Nord Stream 2: Entsicherte Granate
Europa braucht das russische Gas, aber was bedeutet der Pipeline-Deal für die Ukraine?
Das russische Gas ist ans deutsche Ufer geschwommen! Genauer gesagt, hat es dahin geschafft! Und nun wird ihm offiziell erlaubt, aus der russischen Unterwasserröhre heraus in die deutsche Röhre hineinzuströmen, was die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der 46. amerikanische Präsident Joseph Biden in einer gemeinsamen Erklärung verkündeten.
Im Namen des russischen Gases begrüßte die russische Führung die Erklärung der beiden mächtigen Staatschefs und hob hervor, das russische Gas habe in den vergangenen Jahren wegen der feindseligen Haltung der Ukrainer gegenüber Russland Angst gehabt, sich durch die ukrainische Transitröhre nach Europa durchzuschlängeln. Nun aber, da der Transitweg nach Deutschland über den Meeresboden der Ostsee führt, kann das russische Gas erleichtert aufatmen. Und Russland natürlich auch.
Seine Abhängigkeit von der Ukraine hat sich auf null reduziert, ebenso wie die Möglichkeit der Ukraine, ihre Transitgaspipeline als politisches Druckmittel bei Verhandlungen mit der Russischen Föderation und Europa zu instrumentalisieren. Viele Militäranalytiker meinen zudem, allein das Vorhandensein der Transitgaspipeline von Russland nach Europa über ukrainisches Territorium habe den Kreml von aktiveren militärischen Handlungen abgehalten, einfacher gesagt, von einem militärischen Angriff auf Kiew. Die Transitröhre spielte die Rolle der Sicherung an einer Granate. Nun ist diese Sicherung entfernt worden, und die Granate kann jeden Moment explodieren.
Billiges Gas gegen Loyalität
Die Geschichte der unabhängigen Ukraine ist die Geschichte der Gaskonflikte mit Russland. Bereits anderthalb Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine erklärte der russische Energiekonzern Gazprom dem ukrainischen Naftogaz den ersten Krieg, indem er mit der Einstellung der Erdgaslieferungen drohte.
Zu dem Zeitpunkt, im Winter 1993, war der Konflikt um Gas eher ein ökonomischer als ein politischer. Für die Ukraine war der russische Gaspreis bedeutend niedriger als für Europa. Im Gegenzug verlangte Russland politische Loyalität, doch damals bemühte sich die Ukraine gar nicht besonders um eine Loslösung von der ehemaligen Sowjetunion.
Die wirtschaftliche Situation war schwierig, die ukrainische Regierung war nicht imstande, die Gasrechnungen zu begleichen, selbst zum reduzierten Preis. Doch die Transitröhre hielt Russland davon ab, der Ukraine den Gashahn abzudrehen, denn durch diese Röhre floss das russische Gas zu einem fünfmal höheren Preis nach Europa als für die Ukraine. Die Transitpipeline, die der ukrainischen Staatskasse einige Milliarden Dollar im Jahr einbrachte, half dem Land, bessere Bedingungen und Preise auszuhandeln.
Gleichwohl stiegen die Preise mit jedem neuen Schritt der Ukraine in Richtung Europa. Nach der Orangen Revolution 2005 verlangte Russland von der Ukraine, von 2006 an den europäischen Preis zu bezahlen.
Der nächste Gaskrieg begann zeitgleich mit dem Euromaidan 2013 bis 2014. Diesmal war er begleitet von echten militärischen Handlungen – zusammen mit der Annexion der Krim wurden „Ableger“ von Gasleitungen auf der Krim annektiert, ein Gasspeicher und technische Kapazitäten, ein Meeresschelf vor der Krim mit unterirdischen Gasvorräten, und sogar zwei ukrainische Bohrinseln im Schwarzen Meer wurden beschlagnahmt und „nationalisiert“. Als sich die Europäische Union, die Vereinigten Staaten und Kanada zur Verteidigung der Ukraine zu Wort meldeten, konterte Russland, es könne sich ja umorientieren – auf den Verkauf von Gas nicht an Europa, sondern an China.
Die Ukraine nennt den Deal „Washingtoner Komplott“
Offenbar kann Europa ohne russisches Gas nicht überleben. Vor allem Deutschland nicht mit seiner mächtigen Wirtschaft. Anders lässt sich Merkels Unterstützung dieses Projekts von Anfang an, seit 2015, nicht erklären. Die Sanktionen gegen Nord Stream 2 unter Donald Trump verzögerten den Bau der Unterwasserpipeline um ein Jahr und verhinderten, dass europäische Konzerne an den Verträgen verdienten. Russland vollendete das Projekt praktisch im Alleingang und nahm dafür etwa zehn Milliarden Dollar in die Hand.
Inzwischen macht unter ukrainischen Journalisten und Analysten das neue Schlagwort vom „Washingtoner Komplott“ die Runde – so nennt man hier die Vereinbarung zwischen Biden und Merkel über die Inbetriebnahme der Gaspipeline, der eine Liste mit politischen Warnungen an Russland und ökonomischen Versprechungen an die Ukraine beigefügt ist. Die politische Opposition in der Ukraine bezeichnete den Beschluss der beiden mächtigen Staatschefs bereits als Katastrophe für ihr Land.
Interessant ist, dass bis zum Moment der offiziellen Verlautbarung Merkels und Bidens das Weiße Haus kein definitives Datum für den Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski in Washington nennen konnte. Nach der Erklärung zu Nord Stream 2 gab es eines, der 30. August. Obwohl es zunächst geheißen hatte, man wolle Selenski im Juli zu einem Besuch in der amerikanischen Hauptstadt einladen.
Selenski bemühte sich, das Gesicht zu wahren, bedankte sich für die Einladung und schickte eine Liste von Themen, die er mit dem amerikanischen Präsidenten erörtern wolle. An erster Stelle steht natürlich Nord Stream 2 und die Auswirkungen der Inbetriebnahme auf die Ukraine.
Alle verstehen sehr gut, dass eine Diskussion über etwas, das schon vor anderthalb Monaten geschehen ist, keine Perspektive hat. Den Ukrainern ist klar, dass die Unterstützung durch die EU und die Vereinigten Staaten schwächer geworden ist. Die Ukraine trägt selbst einen Teil der Schuld – die schleppenden Reformen, folgenlose Ankündigungen, gegen Korruption und Oligarchen vorzugehen, schwächelnde außenpolitische Aktivität.
Aber man darf nicht unterschlagen, dass die Ukraine auch geopolitisch weniger interessant und attraktiv für den Westen geworden ist, ungeachtet aller Beteuerungen der westlichen Länder, die Ukraine freundschaftlich unterstützen zu wollen. Unterstützung und Freundschaft bedeuten in diesem Kontext vor allem die Verteidigung ukrainischer Interessen in den Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland.
Europa ist des ukrainisch-russischen Krieges müde und versucht, ihn nicht weiter zu beachten. Russland bleibt für den Westen ein großer und schwieriger Wirtschaftspartner, mit dem man früher oder später die Beziehungen wieder herstellen muss. Russland ist für Europa wichtig, und sein Gas ist es auch. Deshalb kann es sein, dass Europa bald vor vielem einfach die Augen verschließt.
Andrej Kurkow ist russischsprachiger ukrainischer Schriftsteller und lebt in Kiew. Der Beitrag ist ursprünglich erschienen am 26.7.2021 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung. Aus dem Russischen von Beate Rausch.
Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, den Text auf KARENINA veröffentlichen zu dürfen. Von Andrej Kurkow sind zuletzt bei Diogenes erschienen: der Roman „Graue Bienen“ sowie das Kinderbuch „Warum den Igel keiner streichelt“.