Alexei Nawalny im Saustall
Unglaubliche Freiheiten: Ein schmales Buch dokumentiert Nawalnys fulminante Reden vor Gericht
Sage niemand, es gebe keine Redefreiheit in Russland. Dass in diesem Land jeder Mensch überall aussprechen kann, was er denkt, dieser Eindruck kann bei all jenen entstehen, die Alexei Nawalnys vier Reden vor Gericht im Januar und Februar 2021 liest. So unerwartet frei und ungehemmt redet Nawalny unter den Augen und Ohren seiner Quälgeister, die, wie er sagt, währenddessen zu Boden blicken.
Er nennt Putin „diebischer, kleiner Mann im Bunker“, „diebischer Opa“, der vor Angst schlottere, „Unterhosenvergifter“. Er beleidigt Richterin und Staatsanwältin, das ganze Regime und die Partei Einiges Russland, die „Diebesbande, die seit zwanzig Jahren das Land ausplündert“. Sie alle zusammen hätten sich „in eine riesige Sau verwandelt. Die frisst den ganzen Tag aus einem Trog voller Geld, voller Öldollars.“ Und er verspottet jene, die sich dem Regime gegenüber willfährig verhalten, „weil sie hoffen, dass auch für sie ein paar Krümel abfallen“.
Ziel der Anklage gegen ihn sei, anderen Angst zu machen. „Schauprozesse wie dieser sind ein Versuch, den Menschen den Mund zu verbieten.“ Wo aber Gesetzlosigkeit und Willkür in den Roben von Staatsanwälten und Richtern steckten, sei es jedermanns „innere Pflicht, die Gesetze, die in diesen Roben stecken, zu missachten“.
Nawalny legt stets mindestens einen Finger in die Wunde: Dass das Regime ihm in einer weiteren Klage vorwirft, einen Kriegsveteranen und damit das Vaterland beleidigt zu haben, kontert er mit der geringen Wertschätzung, die Veteranen ausweichlich ihrer bescheidenen Rente widerfährt. Aber bessere Renten, das gehe natürlich in diesem System nicht, sagt er, „weil es dann für den Palast nicht reicht“.
Mahnen, fordern, glücklich sein
Er wolle, dass der nationale Reichtum gerechter verteilt wird, sagt Nawalny, „dass alle ihren Anteil vom Öko- und Gaskuchen bekommen“. Er wolle ein anständiges Gesundheitssystem; ein anständiges Bildungssystem, bessere Renten. Er verspricht: „Russland wird frei sein.“ Noch aber sei Russland ein unglückliches Land, immer schon gewesen. Die große russische Literatur – „lauter Schilderungen von Unglück und Leid“. Aus diesem Unglückskreis wolle er ausbrechen. Für den Fall, dass viele Menschen nicht schweigen, verspricht er: „Russland wird glücklich sein.“
Das Regime reagiere mit drakonischen Mitteln, um Nawalny, seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu vernichten, schreibt Gerhart Baum im Vorwort. „Aber sie werden das Feuer nicht zum Erlöschen bringen.“ Was nicht geschehen dürfe: Nawalny und sein Schicksal vergessen. „Wir“ müssten mahnen und fordern – die bedingungslose Freilassung des Gefangenen. „Der Druck darf nicht weichen.“ (Das gelte auch für Russlands völkerrechtswidriges Verhalten in der Welt.) „Die Verbesserung der Beziehungen bleibt ein Ziel“, räumt Baum ein. Sogenannten Russland-Verstehern wirft er Verharmlosung des Putin-Regimes vor. „Wir sollten das Regime so verstehen, wie Nawalny es versteht. Und nicht schweigen.“ Das seien wir ihm und den vielen Freiheitswilligen in Russland schuld.
Schweigt nicht! Reden vor Gericht
Transkribiert, aus dem Russischen übersetzt und kommentiert von Alexandra Berlina