80. Geburtstag, als die bekannte Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina in Moskau festgenommen wurde. Die Mathematikerin und Trägerin des Alternativen Nobelpreises war am 6. März auf dem Weg zu einer Demonstration gegen den Krieg in der Ukraine.

Am selben Tag nahmen Polizisten auch Oleg Orlow fest, Leiter des Menschenrechtszentrum Memorial. Memorial, kürzlich durch einen Gerichtsentscheid endgültig aufgelöste älteste Menschenrechtsorganisation Russlands, leistete einen enormen Beitrag zur Aufarbeitung der Folgen des stalinistischen Terrors.

Allein an diesem Tag fanden Protestaktionen in 65 Städten statt. Die russische Zensurbehörde Roskomnadzor und das Verteidigungsministerium verbieten den Bürgern, die russische Invasion der Ukraine als Krieg zu bezeichnen, und drohen mit Freiheitsstrafen. Laut OVD-Info wurden nur am Samstag mehr als 4600 Menschen festgenommen, mehr als 30 haben über physische Gewalt im Polizeihaft berichtet.

Zehntausende Russen nahmen seit Beginn des Kriegs in der Ukraine an Demonstrationen teil – unter großen Risiken für die eigene Gesundheit und Freiheit. Das unabhängige Menschenrechtsportal OVD-Info berichtet von rund 14 000 Menschen, die wegen der Teilnahme an Antikriegsprotestaktionen seit dem 24. Februar festgenommen worden seien, angeblich auch von den Silowiki erniedrigt und geschlagen.

In den sozialen Medien verbreitete sich der Fall einer 26-jährigen Moskauerin, Alexandra Kaluzhskikh, die in einer Moskauer Polizeistation erniedrigt und von Polizisten mit einer vollen Wasserflasche gegen das Gesicht und Kopf geschlagen wurde. Der Friedensnobelpreisträger und Chefredakteur der Zeitung Nowaja Gaseta Dmitri Muratow wendete sich an Russlands Innenminister Wladimir Alexandrowitsch Kolokolzew mit der Bitte, die Fälle zu überprüfen und zu bewerten.

Auch zahlreiche offene Briefe wurden geschrieben. Die Journalistin Elena Chernenko, Sonderkorrespondentin und Leiterin des Auslandsressorts der Moskauer Tageszeitung Kommersant, initiierte ein Brief, den 400 Journalistinnen und Journalisten unterzeichnet haben. Wegen dieser Initiative hat Maria Zakharowa, Sprecherin des Außenministeriums, Chernenko aus dem sogenannten Journalisten-Pool des Ministeriums ausgeschlossen.

Der Menschenrechtler Lew Ponomarew richtete an die Präsidentenadministration eine Antikriegspetition mit mehr als einer Million Unterschriften. Nun müssen die Medien, die darüber berichtet haben, sogar die Beiträge darüber von ihren Seiten entfernen, weil der Staat es verbietet, über den militärischen Einsatz in der Ukraine als Krieg zu berichten.

Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Wissenschaftler, orthodoxen Priester und Rechtsanwälte haben Protestbriefe geschrieben. Aber das hat auf die Handlungen des Regimes keine Auswirkung.

Eine große Auswirkung dagegen haben aber interne Maßnahmen der Unterdrückung. Die Menschen in Russland, die gegen diesen Krieg sind, haben Angst, ihre Meinungen zu äußern und protestieren zu gehen. Die unterdrückenden Maßnahmen verbreiten sich so schnell, dass man nicht mehr weiß, was „verboten“ ist und was erlaubt.

Die Menschen sprechen wegen des wirtschaftlichen Niedergangs über eine Rückkehr der 1990er-Jahre. Als Journalistin aus Moskau, die seit Jahren in Berlin lebt und arbeitet, bin ich jedoch überzeugt: Sowohl wirtschaftlich als auch politisch sinkt Russland in Tiefen, die nur noch mit den 1920er-Jahren zu vergleichen sind.

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