Medien-Partisanen an der Kreml-Mauer
Die russische Zivilgesellschaft ist verstummt, aber der Widerstand gegen Kreml und Krieg lebt
Putins Russland ist zu einer Diktatur geworden, einem Polizeistaat, der die Meinungsfreiheit unterdrückt und Andersdenkende verfolgt. Oppositionelle Gruppen, die sich noch vor Kurzem auf einzelne Antikriegsproteste wagten, sind eingeschüchtert und ziehen sich aus der Politik ins Private zurück. Die Ausdehnung der Zensur, die Flucht oppositioneller Kräfte und aller unabhängigen Medien aus dem Land verstärken den Eindruck, dass die Zivilgesellschaft in Russland tot ist oder sich zumindest in einem Zustand des hoffnungslosen Komas befindet.
Dazu passend lancieren die staatlichen Medien soziologische Umfragen, denen zufolge angeblich mehr als achtzig Prozent der Bevölkerung die „militärische Spezialoperation“ befürworten (das Wort „Krieg“ ist heutig in Russland verboten). Die schöne Bilderwelt Putins zeigt in gleichgeschalteten Medien, wie Kinder, Jugendliche, Lehrer, Sportler und Arbeiter von Kamtschatka bis Kaliningrad brav aufgereiht den Buchstaben „Z“ nachstellen. Diesen für den Slogan „Za pobedu“ (Für den Sieg!) stehenden Buchstaben sieht man außerdem an Wänden von Regierungsgebäuden und in öffentlichen Verkehrsmitteln aufgemalt, in Kindergärten, Schulen und Universitäten – kurzum: in staatlich organisierten und finanzierten Institutionen.
Die digitale Antikriegsbewegung
Seit dem Ausbruch des Kriegs hat die Regierung Russlands die Finanzierung für die staatlichen Medien laut Moscow Times mindestens verdreifacht. Die Kriegsstimmen sind deutlich zu hören, alternative Meinungen werden an den Rand gedrängt. Sie werden verlacht und marginalisiert, tabuisiert und kriminalisiert, was aber nicht bedeutet, dass es sie nicht gibt.
Aus Sicht der Zivilgesellschaft, welche die russische Aggression in der Ukraine aufs Schärfste verurteilt, sind die Träger alternativer Meinungen die neuen Helden. Sie verkörpern den Mut zum Widerstand und retten das Gewissen des Landes für die Zukunft nach Putin. Die in den sozialen Medien entstehende Antikriegsbewegung in Russland hat keine Gesichter, keine Anführer. Sie handelt unsichtbar, anonym in Schattenzonen und am Rande der öffentlichen Räume.
Aus diesem Grund ist es für Außenstehende auch so schwierig, den Widerstand gegen die „Spezialoperation“ zu erkennen. Wegen des steigenden Repressionsrisikos werden geschützte und anonymisierte digitale Räume genutzt. Mithilfe unterschiedlicher VPN-Programme lässt sich die Sperrung von Instagram, Twitter und Facebook überwinden, zurückgegriffen wird auch auf immer noch erlaubte Messaging-Dienste wie Telegram und Whatsapp. Es bilden sich Gruppen, Kanäle und Chats, die Informationskampagnen, Protestaktionen und Widerstandshandlungen planen und verbreiten. Die Mitglieder verstehen sich als „Medien-Partisanen“, deren Ziel es ist, sich gegen die ideologische Desinformation der russischen Bevölkerung zur Wehr zu setzen.
Kettenbriefe gegen Krieg und Kreml
So lancierte die „Medienwiderstandsgruppe“ (media resistance group) auf den russischen Kommunikationsplattformen VKontakte und Odnoklassniki sogenannte Kettenbriefe mit Informationen zur „Spezialoperation“, welche an sieben weitere Leser weitergeleitet werden sollen. Berichtet wurde über die negativen Auswirkungen des Kriegs auf den Alltag, die steigende Arbeitslosigkeit, Inflation, die absehbare demographische Krise infolge des Todes von Tausenden junger Soldaten in der Ukraine.
In den sozialen Medien veranstalten die Aktivisten Livestreams, in denen sie mit Gleichgesinnten über aktuelle Themen diskutieren und Formen des Widerstands entwickeln. In einer digitalen Broschüre werden verschiedene aktive und passive Protestformen durchgespielt.
Für die Teilnehmer geht es darum, das Gefühl der Isolation zu überwinden und den Mut für den weiteren Kampf nicht zu verlieren. Bewusst spielt die neue Bewegung den Generationenkonflikt zwischen einer offenen, liberal gesinnten, jungen, urbanen Generation, die im Dialog mit dem Westen bessere Zukunftschancen sieht, und einer Kohorte der konservativen, kriegführenden alten Herren aus, die sich hinter den Kreml-Mauern versteckt und statt einer attraktiven Zukunft nur die glorreiche (sowjetische) Vergangenheit anzubieten hat.
Studierende gehören zur treibenden Kraft des Widerstands. Die Gründung der Studentischen Antikriegsbewegung SAD (Garten) auf Telegram war eine direkte Reaktion auf das von russischen Universitätsrektoren unterzeichnete Unterstützungsschreiben für die „Spezialoperation zwecks Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine“ vom 4. März 2022.
Antikriegsparolen auf Geldscheinen
Trotz der Gefahr von Exmatrikulation und Geldstrafe erschienen in Tjumen, Kasan, Nowosibirsk und Jekaterinburg offene Antikriegspetitionen, die den Befürwortungsbrief der Hochschulrektoren verurteilten. Die Zerschlagung der angesehenen studentischen Zeitung Doxa an der Higher School of Economics und die Verurteilung seiner Redakteure zu Bewährungsstrafen waren ein deutliches Zeichen dafür, dass die Universität endgültig zu einer staatlich kontrollierten Zone geworden war, welche die Studenten nur noch als potenzielle Rekruten für die Armee und dem Gehorsam verpflichtete Bürger sah.
Doch die Studentenschaft wehrt sich. In Telegram-Gemeinschaften wurde erklärt, wie man sich regelkonform für den Zivildienst bewirbt. Wenn ein Kommilitone verhaftet wird, werden Petitionen veröffentlicht und Protestbriefe an den zuständigen Rektor geschrieben. Über die sozialen Medien verabredeten sich Studenten während der Gerichtsverhandlungen für die Doxa-Redakteure vor dem Gebäude zum Protest.
Um in der zunehmend kameraüberwachten russischen Gesellschaft das Verhaftungsrisiko zu minimieren, tauschen sich Studenten über „tote Winkel“ oder „blinde Flecken“ aus, die sicheren Protest in Treppenhäusern, Korridoren oder Toiletten ermöglichen. Diese Orte sind inzwischen die zentralen Schauplätze der Antikriegsbewegung.
Porträts der Staatsführung und der Kreml-Propagandisten werden auf Mülleimer geklebt, grüne Bänder als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine (Grün als die Mischfarbe aus Gelb und Blau) an Leiter, Pfosten und Bäume gehängt. Selbst Geldscheine werden mit Antikriegsparolen beschriftet, um an die Solidarität der Mitbürger zu appellieren.
Kampf gegen das uniformierte Patriarchat
In Studentenkreisen diskutiert man digital über Themen wie „Der Widerstand der Weißen Rose“, „Die Schuld der Deutschen im Zweiten Weltkrieg“ oder den „Übergang vom Stalinismus zum Tauwetter“. Die Werke von Hannah Arendt und George Orwell sind besonders nachgefragt. Studenten oder andere Einzelpersonen verteilen diese und andere Bücher heimlich in der U-Bahn oder an öffentlichen Plätzen.
Gleichzeitig ruft die neue Antikriegsbewegung zur inneren Dekolonisierung, zur „friedlichen Zerstörung des Imperiums“ und zur Anerkennung der ethnischen Vielfalt innerhalb des Staats auf – und wendet sich damit von einer als „überlegen“ verstandenen russischen Kultur, Sprache und Nation ab. In Reaktion auf die vielen gefallenen Soldaten aus den sogenannten Minderheitengruppen – Burjaten, Kalmücken, Dagestaner, Osseten, Tschetschenen – sind ethnisch motivierte Antikriegsgruppen wie die international agierende „Free Buryatia Foundation“ entstanden.
Auch sieht sich die neue Antikriegsbewegung in einem Kampf der Geschlechter. So treten Feministinnen erklärtermaßen gegen das Patriarchat der uniformierten „alten, weißen Männer“ auf, die mit dem Kriegsausbruch ihr brutales Männlichkeitsverständnis offenbart hätten.
Im Februar 2022 konstituierte sich der „Feministische Antikriegswiderstand“, der im Gründungsdokument programmatisch betonte: „Wir sind die Opposition gegen Krieg, Patriarchat, Autoritarismus und Militarismus. Wir sind die Zukunft, und wir werden siegen“.
Die Initiative vereint die LGBTQ+-Community und all jene, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Nationalität oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit verfolgt oder diskriminiert werden. Aktuell verfügt die Gruppe auf Telegram über 34 000 Abonnenten und gibt eine Zeitung namens Schenskaja Prawda heraus, in der die Erfahrungen mit Diskriminierung und sexueller Gewalt, darunter auch die Vergewaltigungen der ukrainischen Bevölkerung durch Soldaten der russischen Armee, dokumentiert werden.
Die Zeitung kann zu Hause ausgedruckt und unter Freunden, Nachbarn, Kollegen oder Gleichgesinnten verbreitet werden. Der Feministische Antikriegswiderstand, der sich breit auf Telegram, Twitter und Instagram zeigt, hat sich zu einer globalen Bewegung mit Sympathisanten rund um den Globus entwickelt.
Gedenkstätten in Hinterhöfen
Bereits Anfang April gab es die Aktion „Mariupol 5000“: In den Höfen der großen Wohnblöcke wurden selbstgebastelte Kreuze mit Gedenktafeln für die in Mariupol getöteten Zivilisten angebracht, die nicht auf dem Friedhof bestattet werden konnten. Eine ähnliche Aktion wurde von der schon seit 2013 bestehenden demokratischen Jugendbewegung „Wesna“ (Frühling) organisiert. Die Kampagne „Butscha – Erinnere dich, vergib nicht“ war mit dem Aufruf verbunden, in Hinterhöfen behelfsmäßige Gedenkstätten zu errichten, um die Kriegsverbrechen der russischen Armee sichtbar zu machen.
Darüber hinaus riefen die Aktivisten am 12. Juni zur Aktion „Impeachment 2.0: eine Million Briefe gegen Putin und den Krieg“ auf, Briefe an Abgeordnete der Staatsduma und an Senatoren zu verschicken, in denen die Amtsenthebung Putins gefordert werden sollten. Hintergrund dieser gewagten Aktion ist die Tatsache, dass persönliche Bittschriften an Behörden nicht unter das neue Fake-News-Gesetz fallen und rechtmäßig innerhalb von dreißig Tagen beantwortet werden sollten.
Eine ähnliche Stoßrichtung hat die neu gegründete „Antikriegsstiftung“, die von der Gruppe „Feministischer Antikriegs-Widerstand“ angestoßen und von freiwilligen Beiträgen finanziert wird. Sie wendet sich an Beschäftigte in staatlichen Einrichtungen – Schulen, Krankenhäusern, Universitäten, Sicherheits- und Polizeibehörden –, die wegen ökonomischer Abhängigkeit vom Staat gezwungen sind, ihre Antikriegshaltung zu verbergen. Vom 18. bis 24. April veranstaltete die Stiftung eine konzertierte Antikriegskrankschreibung.
Auch dabei verstießen Arbeitnehmer nicht gegen Gesetze, sondern nutzten die ihnen zur Verfügung stehenden legalen Mittel, um die Ressourcen des kriegführenden Staates zu schwächen. Welche Auswirkungen die Aktion hatte, ist bisher nicht bekannt.
Alle genannten Initiativen sammeln Geld für Personen, die wegen der Teilnahme an Straßenprotesten verurteilt werden. Im Fall einer drohenden Kündigung oder einer Exmatrikulation bieten sie Rechtsberatung sowie finanzielle Hilfen an.
Für die emotionale Unterstützung haben die Antikriegsstiftung und der Feministische Antikriegswiderstand auch Hotlines eingerichtet. Dabei wird die Hierarchie der Kriegsopfer nicht aus den Augen verloren: Vordringlich bittet man um Hilfe für in Not geratene und geflüchtete Ukrainer.
Leider ist anzunehmen, dass all dies nicht ausreichen wird, um Putins persönliches Machtregime zu stürzen oder den blutigen Krieg aufzuhalten. Es wird wohl noch dauern, bis sich eine breite Antikriegsbewegung in Russland entfalten kann. Doch das Engagement dieses noch kleinen, aber sehr mutigen Teils der Bevölkerung ist ein Zeichen der zivilgesellschaftlichen Courage, die den Grundstein legt für eine mögliche Zukunft nach Putin und dem Krieg.
Alexey Tikhomirov lehrt am Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte der Universität Bielefeld. 2022 ist sein Buch „The Stalin Cult in East Germany and the Making of the Postwar Soviet Empire, 1945 – 1961“ erschienen.
Dieser Beitrag ist zuerst in der FAZ erschienen. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, seinen Text auch auf KARENINA zu veröffentlichen.