Medien-Partisanen an der Kreml-Mauer

Die russische Zivilgesellschaft ist verstummt, aber der Widerstand gegen Kreml und Krieg lebt

von Alexey Tikhomirov
Alexey Tikhomirov
Hat den Widerstand gegen Putin und den Krieg im digitalen Raum und in Hinterhöfen aufgespürt: Alexey Tikhomirov

Putins Russland ist zu einer Diktatur geworden, einem Po­lizeistaat, der die Meinungsfreiheit unterdrückt und An­dersdenkende verfolgt. Oppositionelle Gruppen, die sich noch vor Kurzem auf einzelne Antikriegsproteste wagten, sind eingeschüchtert und ziehen sich aus der Po­litik ins Private zurück. Die Ausdehnung der Zensur, die Flucht oppositioneller Kräfte und aller unabhängigen Medien aus dem Land verstärken den Eindruck, dass die Zivilgesellschaft in Russland tot ist oder sich zumindest in einem Zustand des hoffnungslosen Ko­mas befindet.

Dazu passend lancieren die staatlichen Medien soziologische Umfragen, denen zu­­folge angeblich mehr als achtzig Prozent der Bevölkerung die „militärische Spezialoperation“ befürworten (das Wort „Krieg“ ist heutig in Russland verboten). Die schöne Bilderwelt Putins zeigt in gleichge­schalteten Medien, wie Kinder, Jugend­liche, Lehrer, Sportler und Arbeiter von Kamtschatka bis Kaliningrad brav aufgereiht den Buchstaben „Z“ nachstellen. Diesen für den Slogan „Za pobedu“ (Für den Sieg!) stehenden Buchstaben sieht man außerdem an Wänden von Regierungsgebäuden und in öffentlichen Verkehrsmitteln aufgemalt, in Kindergärten, Schulen und Universitäten – kurzum: in staatlich organisierten und finanzierten Institutionen.

Die digitale Antikriegsbewegung

Seit dem Ausbruch des Kriegs hat die Regierung Russlands die Finanzierung für die staatlichen Medien laut Moscow Times mindestens verdreifacht. Die Kriegs­stimmen sind deutlich zu hören, al­ternative Meinungen werden an den Rand gedrängt. Sie werden verlacht und mar­­gi­nalisiert, tabuisiert und kriminalisiert, was aber nicht bedeutet, dass es sie nicht gibt.

Aus Sicht der Zivilgesellschaft, welche die russische Aggression in der Ukraine aufs Schärfste verurteilt, sind die Träger alternativer Meinungen die neuen Helden. Sie verkörpern den Mut zum Widerstand und retten das Gewissen des Landes für die Zukunft nach Putin. Die in den sozialen Medien entstehende Antikriegsbewegung in Russland hat keine Gesichter, keine An­führer. Sie handelt unsichtbar, anonym in Schattenzonen und am Rande der öffent­lichen Räume.

Aus diesem Grund ist es für Außenstehende auch so schwierig, den Wi­derstand gegen die „Spezialoperation“ zu erkennen. Wegen des steigenden Repressionsrisikos werden geschützte und ano­nymisierte digitale Räume genutzt. Mithilfe unterschiedlicher VPN-Programme lässt sich die Sperrung von Instagram, Twitter und Facebook überwinden, zurückgegriffen wird auch auf immer noch erlaubte Messaging-Dienste wie Telegram und Whatsapp. Es bilden sich Gruppen, Kanäle und Chats, die Informationskampagnen, Protestaktionen und Widerstandshandlungen planen und verbreiten. Die Mitglieder verstehen sich als „Medien-Partisanen“, deren Ziel es ist, sich gegen die ideologische Desinformation der russischen Bevölkerung zur Wehr zu setzen.

Kettenbriefe gegen Krieg und Kreml

So lancierte die „Medienwiderstandsgruppe“ (media resistance group) auf den russischen Kommunikationsplattformen VKontakte und Odnoklassniki sogenannte Kettenbriefe mit Informationen zur „Spe­zialoperation“, welche an sieben weitere Leser weitergeleitet werden sollen. Be­richtet wurde über die negativen Auswirkungen des Kriegs auf den Alltag, die steigende Arbeitslosigkeit, Inflation, die ab­seh­bare demographische Krise infolge des Todes von Tausenden junger Soldaten in der Ukraine.

In den sozialen Medien veranstalten die Aktivisten Livestreams, in denen sie mit Gleichgesinnten über aktuelle Themen diskutieren und Formen des Widerstands entwickeln. In einer digitalen Broschüre werden verschiedene aktive und passive Protestformen durchgespielt.

Für die Teil­nehmer geht es darum, das Gefühl der Isolation zu überwinden und den Mut für den weiteren Kampf nicht zu verlieren. Be­wusst spielt die neue Bewegung den Ge­nerationenkonflikt zwischen einer offenen, li­beral gesinnten, jungen, urbanen Ge­­­neration, die im Dialog mit dem Westen bessere Zukunftschancen sieht, und einer Kohorte der konservativen, kriegfüh­renden alten Herren aus, die sich hinter den Kreml-Mauern versteckt und statt einer attraktiven Zukunft nur die glorreiche (sowjetische) Vergangenheit anzubieten hat.

Studierende gehören zur treibenden Kraft des Widerstands. Die Gründung der Studen­tischen Antikriegsbewegung SAD (Garten) auf Telegram war eine direkte Reaktion auf das von russischen Univer­sitätsrektoren unterzeichnete Unterstützungsschreiben für die „Spezialoperation zwecks Entmilitarisierung und Ent­nazifizierung der Ukraine“ vom 4. März 2022.

Antikriegsparolen auf Geldscheinen

Trotz der Gefahr von Exmatrikulation und Geldstrafe erschienen in Tjumen, Kasan, Nowosibirsk und Jekaterinburg offene Antikriegspetitionen, die den Be­für­wortungsbrief der Hochschulrektoren verurteilten. Die Zerschlagung der ange­sehe­nen studentischen Zeitung Doxa an der Higher School of Economics und die Verurteilung seiner Redakteure zu Bewährungsstrafen waren ein deutliches Zeichen dafür, dass die Universität endgültig zu einer staatlich kontrollierten Zone ge­worden war, welche die Studenten nur noch als potenzielle Rekruten für die Ar­mee und dem Gehorsam verpflichtete Bürger sah.

Doch die Studentenschaft wehrt sich. In Telegram-Gemeinschaften wurde er­klärt, wie man sich regelkonform für den Zivildienst bewirbt. Wenn ein Kommilitone verhaftet wird, werden Petitionen veröffentlicht und Protestbriefe an den zu­ständigen Rektor geschrieben. Über die sozialen Medien verabredeten sich Studenten während der Gerichtsverhandlungen für die Doxa-Redakteure vor dem Ge­bäude zum Protest.

Um in der zunehmend kameraüberwachten russischen Gesellschaft das Verhaftungsrisiko zu minimieren, tauschen sich Studenten über „tote Winkel“ oder „blinde Flecken“ aus, die sicheren Protest in Treppenhäusern, Korridoren oder Toiletten ermöglichen. Diese Orte sind in­zwischen die zentralen Schauplätze der Antikriegsbewegung.

Porträts der Staatsführung und der Kreml-Propagandisten werden auf Mülleimer geklebt, grüne Bänder als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine (Grün als die Mischfarbe aus Gelb und Blau) an Leiter, Pfosten und Bäume gehängt. Selbst Geldscheine werden mit Antikriegsparolen beschriftet, um an die Solidarität der Mitbürger zu ap­pellieren.

Kampf gegen das uniformierte Patriarchat

In Studentenkreisen diskutiert man di­gital über Themen wie „Der Widerstand der Weißen Rose“, „Die Schuld der Deutschen im Zweiten Weltkrieg“ oder den „Übergang vom Stalinismus zum Tauwetter“. Die Werke von Hannah Arendt und George Orwell sind besonders nachgefragt. Studenten oder andere Einzelpersonen verteilen diese und andere Bücher heimlich in der U-Bahn oder an öffent­lichen Plätzen.

Gleichzeitig ruft die neue Antikriegsbewegung zur inneren Dekolonisierung, zur „friedlichen Zerstörung des Imperiums“ und zur Anerkennung der ethnischen Vielfalt innerhalb des Staats auf – und wendet sich damit von einer als „überlegen“ verstandenen russischen Kultur, Sprache und Nation ab. In Reaktion auf die vielen gefallenen Soldaten aus den sogenannten Minderheitengruppen – Burjaten, Kalmücken, Dagestaner, Osseten, Tschetschenen – sind ethnisch motivierte Antikriegsgruppen wie die international agierende „Free Buryatia Foundation“ entstanden.

Auch sieht sich die neue Antikriegs­bewegung in einem Kampf der Ge­schlechter. So treten Feministinnen er­klärtermaßen gegen das Patriarchat der uniformierten „alten, weißen Männer“ auf, die mit dem Kriegsausbruch ihr brutales Männlichkeitsverständnis offenbart hätten.

Im Februar 2022 konstituierte sich der „Feministische Antikriegswiderstand“, der im Gründungsdokument programmatisch betonte: „Wir sind die Op­position gegen Krieg, Patriarchat, Autoritarismus und Militarismus. Wir sind die Zukunft, und wir werden siegen“.

Die Ini­tiative vereint die LGBTQ+-Community und all jene, die aufgrund ihres Ge­schlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Nationalität oder ihrer ethnischen Zu­gehörigkeit verfolgt oder diskriminiert werden. Aktuell verfügt die Gruppe auf Telegram über 34 000 Abonnenten und gibt eine Zeitung namens Schenskaja Prawda heraus, in der die Erfahrungen mit Diskriminierung und sexueller Ge­walt, darunter auch die Vergewaltigungen der ukrainischen Bevölkerung durch Soldaten der russischen Armee, dokumen­tiert werden.

Die Zeitung kann zu Hause ausgedruckt und unter Freunden, Nachbarn, Kollegen oder Gleichgesinnten verbreitet werden. Der Feministische Antikriegswiderstand, der sich breit auf Telegram, Twitter und Instagram zeigt, hat sich zu einer globalen Bewegung mit Sympathisanten rund um den Globus entwickelt.

Gedenkstätten in Hinterhöfen

Bereits Anfang April gab es die Aktion „Mariupol 5000“: In den Höfen der großen Wohnblöcke wurden selbstgebas­telte Kreuze mit Gedenktafeln für die in Mariupol getöteten Zivilisten an­gebracht, die nicht auf dem Friedhof be­stattet werden konnten. Eine ähnliche Ak­tion wurde von der schon seit 2013 be­stehenden demokratischen Jugendbewegung „Wesna“ (Frühling) organisiert. Die Kampagne „Butscha – Erinnere dich, vergib nicht“ war mit dem Aufruf verbunden, in Hinterhöfen behelfsmäßige Gedenkstätten zu errichten, um die Kriegsverbrechen der russischen Armee sichtbar zu machen.

Darüber hinaus riefen die Aktivisten am 12. Juni zur Aktion „Impeachment 2.0: eine Million Briefe gegen Putin und den Krieg“ auf, Briefe an Abgeordnete der Staatsduma und an Senatoren zu verschicken, in denen die Amtsenthebung Putins gefordert werden sollten. Hintergrund dieser gewagten Aktion ist die Tatsache, dass persönliche Bittschriften an Behörden nicht unter das neue Fake-News-Gesetz fallen und rechtmäßig innerhalb von dreißig Tagen beantwortet werden sollten.

Eine ähnliche Stoßrichtung hat die neu gegründete „Antikriegsstiftung“, die von der Gruppe „Feministischer Antikriegs-Widerstand“ angestoßen und von freiwilligen Beiträgen finanziert wird. Sie wendet sich an Beschäftigte in staatlichen Einrichtungen – Schulen, Krankenhäusern, Universitäten, Sicherheits- und Po­lizeibehörden –, die wegen ökonomischer Abhängigkeit vom Staat gezwungen sind, ihre Antikriegshaltung zu verbergen. Vom 18. bis 24. April veranstaltete die Stiftung eine konzertierte Antikriegskrankschreibung.

Auch dabei verstießen Arbeitnehmer nicht gegen Gesetze, sondern nutzten die ihnen zur Verfügung stehenden legalen Mittel, um die Ressourcen des kriegführenden Staates zu schwächen. Welche Auswirkungen die Aktion hatte, ist bisher nicht bekannt.

Alle genannten Initiativen sammeln Geld für Personen, die wegen der Teilnahme an Straßenprotesten verurteilt werden. Im Fall einer drohenden Kün­digung oder einer Exmatrikulation bieten sie Rechtsberatung sowie finanzielle Hilfen an.

Für die emotionale Unterstützung haben die Antikriegsstiftung und der Feministische Antikriegswiderstand auch Hotlines eingerichtet. Dabei wird die Hierarchie der Kriegsopfer nicht aus den Augen verloren: Vordringlich bittet man um Hilfe für in Not geratene und ge­flüchtete Ukrainer.

Leider ist anzunehmen, dass all dies nicht ausreichen wird, um Putins persönliches Machtregime zu stürzen oder den blutigen Krieg aufzuhalten. Es wird wohl noch dauern, bis sich eine breite Antikriegsbewegung in Russland entfalten kann. Doch das Engagement dieses noch kleinen, aber sehr mutigen Teils der Be­völkerung ist ein Zeichen der zivilgesellschaftlichen Courage, die den Grundstein legt für eine mögliche Zukunft nach Putin und dem Krieg.

Alexey Tikhomirov lehrt am Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte der Universität Bielefeld. 2022 ist sein Buch „The Stalin Cult in East Germany and the Making of the Postwar Soviet Empire, 1945 – 1961“ erschienen.

Dieser Beitrag ist zuerst in der FAZ erschienen. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, seinen Text auch auf KARENINA zu veröffentlichen.

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