Post-UdSSR: Der Traum vom Wirtschaftsboom
Warum Kasachstan und die Ukraine sich ökonomisch so unterschiedlich entwickeln
Vor dreißig Jahren erlebte die Sowjetunion, die fast vollständig funktionsunfähig war, ihre letzten Tage. Die Staats- und Regierungschefs Russlands, der Ukraine und Weißrusslands, die sich nahe der Westgrenze der UdSSR trafen, riefen enthusiastisch ein neues gemeinsames Reich aus, das sich gegen den Zusammenbruch der zentralen Behörden in Moskau richtete. In der gegenüberliegenden Ecke des großen Lands folgten die zentralasiatischen Führer widerstrebend ihrem Beispiel und erklärten ebenfalls die Unabhängigkeit von der bereits toten Union.
Damals glaubte man, dass die westlichen Sowjetrepubliken, angeführt von der Ukraine, sich bald in prosperierende europäische Nationen verwandeln würden, während Russlands südlicher zentralasiatischer Hinterhof mit Sicherheit zurückbleiben würde. Heute muss man zugeben, dass die Geschichte nicht mehr ganz so einfach ist. In dem, was eine Zeitlang als „postsowjetischer Raum“ bezeichnet wurde, haben sich zwei unterschiedliche Regionen herausgebildet, in denen es zwei „regionale Champions“ gibt, die unterschiedliche wirtschaftliche und soziopolitische Trends verkörpern.
Diese „lokalen Supermächte“, nämlich die Ukraine und Kasachstan, befanden sich an den Grenzen zwischen Europa und Russland und zwischen dem ehemaligen Russischen Reich und China und waren daher potenziell fast gleich verwundbar. Aber jetzt kann man leicht erkennen, wie unterschiedlich ihre Wege waren.
Nasarbajew modernisierte die Wirtschaft
Im Osten sprach sich der erste Präsident Kasachstans, Nursultan Nasarbajew, fast sofort für eine Art postsowjetische Reintegration aus und wandte sich später vorsichtig der fernen Vergangenheit zu, um die neue kasachische Identität auf der Erinnerung an ein unabhängiges Khanat zu gründen, das vor fünfhundert Jahren bestand. Doch gleichzeitig begann Nasarbajew, die Wirtschaft seines Lands zu modernisieren, indem er ausländische Investoren anlockte, eine brandneue Hauptstadt gründete und schließlich das alte, von den Russen geschaffene kyrillische Alphabet durch das lateinische ersetzte.
In Kiew schlugen die Politiker einen anderen Kurs ein, indem sie aus der Vorstellung, die Ukraine sei nicht Russland, Kapital schlugen und weniger die glorreichen Zeiten der Kiewer Rus als Hauptort der ostslawischen Zivilisation feierten, sondern sich vielmehr auf die prominenten Akteure des antirussischen Widerstands konzentrierten, die nicht nur bei den Moskowitern, sondern auch bei einigen Nachbarn – wie zum Beispiel den Polen – unangenehme Erinnerungen weckten.
In Kasachstan erkannten die Behörden sofort, wie gefährlich die Kombination aus politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit von den Nachbarn ist: Trotz der Nähe zu China und Russland gehen mehr als 50 Prozent der kasachischen Exporte in die EU-Länder und das Vereinigte Königreich, während sowohl die EU als auch die USA mit einem Anteil von insgesamt 84 Prozent der kumulierten ausländischen Direktinvestitionen die größten ausländischen Investoren sind.
Das Schicksal der Ukraine als „in-between“
In der Ukraine hingegen wurde der Schwerpunkt auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland und Europa gelegt (das alternde Gastransitsystem wird nach wie vor als eine Säule der nationalen Wirtschaft betrachtet). Der politische und wirtschaftliche Multilateralismus brachte in Kasachstan perfekte Ergebnisse, während die Ukraine so sehr zwischen dem „Westen“ und der „Horde“ hin- und hergerissen wurde, dass amerikanische Politikwissenschafter begannen, sie und die Nachbarländer nur noch als „in-betweens“ zu bezeichnen.
In Kasachstan ist die Modernisierung der Wirtschaft zur wichtigsten Aufgabe der Regierung geworden. Das Wachstum konzentrierte sich auf den Primärsektor. Während Russland seine Erdöl- und Erdgasproduktion seit 1990 um 1,7 bzw. 6,5 Prozent steigerte, explodierten die Zahlen in Kasachstan um das 3,3- beziehungsweise 6,4-fache.
Im Jahr 1990 war das BIP der Ukraine – einer Sowjetrepublik – um 64 Prozent größer als das der gesamten zentralasiatischen Region, und der Abstand bei der Industrieproduktion erreichte das 2,6-fache; 2020 überholte laut der Weltbank allein Kasachstan die Ukraine beim nominalen BIP um fast 10 Prozent und beim Pro-Kopf-BIP um das 2,4-fache. (Übrigens ist die Bevölkerung der Ukraine im Vergleich zur sowjetischen Volkszählung von 1989 um 19,2 Prozent zurückgegangen und die von Kasachstan um fast 17 Prozent gestiegen.)
Während in der Ukraine nur ein einziges großes Unternehmen – der Stahlproduzent Kryworischstal – nach einem dramatischen Kampf an einen ausländischen Investor versteigert wurde, werden in Kasachstan mehr als zwei Drittel der Ölproduktion von Unternehmen kontrolliert, die sich zumindest teilweise in ausländischem Besitz befinden. 11 von 13 großen Uranbergbau-Projekten werden mit Beteiligung ausländischer Investoren umgesetzt.
All diese Ergebnisse sind das Resultat einer Modernisierung nach dem „Nasarbajew-Stil“, bei der die wichtigsten Elemente der erfolgreichen asiatischen Erfahrungen übernommen wurden. Die Suche Kasachstans nach einer neuen Identität sowie sein Streben nach Multilateralismus und Wirtschaftswachstum machten es für die Führung des Lands natürlich, die Ideen einer neuen wirtschaftlichen Integration wieder aufzugreifen, die später von Russland durch die Gründung der Zollunion und nachher der EAEU unterstützt wurde.
Die Ukraine hingegen handelte nach dem Entweder-oder-Paradigma, was sie immer näher an einen Konflikt heranbrachte, der das Land zu einem Opfer des russischen Expansionismus machte. In Kasachstan, wo die russischstämmige Bevölkerung größer war als in der Ukraine (37,8 Prozent gegenüber 22 Prozent laut Volkszählung von 1989) und wo die überwiegend von Russen bewohnten Gebiete fast ein Drittel der Landesfläche ausmachten, wagte Moskau angesichts der national ausgerichteten Führung der Republik, ihrer multisektoralen Politik und ihrer auffallend korrekten Haltung gegenüber Russland keine unfreundlichen Handlungen.
„Nasarbajew-“ und „Juschtschenko-Strategie“
Es gibt zahlreiche andere Unterschiede zwischen den beiden Regionen – von Migrationstrends bis zur Entwicklung der Finanzmärkte, von den Veränderungen im Bildungswesen über die Schaffung einer modernen Führungselite bis zum Aufbau effektiver Transitkorridore. Zudem muss man in Rechnung stellen, dass die Ukraine auf einem geopolitisch weit heikleren und historisch weit stärker umkämpften Terrain liegt als Kasachstan. Auch fehlt ihr die mächtige Öl-Ressource.
Aber ohne Übertreibung kann man sagen, dass Kasachstan mehr und mehr zu einer natürlichen wirtschaftlichen Führungsmacht in Zentralasien wird, während die Ukraine selbst um Unterstützung und Schutz bemüht bleibt. Die ständige Besorgnis über einen russischen Angriff – eine hybride Kriegstaktik Moskaus – könnte dazu führen, dass der Westen der Ukraine zunehmend müde wird, zumal die Konfrontation zwischen den USA und China sowie die Notwendigkeit einer Stabilität in der Region in der Nähe der Zentren des radikalen Islamismus die Bedeutung der „südlichen“ Peripherie Russlands weit über die seiner „westlichen“ Peripherie anheben dürften.
Die wichtigsten Trends in der jüngsten Entwicklung Zentralasiens und Osteuropas sind das Ergebnis zweier unterschiedlicher Politiken, die ich als „Nasarbajew-Strategie“ und „Juschtschenko-Strategie“ bezeichne. Sie sind auf multilaterale Zusammenarbeit und auf den Zusammenprall mächtiger Rivalen, auf staatlich gelenkte Modernisierung und die Schaffung eines „oligarchischen Kapitalismus“, auf die Bildung einer neuen Identität praktisch „von Grund auf“ und auf die Aufarbeitung traumatischer historischer Wunden ausgerichtet.
Beide Strategien haben sehr unterschiedliche Realitäten hervorgebracht, so dass es unmöglich ist, von einem „postsowjetischen Raum“ oder gar von „Russland und Eurasien“ als einem einzigen Gebiet zu sprechen. Russland koexistiert heute mit einem neuen regionalen geopolitischen Zentrum im Süden und mit einer ausgeprägten Peripherie der Europäischen Union im Westen.
In Zentralasien breitet sich von Kasachstan erfolgreich ein wirtschaftlicher Pragmatismus aus, während Ostmitteleuropa trotz regelmäßigen demokratischen Wahlen und Visafreiheit an den Grenzen noch nicht vollständig europäisiert ist. Die sich modernisierende Autokratie macht sich hier die instabile demokratische Ordnung zu eigen und versucht, einen gesteuerten Wechsel der herrschenden Eliten zu bewerkstelligen.
Ein Konzept der „Zweiten Welt“
Heute führen die Fragmente des russischen und des sowjetischen Imperiums ein Eigenleben, agieren aber natürlich im Rahmen des Spiels der globalen Großmächte, deren Rivalität sich zusehends verschärft.
Als ich vor kurzem erneut Kasachstan besuchte, um an einer Sitzung des Astana Club teilzunehmen, bei der Dutzende von Experten aus Europa, Amerika und China mit kasachischen Politikern über die eurasischen Herausforderungen diskutierten, kam mir einmal mehr Parag Khannas Konzept der „Zweiten Welt“ in den Sinn. In seinem Buch von 2008 schlug der amerikanische Politologe vor, dass wirtschaftlich erfolgreiche Länder, die an der Kreuzung der Einflusszonen der Supermächte liegen, aufgrund der Geschichte eine besondere Rolle in der Weltpolitik spielen. Von daher sei den westlichen Mächten dringend empfohlen, eher Kasachstan auf ihre Seite zu ziehen, als zusätzliche Verantwortung für die Ukraine zu übernehmen.
Dreißig Jahre nachdem die rote Fahne über dem Kreml heruntergelassen worden ist, existiert das postsowjetische Reich nicht mehr. Russland hat kein Recht, seinen Nachbarn Befehle zu erteilen, aber es scheint, als wüsste der Westen nach wie vor nicht, wie er seine Macht und seinen Einfluss auf die ehemaligen imperialen Randgebiete ausüben soll.
Ohne die Erarbeitung eines neuen – und anderen – Ansatzes für die neuen eurasischen Staaten kann man nicht hoffen, dass die nächsten drei Jahrzehnte in diesem Teil der Welt mehr Frieden und Wohlstand bringen werden als die vorangegangenen.
Wladislaw L. Inosemzew ist ein bekannter russischer Ökonom sowie der Gründer und Direktor des Zentrums für postindustrielle Studien in Moskau. – Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 25.12.2021 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung