Schüchterne Helden
Andrej Kurkows neuer Roman „Samson und Nadjeschda“: Ein Kriminalroman in Zeiten des Bürgerkriegs
In der Literatur kann es geschehen, dass sich der Leser fragt, ob die Handlung eines Romans wirklich frei erfunden ist. Der neue Roman von Andrej Kurkow „Samson und Nadjeschda“ könnte dafür ein Beispiel sein. Kurkow ist, trotz russischer Herkunft, nach eigenem Bekenntnis ein ukrainischer Schriftsteller. Er gilt mit Jury Andruchowitsch und Serhij Zhadan als bedeutendster Autor in der heutigen Ukraine.
Geboren 1961 bei Leningrad, lebt er seit seiner Kindheit in der Ukraine, verfasst aber seine Bücher in russischer Sprache. Das Missverständnis für den Leser kann entstehen, weil in „Samson und Nadjeschda“ in Kiew Krieg ist. Immer wieder bleiben Strom und Wasser weg, es gibt kaum noch Heizmaterial, die Versorgung ist äußerst angespannt und die Lage auf den Straßen unsicher, dass die Menschen nur mit größter Vorsicht ihre Wohnungen verlassen.
Kurkows Roman erlebte seine Erstveröffentlichung in der Ukraine bereits 2020 und ist weder prophetische Allegorie noch Parabel auf einen Krieg, sondern ein historischer Roman. Er geht zurück auf das Jahr 1919. Auf der einen Seite wollte das Russland der Bolschewiki die Ukraine der wenig später gegründeten Sowjetunion einverleiben, auf der anderen Seite kämpfte eine Mischung aus orthodoxen Nationalisten für die Unabhängigkeit.
Bürgerkrieg in Kiew
In Kiew wechselte in dieser Zeit nicht weniger als acht Mal die Macht. Auf den Straßen tobt der Bürgerkrieg. Samson bekommt ihn zu spüren, als eine Horde marodierender Kosaken seinem Vater, der zufällig ihren Weg kreuzt, den Schädel spaltet und ihm selbst mit einem Säbelhieb das rechte Ohr abtrennt. Die Versuche, einen unabhängigen Staat zu gründen, sind gescheitert. Jetzt versuchen die Bolschewiki, sich an der Macht zu halten.
Als Samson eines Abends in die leere elterliche Wohnung zurückkehrt, haben zwei Rotarmisten ein Zimmer für sich requiriert. Die wilde Zeit ist im Roman daran ablesbar, ob das Licht wegbleibt. Immer dann ist wenig Brennmaterial für die Energiewerke vorhanden.
Samsons Ritterlichkeit
Damit das zivile Leben nicht in Anarchie und Ordnungslosigkeit versinkt, tun die Bolschewiki einiges. Die Miliz der roten Kommissare beschlagnahmt den Schreibtisch von Samsons Vater. Als sie ihn in ihr Kommissariat abschleppt und der elternlose Samson tatenlos durch seinen Tag stolpert, geht er dorthin, wo der Schreibtisch steht. Er lässt sich als Polizist von der neuen Macht anwerben.
Das macht ihn beispielsweise zum Berechtigten von Essenmarken. Vielleicht noch wichtiger ist, dass er es damit Nadjeschda gleichtut, die er kurz zuvor kennengelernt und die im Amt für Statistik eine Arbeit gefunden hat. Es war ihre freundliche Art, mit der sie ihm aufgefallen ist. Nach dem Verlust von Eltern und Schwester fehlte sie ihm.
Aus Dankbarkeit revanchiert er sich mit Ritterlichkeit. Auf Kiews Straßen ist männliche Begleitung derzeit wichtig und Nadjeschda hat einen weiten Heimweg. Das Gefühl, dass sich zwischen beiden anbahnt, bleibt zunächst noch sehr verhalten.
Samsons abgeschlagenes Ohr
Der Autor konzentriert sein Erzählen auf Samsons Arbeit bei der Polizei. Plötzlich erweist sich, dass sein erster Fall direkt in seiner Wohnung begonnen hat. Die beiden Rotarmisten sind alles andere als Kämpfer für die Bolschewiki. Sie stehlen auf eigene Rechnung, um so bald wie möglich mit einem kleinen finanziellen Polster zu desertieren.
Mit wem es Samson in seiner Wohnung zu tun hat und was sie im Schilde führen, erfährt er auf besondere Weise. Er hat das abgeschlagene Ohr, vielleicht in der Hoffnung, es eines Tages wieder annähen zu lassen, in einer Blechschachtel aufbewahrt. Mit diesem Ohr kann er alles in seiner Wohnung hören, selbst wenn er an seinem Schreibtisch im Amt sitzt. Ein schöner poetischer Einfall, mit dem Kurkow „Samson und Nadjeschda“ immer weiter in Richtung eines Kriminalromans schiebt, mit allem, was dazugehört.
In dem, was die beiden Diebe bei ihrem überstürzten Abzug in Samsons Wohnung zurückgelassen haben, finden sich viele wertvolle Silbergegenstände. Im vom Wunder-Ohr mitgehörten Gespräch fällt der Name eines Auftraggebers. Damit wird aus dem kleinen Fall ein großer: Kapitalverbrechen zum Nachteil der neuen Macht.
Selbst Nadjeschdas Amt für Statistik wird für den neuen Kommissar eine wichtige Hilfe. Mit den Bolschewiki zieht nämlich auch die Bürokratie in die Amtsstuben ein. Zwar weiß man noch nicht, wer Freund, wer Feind, aber ein Zensus wird bereits erhoben. Dadurch bekommt Samson die Auskünfte, die er auf seiner Suche nach dem geheimnisvollen Auftraggeber braucht.
Schüchterne Liebe, heldenhafter Opfermut
Das Besondere an Kurkows Roman ist, dass er weder den Bestrebungen für eine unabhängige Ukraine oder den neuangetretenen Bolschewiki einen ideologischen Vorsprung verschafft, sondern konsequent bei seinem historischen Material bleibt. Darin lässt er wunderbar überzeugende Figuren agieren. Samson und Nadjeschda erlebt der Leser als schüchterne Liebende.
Den Vertretern der neuen Ordnung gibt der Autor eine sympathische Unerfahrenheit und einen heldenhaften Opfermut für die Sache mit. Sie kennen nur Disziplin. Wenn sie einmal schlafen müssen, dann im Büro. In unübersichtlichen Situationen allerdings wandelt sich ihre Heldenpose sofort in den Schrecken skrupelloser Gewalt. Auch Samson sitzt die Pistole locker.
Die Toten werden nicht gezählt. Der Liebhaber des Kriminalromans kommt auf seine Kosten, der Fall stimmt, ist nicht nur durchsichtige Folie für einen historischen Bilderbogen. Da der Roman seinen Stoff aber aus einer ganz entscheidenden Situation der ukrainischen Nationalgeschichte bezieht, bleibt natürlich die Frage, warum Kurkow dafür das Jahr 1919 ausgewählt hat.
Die Antwort ist wohl mehr eine literarische, denn Andrej Kurkow weiß, dass solche Zeiten dankbarer Hintergrund für eine Komödie sind. Es gibt wenig Komischeres, als Leuten dabei zuzusehen, wie sie Regeln zu befolgen versuchen, denen der Sinn abhandengekommen ist. Bei allem Tragischen, das mit der Tötung von Samsons Vaters auf der ersten Seite beginnt, ist die komische Seite untrügliches Zeichen der Qualität des Romans „Samon und Nadjeschda“. Am Schluss verspricht der Autor, es werden Fortsetzung folgen. Gut so.
Samson und Nadjeschda. Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing