Mythos Sowjetmensch

Ist Putins Macht einer autoritätsfixierten Bevölkerung geschuldet? So einfach ist die Sache nicht

Alle Menschen sind gleich, oder etwa nicht?

Der Fall Nawalny und die weltweite Anteilnahmen daran haben auch das Interesse an der russischen Opposition wieder geweckt, um die es in letzter Zeit merklich still geworden war. Im Lichtkegel, der auf Nawalny gerichtet war, wurde auch jener Teil der russischen Zivilgesellschaft sichtbar, der mit der Umwandlung des Landes in eine Präsidialdiktatur nicht einverstanden ist und sich deshalb wachsender Repressionen durch die Behörden und den Machtapparat der Silowiki, der Geheimdienste, der Polizei und des Innenministeriums ausgesetzt sieht. Zielten deren Einschüchterungsversuche lange Zeit auf einzelne Oppositionspolitiker und deren Anhänger, so gerät inzwischen auch jener Teil der Zivilgesellschaft ins Visier, der auf seine Bürgerrechte besteht und deshalb zu Feinden des Regimes erklärt wird, die sich nicht mehr auf den Rechtsstaat berufen können.

Es herrscht inzwischen, wie der Moskauer Politikwissenschaftler Andrei Kolesnikow schreibt, „offener Bürgerkrieg“. Auch gegen jenen Teil der Gesellschaft, der vor allem in Ruhe gelassen werden möchte und seinen Lebensentwurf in Gefahr sieht. Kolesnikow nennt sie Putins „Spießer“. Sie haben Wladimir Putin bei den letzten Präsidentschaftswahlen trotz Wirtschaftskrise und sozialen Ängsten einen überragenden Wahlsieg beschert. Mehr als drei Viertel der Wähler votierten damals für ihn; mehr als zwei Drittel der Wahlberechtigten gingen zur Wahl.

Das totalitäre Regime prägt die Menschen

Für diese Zustimmung lassen sich viele Erklärungen finden, nicht zuletzt die Festigung der Machtvertikalen des Putin-Regimes, die Einschüchterung der Opposition und die Beherrschung der Medien und der öffentlichen Meinungsbildung. Ein Großteil der russischen Bevölkerung scheint sich mit den Machtverhältnissen arrangiert zu haben und reagiert wie zu Sowjetzeiten mit Resignation und dem Rückzug ins Private. So zumindest lauten die gängigen Erklärungen.

Der Freiheitsdrang der Perestroika-Jahre scheint erloschen, die alte Obrigkeitshörigkeit ist längst wieder da und der Typus des Sowjetmenschen kehrt wieder. Das totalitäre Regime prägt diese Menschen und diese Prägung ist ein Teil seines Machterhalts.

Der russische Soziologe, Lew Gudkow, Leiter des angesehenen Moskauer Lewada-Zentrums für Sozialforschung, ist mittlerweile davon überzeugt, dass der typische Sowjetmensch nach dem Ende der Sowjetherrschaft nie wirklich verschwunden war und vom derzeit herrschenden System sogar wieder reproduziert werde. Gudkow spricht deshalb nicht nur von einer abgebrochenen Modernisierung in Russland, sondern explizit von einer „Resowjetisierung“ der russischen Gesellschaft seit dem Machtantritt Putins.

Der Zusammenbruch des sowjetischen Systems, so Gudkows bittere Erkenntnis, habe „die tieferen Schichten der von ihm hervorgebrachten Gesellschaft und seiner staatlichen Institutionen nicht berührt“. Man könne deshalb nicht von einem wirklichen Systemwechsel sprechen, sondern lediglich von einer Krise des totalitären Systems.

Wiederholt sich die Geschichte doch?

Auffälligstes Erscheinungsmerkmal dieser Sowjetgesellschaft war allerdings weniger ihre ideologische Formierung als ein kollektiver Zynismus, der zum Massenphänomen wurde. Das scheint auch heute wieder eine weitverbreitete Haltung zu sein. Viele Menschen, so die russische Politikwissenschaftlerin Lilia Schewtsowa, würden zwar noch an die Popularität Putins glauben, doch die Studien des Lewada-Instituts sprächen eher für eine fortschreitende Desorientierung der Menschen und den Umstand, „dass die Bürgerinnen und Bürger Russlands alle staatlichen Institutionen geringschätzen“, was einst typisch war auch für die Spätphase der Sowjetgesellschaft.

Gudkow kommt deshalb zu dem Schluss, dass auch das jetzige autokratische System nicht von Dauer sein könne. Es werde „immer primitiver in seiner Struktur und immer ineffizienter in seinen Steuerungspraktiken, es blockiert Entwicklung und schafft somit Voraussetzungen für die kommende Krise“. Hinzu kommt die wachsende Aggressivität.

Damit scheint sich ein Szenario zu wiederholen, das rund dreißig Jahre zuvor zum Untergang der Sowjetunion geführt hat. Nicht nur wirtschaftliche und politische Gründe waren dabei ausschlaggebend, sondern auch sozialpsychologische. Im Kern geht es um die Frage, welche Auswirkung ein totalitäres Regime wie die Sowjetunion auf die Menschen, auf ihre Wertvorstellungen, ihre Verhaltensweisen und ihre psychischen Dispositionen hatte. Diese Frage ist bis heute der Dreh- und Angelpunkt der Forschungen des Lewada-Instituts, das aus dem Allunionszentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung (VCIOM) hervorging.

Berauscht von der Freiheit, aber nicht bereit für sie

Juri Lewada und seine berühmten Seminare waren der Nukleus einer modernen empirischen Sozialforschung in Russland, wie sie mit der Perestroika Gorbatschows überhaupt erst möglich wurde. Zu diesem Kreis gehörte der früh verstorbene Boris Dubin, der – wie vergleichbar nach dem Krieg in Deutschland die Frankfurter Schule – sich die Selbstaufklärung Russlands auf die Fahnen geschrieben hatte. Dazu gehört selbstverständlich auch Lew Gudkow selbst, der das Institut heute leitet und mit den Methoden der modernen Sozialforschung der Frage nach den Wechselwirkungen zwischen einem totalitären System und dem von ihm geprägten Menschentyp nachgeht.

Aus dem Umstand, dass in den letzten Jahren der Sowjetunion ein neuer Typus von jungen, westlich gebildeten Menschen mit freiem Zugang zu Information und westlicher Lebensart die gesellschaftliche Bühne betrat, hatten die Wissenschaftler des Lewada-Instituts auf die Ablösung der letzten sowjetisch sozialisierten Generation geschlossen und damit früh das Ende der Werte und Praktiken des alten Systems prognostiziert, was im Grunde auch den Abschied von alten materialistischen Erklärungsansätzen bedeutete.

Man könne an diesen Versuchen einer Diagnose des sowjetischen Menschen ermessen, schreibt der Osteuropahistoriker Karl Schlögel, was es bedeutet hat, dass die sowjetisch russische Gesellschaft „nach langer Zeit des Schweigens und der Unterdrückung des freien Gesprächs sich selbst wieder zum Objekt wissenschaftlicher Reflexion gemacht hat“. Lewada und seine Schüler sind zu Repräsentanten dessen geworden, „was dem Stand der Soziologen in modernen Gesellschaften zufällt: Organon der gesellschaftlichen Selbstaufklärung zu sein, zu analysieren, wie Gesellschaft funktioniert, wie sie tickt – mit allen Risiken, die damit verbunden sind“. Risiken gleichwohl, die sich in einer zunehmenden staatlichen Repression gegen diese Art der Forschung bemerkbar machte, was zuletzt darin gipfelte, dass man das Lewada-Institut 2016 auf die Liste der „ausländischen Agenten“ setzte, mit dem Ziel, die wissenschaftliche Arbeit zu diskreditieren und letztlich lahmzulegen.

Den Anstoß dazu gaben wohl nicht zuletzt jene Untersuchungen, die zeigten, dass der anthropologische Typus des Sowjetmenschen keineswegs mit dem Untergang der Sowjetunion verschwunden war, sondern nach der Jahrtausendwende plötzlich vermehrt wiederaufzutauchen begann. „Selbst ganz junge Menschen, welche die Sowjetzeit kaum miterlebt haben, so die Erkenntnis, weisen einige der idealtypischen Merkmale auf.“ Als man den Sowjetmenschen „freigelassen habe, kommentierte Juri Lewada später bitter dieses Phänomen, „sei er rückwärtsgelaufen und zwar nicht nur ins Gestern, sondern ins Vorgestern“. Man sei berauscht von der Freiheit gewesen, aber nicht bereit für sie, heißt es bei Swetlana Alexijewitsch in ihrem berühmten Buch „Secondhand-Zeit“.

Das Klischee: der apolitische russische Mensch

Das schien ins Klischee vieler westlicher Beobachter zu passen. Der Erfolg Putins ließ sich auf diese Weise mit einer autoritätsfixierten Bevölkerung erklären, die auf ihrem Weg in die Freiheit wieder umgekehrt war. Der alte wie neue Sowjetmensch würde in seiner „Vorliebe für eine paternalistisch-totalitäre Ordnung“ den neuen politischen Machthabern die Errettung des russischen Volks aufbürden. Entsprechend eindimensional wird die russische Gesellschaft heute im Westen wieder wahrgenommen und auf die Politik des Kremls reduziert.

Dabei diente der Begriff des „Sowjetmenschen“, den der Russlandforscher Klaus Mehnert in seinem millionenfach verkauften Buch einst populär gemacht hatte, ursprünglich einer ganz anderen Wahrnehmung. Mehnert, der perfekt Russisch sprach und sich auf seine Methode der teilnehmenden Beobachtung verließ, stieß bei seinen ausgedehnten Russlandreisen immer wieder auf eine eigentümliche Mischung aus Fatalismus und Autoritätsgläubigkeit, die er auf das byzantinische Erbe Russlands zurückführen wollte.

Doch für ihn viel entscheidender war die Überzeugung, dass sich die Russen eben nicht bolschewisieren ließen, sondern „allen staatlichen Gehirnwäschen zum Trotz“, so der Schweizer Slawist Ulrich Schmid, weitgehend apolitische Menschen blieben, die sich mit dem Regime arrangiert hatten. Es ginge ihnen weit mehr um ihre konkreten Lebensumstände als um den Kampf für den Kommunismus.

Damit versuchte Mehnert, so Schmid, auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs, die einfachen Russen für sein deutsches Publikum zu retten. „Das Sowjetsystem war aus Mehnerts Sicht eine Zwangsjacke, in die das grundsätzlich freundliche und aufgeschlossene russische Volk von den Bolschewiken gesteckt worden war.“

Diese romantische Vorstellung hatte zwar mit dem anthropologischen Typus nichts zu tun, den das Lewada-Institut Jahrzehnte später herauszuarbeiten versuchte, bezog sich aber auf die widersprüchliche Selbstdarstellung der frühen Sowjetunion mit ihrem kommunistischen Gesellschaftsideal und ihrer tatsächlichen Lebenspraxis.

Das Auseinanderklaffen zwischen Propaganda und Wirklichkeit, wie überhaupt die eklatanten Widersprüche des real existierenden Sozialismus war bereits einem frühen Beobachter wie Alexander Sinowjew aufgefallen, aber erst das neu eingerichtete VCIOM, aus dem später das Lewada-Institut hervorging, begann Ende der achtziger Jahre mit der systematischen Erforschung dieses Phänomens und entlarvte das heroische Bild des Sowjetmenschen als „sozialen Mythos“, so der Tübinger Osteuropahistoriker Klaus Gestwa.

Flucht in die innere Emigration

Mittlerweile gerät diese Forschung aber selbst in die Kritik. Das Konstrukt des Sowjetmenschen habe – so liest man bei Gestwa – einen anthropologischen Wandel und die Dominanz eines sozialen Typus‘ suggeriert, der die Vielfalt der gesellschaftlichen Entwicklung in der UdSSR und ihren Nachfolgestaaten nicht exakt abzubilden vermag.

Sicherlich hatte der Aufbau einer neuen Gesellschaft aus neuen Menschen in den Anfangsjahren der Sowjetunion die Züge einer Erziehungsdressur; und selbstredend griff die bolschewistische Herrschaft tief in die Persönlichkeitsstruktur der sowjetischen Menschen ein, die eine enorme Willenskraft brauchten, um sich der staatlichen Indoktrination zu widersetzen. Viele Tagebücher aus jener Zeit machten deutlich, „wie perfide der bolschewistische Bevormundungssozialismus dabei vorging“, so Gestwa, und wie sehr die oftmals unbewusste Anpassung „den Einzelnen zum Produkt und zum Produzenten des totalitären Zwangssystems“ machte.

Doch spätestens in den siebziger Jahren und der Ära Breschnews verlor der Sowjetkommunismus seine gesellschaftliche Prägekraft und wurde zur bloßen „politischen Dekoration“, während sich die Sowjetbürger ins Privatleben oder die innere Emigration flüchteten. Von einem normativen Typus des Sowjetmenschen konnte da immer weniger die Rede sein.

Man kann diesen Prozess, der die Menschen bis weit hinein in die Nomenklatura erfasste, sehr genau in den Lebenserinnerungen der Germanistin Irina Scherbakowa nachlesen, deren Familiengeschichte viele Facetten dieser alles andere als homogenen Sowjetgesellschaft umfasst. Vom neuen Menschen war da bald nur noch ironisch die Rede. So geht es bei Alexander Sinowjew am Ende um ein „Volk von Opportunisten, Nörglern und Zynikern“, die „keine Mittel scheuten, um sich den vielen Zumutungen des sowjetischen Lebens zu entziehen“. Ein gutes Drittel der Bevölkerung Russlands, so stellte Gudkow später fest, entspräche dieser Charakterisierung, bei den restlichen 55 bis 60 Prozent sei sie schwächer ausgeprägt.

Anpassung, aber nicht Passivität

Dieses selbstreferenzielle Bild der postsowjetischen Verhältnisse erfährt inzwischen eine Korrektur. So widerspricht die Politikwissenschaftlerin und Journalistin Marija Lipmann dem Eindruck einer apathischen und stillgestellten russischen Gesellschaft, in der die soziale Modernisierung brachliege. Der Kreml könne die politische Eigenständigkeit der Bevölkerung und ihre zunehmende zivilgesellschaftliche Vernetzung nicht mehr „unterbinden“. Das erklärt den wachsenden Druck. Man könne bei dieser gesellschaftlichen Mitte zwar von Anpassung reden, aber nicht mehr von Passivität.

In einem glänzenden Aufsatz über die Geschichte des „Sowjetmenschen“ hat vor allem Klaus Gestwa vor der Suggestivkraft dieses „Kollektivsingulars“ gewarnt. Mit dem Postulat der Unentrinnbarkeit werde der russischen Gesellschaft eine „hoffnungslose Diagnose“ gestellt.

Ihre Rückständigkeit im Vergleich zur modernen, individualistischen Welt des Westens werde wesenhaft begründet, was alle Verwerfungen ausblendet, denen sich die postkommunistische Welt in einem schockartig verlaufenden Modernisierung- und Umwälzungsprozess tatsächlich ausgesetzt sah. Der dem Soziogramm des Sowjetmenschen zugrundeliegende Ost-West-Gegensatz berge überdies die Gefahr, bei der Beurteilung Russlands in die „Rückständigkeitsfalle“ zu tappen.

Auch das heutige Bild Russlands wird von jenem Unverständnis geprägt, das die westlichen Eliten Europas den Ländern im Osten entgegenbringen, die an ihrer Eigenständigkeit festhalten wollen. Russlands Weg in die Moderne, so die berechtigte Mahnung, wird von vielen Faktoren bestimmt, aber keineswegs nur von seinem autoritären Erbe. So entpuppt sich die Meistererzählung von der „unentrinnbaren Untertanenkultur“ Russlands bei näherem Hinsehen als Fortsetzung des alten Ost-West-Gegensatzes mit anderen Mitteln. Es wäre an der Zeit, dass sie aus den Köpfen verschwände. Aber die Chancen dafür stehen nicht mehr sehr gut.

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