Trutzburgen gegen die tägliche Tristesse
Natalija Yefimkinas Film „Garagenvolk“ erzählt, wie Menschen in Russland der unwirtlichen Realität trotzen
Schon auf den ersten Blick wirkt dieser Garagenhof anders. Überall wachsen rostige Schornsteinrohre in die Höhe, die schief aus Löchern in den Wänden ragen. Diese Rohre lassen ahnen: Hinter den hölzernen oder stählernen Toren verbirgt sich mehr als nur ein Auto oder ein Motorrad. In diesen Garagen passiert etwas. Dass aber hier im Verborgenen ein Mikrokosmos der russischen Gesellschaft versteckt liegt, das hätte man dann doch nicht erwartet.
Im Inneren der Garagen spielt sich ein eigenes Leben ab. Abgeschirmt von der Außenwelt sind hier Refugien entstanden, in denen die Menschen nach Regeln und Gesetzmäßigkeiten handeln, die nur sie selbst bestimmen.
Einer schnitzt in einer akribisch eingerichteten Werkstatt hölzerne Ikonen. Ein anderer züchtet Wachteln, die er gelegentlich an Nachbarn verkauft. Und wieder ein anderer hat in jahrzehntelanger Arbeit seine Garage unterkellert – drei Stockwerke tief: eine absurde Kathedrale aus Stahl und Beton, ein unergründliches Aufbegehren gegen die Sinnlosigkeit.
Eine Garage ist zum Fitnessstudio umfunktioniert. Die nächste ist Probenraum für ein Band, wieder eine dient als Lager für Schrottsammler. Und dann gibt es noch eine, in der hat sich eine aberwitzige Infanterieeinheit ihre Kaserne eingerichtet: zwei Männer, die historische Uniformen und Waffen des deutschen Militärs aus der Zeit des Ersten Weltkriegs sammeln und gelegentlich ausrücken gegen einen unsichtbaren Feind in Manövern, die nur sie selbst verstehen.
Der unwirtlichen Realität trotzen
Die Regisseurin Natalija Yefimkina hat alle diese Figuren und ihre Garagen im hohen Norden Russlands gefunden, in Murmansk jenseits des Polarkreises. Eine Stadt, verloren in der Einsamkeit eines kurzen Sommers und eines sehr langen Winters, deren Hafen als wichtiger Stützpunkt der sowjetischen Flotte über Jahrzehnte militärisches Sperrgebiet war. Arbeit gibt es hier nicht viel, außer in einer riesigen Grube für seltene Mineralien, die kaum jemand nach Jahren im Staub gesund verlässt.
Was bleibt in dieser Welt aus Kargheit und Kälte? Ein paar Quadratmeter der Selbstbehauptung, in denen das Draußen ausgesperrt bleibt.
Die Garagen in Yefimkinas Film sind Höhlen des Rückzugs, Klosterzellen der Sinnfindung, Trutzburgen der Selbstbestimmung – je nachdem, wie man es sehen mag. Die Menschen darin stemmen sich gegen die Tristesse des Alltags, der eine mehr, der andere weniger erfolgreich. Denn wenn sich Ärger, Frost und Dunkelheit doch durch die Ritzen von Mauern und Türen ins Innere der Garagen drängen, dann hilft oft nur der Wodka.
Manch einer, der im Alkohol mehr Trost und Wärme sucht als es gut wäre. Oder gar nicht mehr aus dem Nebel des Suffs auftaucht.
Trotz alledem ist das „Garagenvolk“ eine Gemeinschaft der Trotzigen, die sich mit all ihrer Kraft gegen die Unwirtlichkeit der Realität stemmt. So bizarr das Treiben hinter den Garagentoren auch wirken mag, es vermittelt einen unerschütterlichen Willen, im Leben einen Halt und eine Ordnung zu finden. Und sei es, dass man entgegen aller Logik ein Loch gräbt, tief in die Erde hinein, unterirdische Stockwerke anlegt, die niemand nutzt und keinen anderen Sinn haben als Zeugnis abzulegen für ein lebenslanges Streben nach etwas, wofür es in der Welt außerhalb der Garagen keinen Begriff gibt.
Dem Leben Würde abringen
Außergewöhnlich an diesem Film ist, dass es keinerlei Distanz zu den Protagonisten gibt. Kameramann Axel Schneppat kommt den Menschen in seinen Bildern sehr nah, ohne dabei aufdringlich oder voyeuristisch zu sein. Die Männer und Frauen in ihren Garagen agieren, als gäbe es die Kamera gar nicht.
Auch Yefimkina hält sich in ihrem dokumentarischen Blick und in der Montage wohltuend zurück, verzichtet auf Einordnungen oder Kommentare. So behalten alle Akteure auf der Leinwand ihre Würde, mehr noch – ihre Liebenswürdigkeit. Denn man versteht, dass es in den Bäuchen der Garagen nicht um Hobbies geht oder um Zeitvertreib. Sondern darum, dem Leben etwas abzuringen, was auch immer es sein mag.
Zeigt Yefimkina einen spezifischen Garagenhof in Murmansk? Oder könnten diese Garagen auch in jeder anderen russischen Stadt in der Provinz stehen, weit weg von der Geschäftigkeit Moskaus oder Sankt Petersburgs? Eine Antwort darauf gibt der Film nicht. Aber man kann doch erahnen, dass hinter vielen weiteren Garagentoren in diesem unergründlichen Land noch sehr viel mehr zu entdecken und Geschichten zu erzählen wären.
„Garagenvolk“ ist am Donnerstag (16. September) in den deutschen Kinos gestartet und ist bundesweit in ausgesuchten Kinos zu sehen. Auf der Berlinale 2020 wurde der Film unter anderem mit dem Heiner-Carow-Preis der DEFA-Stiftung ausgezeichnet. Weitere Infos und Kinodaten unter www.missingfilms.de