Von Sacharow lernen
Alle reden vom Atomkrieg. Reden sie ihn herbei? Rat an alle: Sacharow lesen!
Am 21. Mai wäre Andrei Sacharow, der sowjetische Atomphysiker und spätere Atomwaffengegner und Friedensnobelpreisträger, 101 Jahre alt geworden. Wie der milliardenschwere russische Industrielle Oleg Deripaska kürzlich bemerkte, hatte Sacharow „wie kein anderer die realen Folgen eines Kriegs mit Atomwaffen und die Sinnlosigkeit des Wettrüstens erkannt. Gemäß seinen Grundsätzen warb er immer für eine Sache: den Frieden.“
Seit die russischen Streitkräfte die Ukraine mit ihrer „speziellen Militäroperation“ verwüsten, ist Friede in Russland zu einem gefährlichen Wort geworden. Der Ruf nach Frieden hat bereits Tausende ins Gefängnis gebracht, und ein Mann wurde allein dafür verhaftet, dass er auf dem Roten Platz in Moskau ein Exemplar von Leo Tolstois „Krieg und Frieden“ dabei hatte. Also Hut ab vor Deripaska und seinem mutigen Appell.
Natürlich ist der Verzicht auf einen Atomkrieg nicht dasselbe wie Pazifismus. Wie Sacharow, der an der Entwicklung der sowjetischen Wasserstoffbombe beteiligt war, nur allzu gut wusste, vermeidet er lediglich die totale Vernichtung. Im Jahr 1968 schrieb er: „Ein Atomkrieg kann nicht mehr (in den Worten von [Carl von] Clausewitz) als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln bezeichnet werden. Er wäre ein Mittel des universellen Selbstmords.“
Chruschtschow grob gegen Sacharow
Sieben Jahre zuvor hatte Sacharow auch meinen Urgroßvater Nikita Chruschtschow auf diese Tatsache hingewiesen und versucht, den sowjetischen Staatschef davon abzubringen, die Waffen zu bauen und zu testen, zu denen die UdSSR auch dank seiner Hilfe Zugang hatte. Vielleicht dachte er wirklich, er könne Chruschtschow überzeugen, der ein paar Jahr zuvor immerhin die Entstalinisierung vorangetrieben und viele Gefangene aus den Gulags befreit hatte.
Chruschtschow jedoch hatte kein offenes Ohr für Sacharows Bitte und reagierte wütend auf dessen Unverfrorenheit. „Du machst Deine Bomben und testest sie“, befahl er dem Physiker. „Und sag uns ja nicht, was wir zu tun und zu lassen haben.“ Außerdem stellte Chruschtschow gereizt fest, die UdSSR habe nur 83 Tests durchgeführt, Amerika dagegen schon 194.
Natürlich wusste Chruschtschow ebenso gut wie Sacharow, dass ein Atomkrieg die totale Vernichtung bedeuten würde, und hatte nicht im Traum vor, einen solchen Krieg anzufangen. Allerdings war er auch davon überzeugt, dass das atomare Gleichgewicht und eine Politik des äußersten Risikos – die er zum Beispiel während der Kubakrise 1962 verfolgte – politisch notwendig seien.
In seinen Memoiren schrieb er, solang der Westen Atomwaffen entwickle, sei es nur vernünftig, wenn die Sowjets dies auch tun. Gleichzeitig bedauerte er seine Grobheit gegenüber Sacharow, einem „moralischen Kristall“, der „das allumfassende Gute wollte“ und für „den Erhalt aller möglichen Bedingungen für eine besseres Leben der Menschen“ kämpfte.
Diese Grobheit hatte Folgen, zumindest wenn man die Begründung des Politbüros für Chruschtschows Entmachtung im Jahr 1964 ernst nimmt. Seine Mitglieder behaupteten, sein Problem sei nicht nur, dass er schnelle und unüberlegte Entscheidungen treffe – was seine Genossen „Voluntarismus“ nannten“ – sondern auch, dass er Sacharow schlecht behandelt habe. Das sagten genau die Richtigen: Kurz nachdem das sowjetische Establishment Chruschtschow abgesägt hatte, erklärte es Sacharow wegen seines Kampfs für die intellektuelle Freiheit und andere Rechte zur Persona non grata.
Kreml erneut gegen Sacharow
Mehr als 30 Jahre nach seinem Tod wird Sacharow heute erneut unterdrückt – und die Gefahr eines Atomkriegs steigt. Letzten Dezember verbot der Kreml mit Memorial eine der ältesten Bürgerrechtsbewegungen in Russland, die Sacharow und andere Dissidenten der Sowjetzeit 1987 gegründet hatten, um die umfassende Repression in der Stalinzeit und die Millionen von Toten in den Gulags ins Bewusstsein zu rücken und sich für die Rechte politischer Gefangener und anderer Opfer staatlicher Unterdrückung einzusetzen.
Selbst aus der wissenschaftlichen Sphäre wird Sacharow verbannt. Am 21. Mai, dem Tag der Physik an der Staatlichen Universität Moskau, der zufällig unter Chruschtschow eingeführt wurde, „vertagte“ die Fakultät für Physik Vorlesungen über Sacharows Leben und Werk. Sie meinten, sie seien mit anderen Dingen beschäftigt. Wirklich? Was könnte in einer Zeit, in der atomare Drohungen und Anschuldigungen den Diskurs in Russland, der Ukraine und im Westen dominieren, wichtiger sein?
Der Krieg in der Ukraine geht in den vierten Monat und der russische Außenminister Sergei Lawrow warnt, die Gefahr eines atomaren Konflikts dürfe „nicht unterschätzt“ werden. Gleichzeit versichert er aber, der Einsatz von Atomwaffen komme für Russland nicht infrage. Bedenkt man, dass Lawrow zwei Wochen, nachdem russische Panzer das Land überrollten, ohne mit der Wimper zu zucken behauptet hat, Russland sei nicht in die Ukraine einmarschiert, klingt seine Versicherung eher beängstigend als beruhigend.
Atomkrieg? Lest Sacharow!
Verschärft wird die Gefahr durch den aufgeregten Diskurs in westlichen und russischen Medien, der von Politikern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auf allen Seiten weiter angeheizt wird. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky sagte, die ganze Welt müsse sich auf den möglichen Einsatz taktischer Atomwaffen in der Ukraine vorbereiten. Vertreter der USA griffen diese Warnung auf und wiesen darauf hin, der russische Präsident Wladimir Putin könne sich womöglich gezwungen fühlen, diesen Schritt zu gehen, wenn er keine anderen Optionen mehr sieht.
Es besteht immer die Gefahr, dass sich solche Prophezeiungen selbst erfüllen. Sogar die Sprecherin des Weißen Hauses betonte kürzlich, die atomare Rhetorik müsse dringend zurückgefahren werden. Die Verantwortlichen aller Seiten könnte ruhig einmal wieder Sacharow lesen.
Nirgends muss Sacharows Vermächtnis jedoch dringender wiederentdeckt werden als in Russland. Auch wenn die russischen Eliten womöglich privat über den Krieg murren, wagen es nur wenige, ihn offen zu kritisieren. Deripaska, einer der Oligarchen, die der Westen wegen ihrer vermeintlichen Nähe zum Kreml auf die Sanktionsliste gesetzt hat, ist eine seltene Ausnahme. Mit sorgfältig formulierten, aber pointierten Aussagen – wie der, Sacharows Artikel „Die Gefahr eines thermonuklearen Kriegs“ aus dem Jahr 1983 sei heute wieder relevant und die Menschheit müsse endlich „erwachsen werden“ – weist er darauf hin, wie fahrlässig atomare Drohgebärden im Grunde sind.
In Russland hat Putins Krieg schärfere Repressionen, einen wirtschaftlichen Abschwung, die rasante Abwanderung hoch qualifizierter Menschen und viele weitere Verluste verursacht. Auch das verlorene Vermächtnis des Andrei Sacharow ist ein Rückschritt. Man kann nur hoffen, dass dieser Schritt nicht in den universellen Selbstmord führt.
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