Brauchen wir die Pipeline?
Dokumentation: Erdgaspipeline-Projekt Nord Stream 2
Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags
Inhaltsverzeichnis
1. Themenstellung
2. Position der Bundesregierung
3. Frontier Economics / Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln (EWI)
4. Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft
5. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)
6. Öko-Institut
7. Stiftung Wissenschaft und Politik
8. Weitere Beiträge
8.1. Öffentliche Anhörung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie des Deutschen Bundestages
8.2. Diskussionsveranstaltung des Fernsehsenders Phoenix
8.3. Artikel
8.4. Presseartikel
1. Themenstellung
Der nachfolgenden Dokumentation liegt die eine Anfrage zur Notwendigkeit des Pipeline-Projekts Nord Stream 2 für die europäische Gasversorgung zugrunde. Die angegebenen Internet-Links wurden zuletzt am 14. September 2020 aufgerufen. Ob die Gaspipeline Nord Stream 2 zur Deckung des Gasbedarfs in Europa benötigt wird, ist umstritten. Dies wird u. a. durch einen Fachbeitrag des Wirtschaftsmagazins Capital verdeutlicht. Auf die Frage, ob wir Nord Stream 2 brauchen, führt die Autorin dieses Beitrags aus:
„Hier gibt es selbst unter Experten unterschiedliche Positionen. Einige argumentieren, dass Deutschland seine Gasnachfrage selbst dann mit den existierenden Pipelines und künftig möglichen Importen von Flüssiggas decken kann, wenn der Bedarf durch den Kohleausstieg übergangsweise steigt. Allerdings wäre diese Variante vermutlich teurer. Auffällig ist auch, dass Nord Stream 1 und 2 zusammen auf dieselbe Kapazität kommen wie die Leitungen, die aktuell durch die Ukraine verlaufen. Deshalb vermuten Kritiker, dass es den Nord-Stream-Befürwortern in erster Linie gar nicht um zusätzliche Transportkapazitäten geht, sondern um einen Ersatz der bestehenden – dann ohne Transitstaaten.“
2. Position der Bundesregierung
Nach Auffassung der Bundesregierung leistet die Pipeline Nord Stream 2 einen wichtigen Beitrag, den zukünftigen Verbrauch von fossilen und erneuerbaren Gasen in Deutschland zu decken.
„Durch den Kohleausstieg wird sich die Stromerzeugung durch den Einsatz von Kohle reduzieren. Die wegfallende Stromproduktion wird größtenteils durch erneuerbare Energien ersetzt. In Zeiten, in denen der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint, werden zunehmend Gaskraftwerke die Stromerzeugung sicherstellen. Zudem wird über das Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetz schon heute die Umrüstung von KWK-Steinkohle- auf KWK-Gaskraftwerke gefördert. Diese Maßnahmen könnten dazu führen, dass Deutschland übergangsweise, das heißt bis zur nahezu vollständigen Dekarbonisierung des Stromsektors im Jahr 2050, mehr Erdgas im Stromsektor verbraucht. Ob und inwieweit der Gasverbrauch insgesamt steigt, hängt jedoch auch von der Effizienzentwicklung im Gebäudesektor und in der Industrie ab. Unabhängig davon wird Nord Stream 2 neben anderen Transportrouten und -optionen, wie beispielsweise dem Import von LNG, einen wichtigen Beitrag leisten, den zukünftigen Verbrauch von fossilen und erneuerbaren Gasen in Deutschland zu decken.“
3. Frontier Economics / Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln (EWI)
Die Frontier Economics Ltd hat in Zusammenarbeit mit dem Energiewirtschaftlichen Institut an der Universität zu Köln im Auftrag der Nord Stream 2 AG ein Gutachten zu den Auswirkungen von Infrastruktur-Investitionen wie der Nord Stream 2 Pipeline auf den europäischen Gasmarkt erstellt. Es gelangt u. a. zu dem Ergebnis, dass die Pipeline die Belastbarkeit des europäischen Gassystems erhöhe und den Import von zusätzlichen russischen Gasmengen ermögliche, die benötigt werden, um den zukünftig steigenden Importbedarf in Europa kostengünstig zu decken. Wörtlich wird in der Studie im Rahmen einer einleitenden Zusammenfassung festgestellt:
„Die zuvor genannten Vorteile von Infrastrukturinvestitionen auf Versorgungssicherheit und Wettbewerb sind auch durch eine Inbetriebnahme der Nord Stream 2 Pipeline zu erwarten. Unsere Analysen zeigen, dass Nord Stream 2
- die Belastbarkeit des europäischen Gassystems erhöht und einen relevanten zusätzlichen Kapazitätspuffer bereit stellt, um die europäische Gasnachfrage in Spitzenzeiten zu decken; und
- den Import von zusätzlichen russischen Gasmengen ermöglicht, die benötigt werden, um den zukünftig steigenden Importbedarf in Europa kostengünstig zu decken.“
Darüber hinaus gelangt die Studie im Abschnitt 4.5 zu folgendem Fazit:
„Ungeachtet der bestehenden politischen Diskussionen im Zusammenhang mit der Nord Stream 2 Pipeline lässt sich anhand von etablierten ökonomischen und energiepolitischen Kriterien messen, welche Effekte die Nord Stream 2 Pipeline auf die Versorgungssicherheit und den Wettbewerb im europäischen Gasmarkt insgesamt und in einzelnen, potenziell besonders betroffenen Märkten im speziellen, hat.
Unsere Analyse zeigt, dass die positiven Effekte der Nord Stream 2 Pipeline auf die Versorgungssicherheit (u. a. Stärkung der Resilienz des Gassystems, Diversifizierung der Transportrouten, Vermeidung von Transitrisiken, Anbindung an neue Gasfelder, Schaffung neuer Importpotenziale) und auf den Wettbewerb (u. a. durch die Erhöhung des Angebots an kostengünstigem Gas) länderübergreifend zutreffen. Dies ist insbesondere der bereits weit fortgeschrittenen Marktintegration in Europa zu verdanken.
Aus diesem Grund erweisen sich zuweilen im Zusammenhang der Nord Stream 2 Pipeline geäußerte Befürchtungen, dass die Pipeline die Sicherheit der Gasversorgung und die Marktpreisbildung in anderen Ländern, insbesondere in den traditionellen Transitländern von russischem Gas in Zentral- und Osteuropa beinträchtigen könnte, als unbegründet.
Denn auch in den osteuropäischen Ländern hat die Marktintegration (sowohl innerhalb Zentral- und Osteuropas als auch mit Westeuropa) in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Zudem wurden und werden die physischen Importkapazitäten in Zentral- und Osteuropa erheblich ausgebaut, durch welche auch den traditionellen Transitländern für russisches Gas (Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn) diversifizierte Importoptionen zur Verfügung stehen, unabhängig davon wieviel Gas über die traditionellen Transitrouten fließt. Eine Gefährdung der „Energiesolidarität“ durch die Nord Stream 2 Pipeline ist somit nicht zu befürchten.“
Darüber hinaus wird auf folgendes Fazit eines Fachbeitrags zu der voranstehenden Studie hingewiesen:
„Die Ergebnisse mehrerer Szenario-Simulationen unter Verwendung des EWI-Gastransportmodells TIGER [...] zeigen, dass der Betrieb von Nord Stream 2 die Erdgaspreise für europäische Verbraucher senkt. Außerdem wird durch die Simulation deutlich: Auch mit Nord Stream 2 besteht weiter Bedarf für die ukrainische Route. Diese trägt ebenfalls zu niedrigeren Erdgaspreisen in Europa bei, da sie einen stärkeren Wettbewerb zwischen russischem Pipelinegas und LNG-Importen ermöglicht. Aus europäischer Sicht ist daher der Betrieb beider Korridore ökonomisch sinnvoll.“
4. Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft
Auch der Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft setzt sich für eine Fertigstellung der Pipeline Nord Stream 2 ein. In einem Interview zu diesem Projekt betont der Vorsitzende der Vereinigung, Oliver Hermes:
„Eine weitere, noch höhere Belastung würde durch den Ausfall der erhofften Erdgaslieferungen entstehen: Die Frage ist dann, aus welchen Quellen das benötigte Gas alternativ käme, um in Deutschland den Ausstieg aus Kohle und Kernenergie und den angestrebten Übergang ins Nicht-Fossile-Zeitalter zu überbrücken? Mögliche Alternativen wären Fracking-Gas aus den USA, Flüssiggas aus Russland und Katar, oder weiteres Pipelinegas aus Algerien, Libyen, Aserbaidschan. Das Gasangebot auf dem Markt wäre aber in jedem Fall geringer, als erhofft, die Preise wären für Erdgaskunden höher. Auch hier geht es pro Jahr um Milliardenbeträge, die dann vor allem europäische Verbraucher zu zahlen hätten.“
Darüber hinaus nimmt der Geschäftsführer der Vereinigung, Michael Harms, auf die o. g. Studie wie folgt Bezug:
„Das Energiewirtschaftliche Institut (EWI) geht bei Fertigstellung von Nord Stream 2 von Wohlfahrtsgewinnen für die europäischen Verbraucher von mehreren Milliarden Euro jährlich aus, da die leichte Verfügbarkeit zusätzlicher Gasmengen in Europa allgemein die Preise drückt. Damit ist das Projekt auch für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie von hoher Bedeutung.“
5. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)
Kritisch gegenüber dem Projekt Nord Stream 2 äußert sich seit mehreren Jahren das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Hierbei wird betont, dass der Erdgasbedarf längerfristig sinken werde und Erdgas aus dem Energiesystem verdrängt werde. Darüber hinaus könne bereits heute auf eine großzügig dimensionierte Importinfrastruktur und eine Vielzahl von Bezugsquellen zurückgegriffen werden. So führt das DIW in einem kürzlich veröffentlichten Beitrag zu neuen Gaspipelines und Flüssiggas-Terminals aus:
„Im Rahmen der Energiewende und der klimapolitischen Bemühungen um Klimaneutralität in Europa bis 2050 wird immer deutlicher, dass Erdgas in der langen Frist aus dem Energiesystem verdrängt wird. Untersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Erdgaserzeugung weitaus klimaschädlicher ist als vielfach angenommen.[...] Sowohl in der Stromerzeugung als auch in anderen Anwendungsbereichen bieten sich erneuerbare Alternativen an, deren Kostensenkung erfolgreich angeschoben wurde.
Im Stromsektor kann Erdgas – ebenso wie Kohle und Atomstrom – durch erneuerbare Energien wie Windkraft und Solarenergie in der Grundlast ersetzt werden, wie es in Deutschland bereits teilweise geschieht. Auch für die wichtige Frage nach den „Flexibilitätslösungen“, also was passiert, wenn Wind und Sonne zeitweise nicht verfügbar sind, haben die Energiewirtschaft und die Forschung bereits Antworten gefunden, die den Verzicht auf Erdgas ermöglichen. Neben Batteriespeichern, Nachfragemanagement und der stärkeren Vernetzung von immer mehr Regionen mit erneuerbaren Energien bei unterschiedlichem Wetter wird auch das sogenannte Power-to-X Teil der Maßnahmen sein. [...]
Die Nordstream2-Pipeline wäre zur Sicherung der Erdgasversorgung in Europa nicht notwendig gewesen, da Deutschland und andere europäische Länder auf eine bereits großzügig dimensionierte Importinfrastruktur und eine Vielzahl von Bezugsquellen zugreifen können. Dennoch ist die Nordstream2-Pipeline von der deutschen Bundesregierung unterstützt worden. Ebenso hat die deutsche Bundesregierung den Bau von LNG-Terminals versprochen, über die auch US-amerikanisches Erdgas importiert werden kann.“
Darüber hinaus wird auf folgende Veröffentlichungen des DIW hingewiesen:
Kemfert, Claudia (2019), Energiewende forcieren statt unsinnige Pipelines bauen, Kommentar
Neumann, Anne/Göke, Leonhard/Holz, Franziska/Kemfert, Claudia/Hirschhausen, Christian von (2018), Erdgasversorgung: Weitere Ostsee-Pipeline ist überflüssig. DIW-Wochenbericht, Nr. 27/2018
Ferner wird auf folgende Stellungnahme zur Bedarfsbegründung im Planfeststellungsverfahren für die Errichtung und den Betrieb der Pipeline Nord Stream 2 aufmerksam gemacht:
Neumann, Anne (2018), Stellungnahme zur Bedarfsbegründung im Planfeststellungsbeschluss für die Errichtung und den Betrieb der Gasversorgungsleitung 'Nord Stream 2' durch die Ostsee von der Narva-Bucht (RUS) nach Lubmin (DEU) im Abschnitt des deutschen Küstenmeeres
Hierin wird in der Zusammenfassung auf Seite 1 der Veröffentlichung ausgeführt:
„Im Planfeststellungsbeschluss zur Nord Stream 2 Pipeline wird wiederholt auf die energiewirtschaftliche Notwendigkeit des Vorhabens eingegangen. In diesem Gutachten werden die zugrundeliegenden Referenzszenarien kritisch geprüft; darüber hinaus erfolgt eine Analyse des deutschen und europäischen Erdgasmarktes für den Fall der Nichtumsetzung des Vorhabens. Aus dem dem Planfeststellungsbeschluss zugrundeliegenden „EU-Referenzszenario“ ist keine Bedrohung der Versorgungssicherheit Deutschlands bzw. Europas mit Erdgas im Fall der Nichtumsetzung der Nord-Stream-2 Pipeline abzuleiten. Zum einen ist die Bedeutung des Erdgases in dem Szenario überschätzt, weil – entgegen jeder Plausibilität – von der Verfügbarkeit von CO2- Abscheidetechnologie ausgegangen wird; dies steigert die Nutzung von CO2-intensivem Erdgas. Zum zweiten gibt es eine systematisch fehlerhafte Überschätzung der Erdgasnachfrage in den von der EU-Kommission genutzten und extern kontrahierten Szenarien, welche die tatsächlich realisierten Bedarfsmengen überschätzen. So bemerkt auch der Europäische Rechnungshof (2015) die fehlende Zuverlässigkeit der bestehenden Nachfrageschätzungen und ‚dass die Kommission die Erdgasnachfrage während des Zeitraums beständig überschätzt hat und die Glaubwürdigkeit der Prognosen, die sie verwendet, wiederherstellen muss’.
Auch auf der Angebotsseite gibt es keine Anzeichen für eine Versorgungslücke in dem Fall, dass die Nord-Stream-2 Pipeline nicht gebaut wird. Zum einen ist die Versorgung mit kostengünstigem Erdgas aus Pipelines aus dem (europäischen) Ausland (UK, Norwegen, Nordafrika) auf Jahrzehnte gesichert; zum anderen gibt es weltweit keine absehbare Knappheit an Flüssig-gaslieferungen (‚LNG’, ,liquefied natural gas’). Versorgungsrisiken bei der Nichtumsetzung des Projekts sind nicht absehbar. Die Fehleinschätzung der Bedeutung der Nord-Stream-2 Pipeline ist vor allem der Tatsache zuzuschreiben, dass Erdgas seine vormals vermutete Bedeutung als ,Brückenenergieträger’ verloren hat und für die längerfristig anstehende Dekarbonisierung des europäischen Energiesystems nicht mehr benötigt wird.
Im Ergebnis ist der Bau der Nord-Stream-2 Pipeline weder vernünftigerweise geboten, und schon gar nicht zur Deckung des Erdgasbedarfs in Deutschland und Europa erforderlich. Die dem Planfeststellungsbeschluss zugrundeliegenden Szenarien enthalten Mängel in der Erstellung und systematische Fehler, die zu einer Überschätzung des Erdgasbedarfs führen. Eine energiewirtschaftliche Notwendigkeit der Nord-Stream-2 Pipeline zur Versorgung des deutschen bzw. europäischen Energiesystems ist nicht erkennbar.“
6. Öko-Institut
Dr. Felix Matthes vom Öko-Institut, Freiburg i. Br., hat in einem Gastbeitrag für Zeit Online dargelegt, dass nach seiner Auffassung die Nord Stream 2-Gaspipeline für die Gasversorgung in Europa nicht benötigt werde. Er führt aus:
„Eines der beliebtesten Argumente zur Verteidigung des Projekts Nord Stream 2 lautet, dass wir im Zeichen von Atom- und Kohleausstieg deutlich mehr Erdgas benötigen würden. Für manche erscheint die Gaspipeline angesichts verstärkter Anstrengungen in der deutschen und europäischen Klimaschutzpolitik sogar als unverzichtbar. Ist das so? Werfen wir einen Blick auf die Zahlen.
Etwa drei Viertel des in Deutschland verbrauchten Erdgases geht in die Wärmeversorgung von Gebäuden und Industrieprozessen, weniger als ein Fünftel wird aktuell in der Stromerzeugung eingesetzt. Und eine ähnliche Struktur zeigt sich auch für die EU, hier entfallen fast zwei Drittel des Erdgasverbrauchs auf den Wärmesektor und weniger als 30 Prozent auf die Stromerzeugung. So ist der zukünftige Erdgasverbrauch letztlich ein Ergebnis von zwei gegenläufigen Trends.
LNG-Terminals sind nur zur Hälfte ausgelastet
Einerseits werden im Kontext des Ausstiegs aus der Kernenergie (in Deutschland) und der Kohleverstromung (in Europa) zusätzliche Gaskraftwerke zur Gewährleistung der Systemsicherheit gebraucht. Diese Kraftwerke werden aber nur wenige Stunden im Jahr ausgelastet, die damit entstehende zusätzliche Erdgasnachfrage wird sowohl in Deutschland als auch EU-weit im Jahr 2030 nur etwa 5 Prozent der historischen Erdgas-Verbrauchsniveaus betragen. Andererseits ergeben sich im Zuge von Gebäudedämmung, Wärmepumpeneinsatz und ähnlichen Klimaschutzmaßnahmen schrittweise sehr deutlich sinkende Erdgasnachfragen.
Insgesamt ist das Ergebnis eindeutig: Die im heutigen politischen Umfeld erwartbaren Erdgaseinsparungen im Wärmesektor liegen weit über dem zeitweisen Zusatzbedarf in der Stromversorgung. Der zukünftige Erdgasverbrauch Europas entscheidet sich nicht im Strom- sondern im Wärmesektor und der ist ein prioritäres Handlungsfeld der Klimapolitik.
Detaillierte quantitative Analysen zu den Effekten der bisherigen Klimaschutzziele für Europa und der bisher beschlossenen Maßnahmen zeigen darüber hinaus, dass für die 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein Rückgang der erforderlichen Erdgasimporte um etwa ein Fünftel selbst unter der Maßgabe erwartet werden kann, dass die Erdgasförderung in der EU noch deutlich stärker sinken wird. Und all das gilt für die heutigen Klimaschutzziele, die klar absehbare Erhöhung der klimaschutzpolitischen Ambitionen wird den zukünftigen Verbrauch des fossilen Brennstoffs Erdgas noch einmal deutlich weiter drücken.
Jenseits dieser Facette der Erdgasnachfrage ist es zudem so, dass die heute bereits bestehenden Infrastrukturen für Erdgaslieferungen in die EU stark überdimensioniert sind. Die derzeit zwanzig großen kontinentaleuropäischen Flüssiggas- (LNG-) Terminals in der EU-27 mit einer Anlandekapazität von insgesamt fast 165 Milliarden Kubikmetern Erdgas sind aktuell und absehbar nur zur Hälfte oder weniger ausgelastet.
Der Einfluss der Pipeline auf den Preis ist gering
Allein die volle Auslastung dieser Terminals würde also mehr Kapazität zur Verfügung stellen, als durch Nord Stream 2 (55 Milliarden Kubikmeter) neu geschaffen würde, ganz zu schweigen von den im Bau befindlichen Erweiterungen der existierenden LNG-Terminals mit einer Kapazität von fast 50 Milliarden Kubikmetern und weiteren Neubauprojekten, für die letztlich ebenfalls kein Bedarf besteht (und die deshalb nur mit starker staatlicher Förderung realisiert werden können).
Aber hat eine zusätzlich Pipeline nicht einen massiven Einfluss auf die Erdgaspreise, die die europäischen Verbraucher und Volkswirtschaften zu tragen haben? Die Antwort ist auch hier relativ klar: Ja, aber nur in sehr begrenztem Umfang, es handelt sich um einen Bereich von wenigen Prozentpunkten auf dem Großhandelsmarkt und unterhalb der Nachweisgrenze für die meisten Verbrauchsbereiche. Denn auch hier ist die Marktperspektive wichtig.
Die europäischen Erdgaspreise werden zunehmend durch die Preise bestimmt, zu denen vor allem Flüssiggas aus dem Mittleren Osten, Afrika oder den USA (sowie zu nicht irrelevanten Anteilen auch aus Russland) in Europa angelandet wird. Die Anbieter von Pipeline-Gas aus Russland oder Norwegen richten ihre Preise genau daran aus. Das litauische Flüssiggas-Terminal heißt nicht von ungefähr „Independence“, es hat Unabhängigkeit sowohl vom Mengen- als auch vom Preisdiktat des vormaligen Liefermonopolisten Gazprom geschaffen.
Umgedreht bedeutet dies aber auch, dass zusätzliche Pipelinekapazitäten aus Förderregionen mit relativ niedrigen Förderkosten (wie Russland oder Norwegen) nur einen geringen Einfluss auf die in Europa aufgerufenen Preise haben, selbst wenn sie einen Teil der Flüssiggasimporte verdrängen.
Und so bleibt es dabei: Nord Stream 2 ist ein primär durch geopolitische Interessen motiviertes Projekt. Erfolg oder Misserfolg der deutschen und europäischen Energiewende oder der volkswirtschaftliche Wohlstand Europas sind jedenfalls von diesem Projekt nicht abhängig.“
7. Stiftung Wissenschaft und Politik
Kürzlich hat die Stiftung Wissenschaft und Politik zu der Frage „Nord Stream 2: Ein Druckmittel gegen Russland?“ Stellung genommen. In dieser Stellungnahme wird zu den Auswirkungen eines Stopps der Nord Stream 2 durch die Bundesregierung u. a. ausgeführt:
„Ein Stopp der Nord Stream 2 durch die Bundesregierung käme einem Paukenschlag gleich. Was aber folgt, wenn der Knall verhallt ist? Die Politik steht vor einer schwierigen Güterabwägung. Folgende vier Punkte sollte sie in ihr Kalkül einbeziehen:
Erstens wären die unmittelbaren energiewirtschaftlichen Auswirkungen marginal. Das Projekt ist weder, wie so oft behauptet wird, eine Gefahr für die europäische Energiesicherheit, noch ein Muss. Es gibt das alte Gasleitungssystem durch die Ukraine, dessen Kapazitäten auf 100-120 Milliarden Kubikmeter im Jahr geschätzt werden, die Jamal-Pipeline durch Polen und Belarus mit 33 Milliarden und Nord Stream 1 mit 55 Milliarden Kubikmeter. Hinzu kommen Pipelines in die Türkei und nach Finnland. Die Rekordvolumina von mehr als 190 Milliarden Kubikmeter, die Gazprom 2017/2018 nach Europa absetze, konnten darüber geliefert werden. Allerdings würde bei einem Stopp der Nord Stream 2 kein Kubikmeter weniger Gas von Gazprom gekauft. Wohl aber wögen dann Transit- und Ausfallrisiken höher, da eine direkte, moderne und effiziente Leitung fehlen würde. Nord Stream 1 und seinen Anschlussleitungen käme dann eine zentrale Rolle zu.“
8. Weitere Beiträge
8.1. Öffentliche Anhörung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie des Deutschen Bundestages
Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie hat in seiner 80. Sitzung der 19. Legislaturperiode am 1. Juli 2020 eine öffentliche Anhörung zum Thema „Sicherung der Souveränität deutscher und europäischer energiepolitischer Entscheidungen (Nord Stream 2)“ durchgeführt, in der auch die Thematik des Auftrags angesprochen worden ist.
Die Tagesordnung, die Sachverständigenliste, die Stellungnahmen der Sachverständigen sowie das Wortprotokoll der Anhörung können auf folgender Internetseite aufgerufen werden, die auch einen zusammenfassenden Bericht zur Anhörung umfasst:
80. Sitzung, Mittwoch, 1. Juli 2020, Öffentliche Anhörung zum Thema „Sicherung der Souveränität deutscher und europäischer energiepolitischer Entscheidungen (Nord Stream 2)
8.2. Diskussionsveranstaltung des Fernsehsenders Phoenix
Der Fernsehsender Phoenix hat im Rahmen seines Veranstaltungsformats „phoenix runde“ am 9. September 2020 eine Diskussionsveranstaltung zum Thema „Nord Stream 2 – Brauchen wir die Pipeline?“ durchgeführt, in der die kontroversen Standpunkte zu diesem Thema deutlich zum Ausdruck gebracht wurden. Vgl. hierzu:
Fernsehsender Phoenix, phoenix runde: Nord Stream 2 – Brauchen wir die Pipeline?, 09. September 2020, 22.15 Uhr
8.3. Artikel
Auer, Josef (Deutsche Bank Research) (2019), Nord Stream II verbessert Deutschlands Energieversorgung, Untertitel: Mittelfristig überwiegen die Vorteile, in: Wirtschaftliche Freiheit, 19. November 2019
Ilmenauer Beiträge zur Wirtschaftsinformatik (2019), Günther, Maik/Nissen, Volker, Gas Flows and Gas Prices in Europe: What is the Impact of Nord Stream 2? – Paper presented at ENERDAY 2019, Dresden –, Arbeitsbericht Nr. 2019-01, April 2019, Link: https://www.research-gate.net/publication/335422411_Gas_Flows_and_Gas_Prices_in_Europe_What_is_the_Im-pact_of_Nord_Stream_2_Paper_presented_at_Enerday_2019
vgl. auch Günther, Maik/Nissen, Volker (2019), Gas Flows and Gas Prices in Europe: What is the Impact of Nord Stream 2, ENERDAY 2019 – 13th International Conference on Energy Economics and Technology
Fischedick, Manfred (2019), Die Rolle von Erdgas(import-)infrastrukturen für zukunftsfähige Energiesysteme, in: Energiewirtschaftliche Tagesfragen, 69. Jg. (2019), Heft 1/2, S. 45 – 50
Sollte Deutschland auf eine Fertigstellung von Nord Stream 2 drängen? : Pro & Contra, in: Mittelstandsmagazin : Das Magazin der MIT für Entscheider in Wirtschaft und Politik. – Jahrgang 2019, Ausgabe 03, S. 26 - 27, Pro: Thomas Bareiß; Contra: Sarah Gillen.
Hecking, Harald/Weiser, Florian (2018), Auswirkungen von Nord Stream 2 auf die Gaspreise in Europa, Energiewirtschaftliche Tagesfragen, 68. Jg. (2018), Heft 1/2, 02.02.2018, S. 41 – 43
Ifo Institut für Wirtschaftsforschung (2018), Bardt, Hubertus/Schaefer, Thilo/Wolf, André/Zachmann, Georg/Westphal, Kirsten, Zur Diskussion gestellt, Verwerfungen auf dem Energiemarkt – USA gegen Nord Stream 2: Weg zur amerikanischen Energiedominanz?, in: ifo Schnelldienst 17 / 2018 71. Jahrgang 13. September 2018, S. 2 - 14 (3 Aufsätze)
Weltenergierat – Deutschland e. V. (2018), Energie für Deutschland. Fakten, Perspektiven und Positionen im globalen Kontext | 2018, Berlin, Schwerpunktthema: Energie im Straßenverkehr – Globale Herausforderungen und Instrumente, Abschnitt 3.5: Eine Einordnung zur Bedeutung russischen Erdgases für den EU-Binnenmarkt am Beispiel von Nord Stream 2, S. 105 – 107
8.4. Presseartikel
Koch, Moritz/Stratmann, Klaus (2020), Nord Stream 2: Die größten Probleme der unvollendeten Pipeline, in: Handelsblatt, 10.09.2020
Thumann, Michael (2020), Die Gasrechnung, Untertitel: Deutschland ist von Nord Stream 2 nicht abhängig. Ein Stopp des Projektes könnte für Staat und Verbraucher trotzdem teuer werden, in: Die Zeit, Nr. 38 vom 10. September 2020, S. 7.
Deutscher Bundestag – Pressedokumentation (2020), Schlandt, Jakob (2020), Wem es nützt, Untertitel: Jetzt erwägt auch Merkel einen Baustopp von Nord Stream 2. Das Projekt ist für Deutschland vorheilhaft – aber nicht unverzichtbar, Der Tagesspiegel, Nr. 24 296 vom 9. September 2020, S. 13.
Höltschi, René (2020), Brauchen Deutschland und Europa Nord Stream 2 überhaupt?, Neue Züricher Zeitung vom 08.09.2020
Deutscher Bundestag – Pressedokumentation, „Nord Stream 2 nicht von existentieller Bedeutung“, Untertitel: Energieökonom Bettzüge: Die Pipeline macht Gas billiger, sie ist aber nicht entscheidend für die Versorgung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 207, 5. September 2020, S. 17.