Ulitsa Sezam: Muppets in Moskau
Wie Miss Piggy und Bibo versuchten, die Herzen und Köpfe russischer Kinder zu erobern
Seit inzwischen zwanzig Jahren versucht der Westen zu verstehen, wie die Russen unter Wladimir Putins Bann geraten konnten. Leider haben Diplomaten, Historiker, Ökonomen und andere Experten bisher noch keine überzeugende Erklärung geliefert. Woran Akademiker und Strategen gescheitert sind, das schaffen aber womöglich Kermit der Frosch, Elmo und die anderen Bewohner der Sesamstraße.
Es war im Jahr 1996. Meine Heimat war mitten in der „Schocktherapie“, also der schnellen, von oben verordneten Liberalisierung und Privatisierung ihrer Wirtschaft nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, und ich schrieb in Princeton an meiner Doktorarbeit. Eines Tages blieb ich an einem Russlandbeitrag von CNN hängen. Anders als sonst ging es nicht um einen Mord, eine Unternehmensübernahme oder den Aufstieg und Fall eines Oligarchen, also um die übliche negative Berichterstattung in dem selbstgefälligen Ton, der mir zuverlässig auf die Nerven ging. Stattdessen war es eine auf den ersten Blick positive Story: Die Muppets waren auf dem Weg nach Moskau.
Nachdem ich dem arroganten Kommentar des CNN-Moderators eine Weile zugehört hatte, wich meine Erleichterung jedoch der Frustration. Nach seiner Darstellung war die Einführung einer russischen Sesamstraße keine durch die Öffnung des Lands möglich gewordene fruchtbare kulturelle Zusammenarbeit. Stattdessen sollten Miss Piggy und Bibo dafür sorgen, dass die amerikanischen demokratischen Überzeugungen die Herzen und Köpfe der Kinder im riesigen postsowjetischen Raum erobern – nicht nur in Russland, sondern auch in Estland, der Ukraine, Georgien und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Ich schaltete um.
Amerikanische Propaganda für Kinder?
Eine Kindersendung, die vor allem für ihre positiven Botschaften zu den Themen Lernen und Teilen bekannt war, wurde zur Propaganda und zum pädagogischen Allheilmittel verdreht und als weiteres Symbol für den Sieg der USA im Kalten Krieg missbraucht. Russland hat jedoch selbst eine reiche Kultur, zu der nicht nur Tolstoi und das Bolschoi-Theater, sondern auch „Gute Nacht, Kinder!“ gehört, eine sowjetische Kindersendung, die der Sesamstraße an Klugheit und Warmherzigkeit in nichts nachsteht.
Zum Glück erlag das Team hinter der Sesamstraße nicht der Attitüde der moralischen Überlegenheit und kulturellen Verachtung, die in den amerikanischen Nachrichten so präsent war und vermutlich von vielen normalen Amerikanern internalisiert wurde. Im Gegenteil. Einem neuen Buch von Natasha Lance Rogoff zufolge, die Anfang der 1990er-Jahre als Produzentin für die Einführung der Muppets in Russland verantwortlich war, ging es bei der Anpassung der Sendung an ein russisches Publikum nicht um Herablassung oder Eroberung, sondern um echte kulturelle Kooperation.
In ihrem Buch „Muppets in Moscow: The Unexpected Crazy True Story of Making Sesame Street in Russia“ lässt Lance Rogoff die politischen Aspekte ihrer Geschichte nicht außen vor. Sie gibt offen zu, dass die US-amerikanische Entwicklungsbehörde und der damalige Senator Joe Biden im Kongress für die Unterstützung einer internationalen Sesamstraße geworben und die Muppets als „ideale Botschafter“ angepriesen haben, die „Kindern in der ehemaligen Sowjetunion demokratische Werte und die Vorteile der freien Marktwirtschaft vorleben können“. Sie schreibt aber auch, es sei „nicht nur unglaublich schwierig gewesen, den überschwänglichen und idealistischen Ton der Sesamstraße für Mütterchen Russland zu übersetzen, sondern auch unglaublich gefährlich“.
Lance Rogoffs Geschichte enthält bizarre, schmutzige und allzu menschliche Details über das morbide Gangstertum der ersten postsowjetischen Jahre, als Journalisten und Geschäftsleute auf Verdacht ermordet wurden und Miss Piggy als Identifikationsfigur für die völlig Skrupellosen verstanden werden konnte. Die Art, wie sie das postsowjetische System verharmlost und für normal erklärt, erinnert mich an Davids Remnicks Buch „Lenin’s Tomb: The Last Days of the Soviet Empire“ aus dem Jahr 1994, in dem er beschreibt, wie Michail Gorbatschows Perestroika Russland veränderte.
Grundwerte vermitteln
Und was vielleicht am wichtigsten ist: Lance Rogoff zeigt, dass die russische Sesamstraße zwar womöglich im Kern eine amerikanische Sendung blieb, aber nicht von Amerika handelte. Und ganz sicher war sie nicht als amerikanische Propaganda gedacht. Sie vermittelt ganz einfach menschliche Grundwerte wie Freundschaft und Austausch, und zwar ebenso für die Russen und Amerikaner, die an ihrer Entstehung beteiligt waren, wie für die kleinen Zuschauer in der ehemaligen Sowjetunion.
Als ich die Sesamstraße – nicht lange nach besagtem CNN-Beitrag – bei einem Moskaubesuch im Jahr 1996 das erste Mal sah, war ich von der großzügigen, süßen und sehr gut gemachten Sendung begeistert, die Einspieler aus dem amerikanischen Original und eigene Geschichten mit russischen Puppen enthielt. Man sah deutlich, dass die kreativen Köpfe der Sendung mit großer Sorgfalt Figuren entwickelt hatten, die das russische Publikum erreichen, etwa das pragmatische orangefarbenen Monster Kubik oder das fantasievolle pinke Muppet Businka. Zeliboba – ein flaumiger, rotnasiger Hausgeist mit Blättern im Fell – war wahrscheinlich die interessanteste (und bestimmt die umstrittenste) dieser Figuren.
Manchmal verfällt auch Lance Rogoff in Klischees. Ihr Buch enthält zu viele „Boris und Natascha“-Momente, in denen Russen nur als Karikaturen auftreten – lächerliche, linkische, gekünstelte Figuren mit starkem Akzent. So stöckelt Irina Borissowa, eine an der Sendung beteiligte reiche Unternehmerin, verspätet und in Stilettos von Christian Louboutin in eine Sitzung. Und der inzwischen verstorbene Boris Beresowski, der gebeten wurde, die Sendung finanziell zu unterstützen, nennt „Bik Burd“ eine „Iii-kone” der amerikanischen Kultur, die so berühmt sei wie „Elvis Pray-esly“.
Wie man in einer friedlichen Gesellschaft lebt
Trotz dieser Schwächen verdient Lance Rogoff Lob nicht nur für ihr erzählerisches Talent, sondern auch für ihre Ausdauer und Hingabe, ohne die es die russische Sesamstraße nie gegeben hätte. Ganz bestimmt zum Leidwesen zahlloser russischer Kinder.
So hatte auch Borissowa ihre Entscheidung begründet, die Sendung mitzufinanzieren: „Obwohl jeder mit einem Funken Selbstrespekt weiß, dass es an der Zeit ist, etwas für russische Kinder zu tun, wird leider kaum etwas getan – nur viel geredet.“ Sie war überzeugt, dass in einer Zeit, in der Russland „sich so schnell verändert und immer noch stark von Gewalt geprägt ist, eine Sendung wie die Sesamstraße unserem Volk zeigen kann, wie man in einer friedlichen Gesellschaft lebt.“
Für Lance Rogoff lag der Schlüssel zum Erfolg jedenfalls nicht im Vorbeten, sondern im Vorleben. Es ging nicht darum, von oben herab Vorträge zu halten, sondern zu zeigen, wie man ehrlich, anständig und menschlich handelt.
Das Aus 2010: Putin will mehr russische Kultur
In den 1990ern war alles Amerikanische bei den Russen groß in Mode. Sie waren aber auch tief gespalten, was Lance Rogoff in Debatten über Rachmaninow und Rock ‘n‘ Roll veranschaulicht. Die russische Kultur ist geprägt von Extremen und viele Russen oszillieren zwischen der Bewunderung westlicher Vorbilder und deren heftiger Ablehnung.
Fast 15 Jahre lang konnten russische Kinder die Sesamstraße sehen – bis zum Jahr 2010. Lance Rogoff zufolge wurde die Sendung eingestellt, weil Putin sie nicht länger für sinnvoll hielt. Die Tatsache, dass ungefähr zur selben Zeit auch viele andere Kooperationsprojekte im Kulturbereich beendet wurden, scheint ihr Recht zu geben. Putin hatte beschlossen, dass russische Kultur nur von Russen gemacht werden kann – und nur er wusste, was russisch ist und was nicht.
In den 1990ern war die russische Gesellschaft durch den Zusammenbruch des Kommunismus so erschüttert worden, dass sie ihre eigenen Werte verloren hatte. Deshalb musste sie aber noch lange nicht zu einem Abziehbild Amerikas werden. Die Sesamstraße funktionierte, weil sie universelle Werte verkörperte. Bleibt die Frage, ob die russische Realität heute anders wäre, wenn mehr Amerikaner das verstanden hätten.
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