Wenn der Bär mit dem Drachen tanzt
Die Annäherung von China und Russland hat Folgen für die transatlantische Sicherheit
China und Russland haben sich in den vergangenen Jahren immer mehr angenähert. Dieser Trend hat Konsequenzen für die transatlantische Sicherheit. Insbesondere muss Europa mehr Verantwortung für seine eigene Verteidigung übernehmen.
Ein Bündnis haben Peking und Moskau zwar nicht geschlossen, doch arbeiten sie in diplomatischen und sicherheitspolitischen Angelegenheiten vermehrt zusammen. Ihre Standpunkte zu vielen internationalen Fragen sind ähnlich; im Uno-Sicherheitsrat vertreten sie oft die gleichen Positionen. Darüber hinaus bauen sie ihre Verteidigungszusammenarbeit aus. Dies unterstreichen der Verkauf hochentwickelter russischer Waffen an China und eine beeindruckende Reihe gemeinsamer Truppen- und Flottenmanöver.
Im euroatlantischen Raum planen Russland und China zwar keine gemeinsamen Militäroperationen und werden es vermutlich auch in naher Zukunft nicht tun. Dennoch macht die Partnerschaft der beiden östlichen Mächte die globale Strategie der USA komplizierter.
Ihre starke Beziehung verleiht China und Russland eine gegenseitige strategische Rückendeckung. Sie entlastet beide vor allem in einer Krise von der Sorge, dass sich der jeweilige Partner ab- und dem Westen zuwenden könnte.
Dadurch entsteht für Peking und Moskau mehr Handlungsspielraum, um ihren jeweiligen regionalen Einflussbereich zu festigen. Ein miteinander abgesprochenes chinesisch-russisches Vorgehen in Europa ist höchstens in begrenztem Umfang zu beobachten, doch einzeln agieren die beiden Länder in einer Weise, die die Sicherheit der Region beeinträchtigen könnte.
Risiko für die USA: Zweifrontenkrieg
Sowohl China als auch Russland rüsten militärisch auf. Dies setzt die Vereinigten Staaten im indopazifischen und im euroatlantischen Raum gleichzeitig unter Druck und erschwert ihnen die Erfüllung ihrer Sicherheitsverpflichtungen gegenüber ihren Verbündeten. Ein Krieg gegen eines der beiden Länder in bestimmten Szenarien, etwa gegen Russland um das Baltikum oder gegen China um Taiwan, würde den USA immense Schwierigkeiten bereiten.
Das größte Risiko für Washington ist ein an zwei Fronten gleichzeitig zu führender Krieg. Auf jeden Fall zwingt der wachsende Einfluss Chinas die USA, der indopazifischen Region mehr Aufmerksamkeit, Ressourcen und militärische Mittel zu widmen. Das bedeutet, dass sich Europa um seine Sicherheit vermehrt selbst kümmern muss.
Die Regierung des amerikanischen Präsidenten Joe Biden verfolgt gegenüber China und Russland eine Doppelstrategie: Einerseits strebt sie bei Themen von gemeinsamem Interesse eine Kooperation an; andererseits versucht Washington, den Einfluss der beiden Mächte zu begrenzen. Für die Umsetzung dieser Strategie sind die USA auf ihr Bündnisnetzwerk angewiesen, einschließlich der transatlantischen Partnerschaft.
Strategic Trends 2021
China und Russland haben sich in den vergangenen Jahren umso mehr einander angenähert, als sich ihre Beziehungen zum Westen verschlechtert haben. Doch dies ist nicht die einzige Antriebsfeder ihrer Zusammenarbeit. Angesichts der Verwundbarkeit seiner fernöstlichen Landesteile kann sich Russland einen Bruch mit China kaum erlauben. Gleichzeitig ist China gut beraten, allein schon wegen der Spannungen mit mehreren seiner Nachbarländer ein freundschaftliches Verhältnis zu Russland zu suchen.
Im Jahr 2020 erlitten die Beziehungen Moskaus und Pekings zum Westen weitere Rückschläge. Im Fall Russlands sorgte die Vergiftung des Oppositionsführers Alexei Nawalny mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok im Westen für Empörung. China wurde die Corona-Pandemie zum Verhängnis, denn westliche Politiker und die Öffentlichkeit warfen dem Land vor, es habe den Krankheitsausbruch vertuscht und versucht, die Verantwortung von sich zu weisen.
Währenddessen blieben die chinesisch-russischen Beziehungen intakt. Im Oktober bekräftigte der russische Präsident Wladimir Putin, er könne sich sogar ein zukünftiges Bündnis mit China vorstellen.
Westliche Regierungen beobachten diese Entwicklung mit wachsender Sorge. Für die Nato bleibt Russland wegen seiner Aufrüstung im Bereich der konventionellen und nuklearen Waffen eine große Herausforderung. Hinzu kommen die Beeinflussungsoperationen, mit denen Moskau das Meinungsbild zu seinen Gunsten verändern und die westlichen Gesellschaften spalten will.
Im Unterschied zu Russland ist China keine direkte militärische Bedrohung für Europa. Aber Peking kann Mittel zur Cyberkriegsführung zur Geltung bringen oder durch technologische Fähigkeiten etwa im Bereich der künstlichen Intelligenz versuchen, auf dem alten Kontinent an Einfluss zu gewinnen. Schließlich spielt China eine zentrale Rolle in wichtigen Versorgungsketten, was ihm ebenfalls eine Einflussnahme ermöglicht.
Angesichts des Aufstiegs Chinas und der weitreichenden Ambitionen Russlands passen die USA ihre Verteidigungsstrategie an. Nach dem Ende des Kalten Kriegs wandte sich Amerika zunächst einer Zwei-Kriege-Strategie zu, die das Land befähigen sollte, zwei kleinere Kontrahenten gleichzeitig zu bezwingen. Gemäß der „National Defense Strategy“ von 2018 müssen die USA nun jederzeit in der Lage sein, eine Großmacht zu schlagen. Der Sieg über zwei Großmächte gleichzeitig ist indes nicht vorgesehen. Washington müsse lediglich – so die derzeitige Doktrin – die Fähigkeit aufrechterhalten, eine Großmacht zu besiegen und bis dahin gleichzeitig eine weitere erfolgreich von militärischen Interventionen abzuschrecken.
Planspiele entlarven Schwächen der USA
In jüngster Zeit finden sich immer mehr Belege dafür, dass die USA unter bestimmten Umständen schon Schwierigkeiten haben dürften, auch nur eine Großmacht zu schlagen. In zahlreichen Planspielen, in denen der Kampf der USA und ihrer Verbündeten gegen China oder Russland in jüngster Zeit simuliert wurde, mussten die amerikanisch geführten Koalitionstruppen schwere Niederlagen einstecken.
So stellte sich heraus, dass sich die Verteidigung Taiwans gegen einen möglichen Angriff der Volksrepublik China zunehmend schwierig gestaltet. Auch würde die Nato einen Krieg gegen Russland um das Baltikum womöglich verlieren.
Zwar genießen die USA gemessen an den gesamten militärischen Mitteln nach wie vor einen deutlichen Vorsprung. Bei regionalen Szenarien, beispielsweise einem kriegerischen Konflikt in der Meerenge von Taiwan oder im Baltikum, könnten China oder Russland jedoch aufgrund ihrer geografischen Lage bereits heute im Vorteil sein.
Vor dem Hintergrund der chinesisch-russischen Verteidigungszusammenarbeit könnten die Herausforderungen für die USA künftig noch komplexer werden, auch wenn Moskau und Peking nach wie vor keine regelrechte militärische Allianz anstreben. Hauptgrund dafür ist, dass keine der beiden Seiten sich in die regionalen Konflikte der jeweils anderen hineinziehen lassen möchte. In letzter Zeit lieferte Russland aber hochentwickelte Waffen an China, darunter das Flugabwehrsystem S-400 sowie Kampfflugzeuge des Typs Su-35.
Mit den Einnahmen aus den Waffenverkäufen an China finanziert Russland militärische Forschung und Entwicklung und baut damit seine waffentechnische Stärke aus. Vor allem aber führen die wachsenden militärischen Fähigkeiten Chinas, auch dank modernen Waffen aus Russland, zu einer Verlagerung der amerikanischen Aufmerksamkeit und seiner Militärressourcen auf die Region Asien-Pazifik. Dies beeinträchtigt die amerikanischen Bemühungen zur Gewährleistung der Sicherheit in Europa.
Der ehemalige General Ben Hodges, von 2014 bis 2017 Kommandant der amerikanischen Streitkräfte in Europa, warnte schon 2018 davor, dass die USA innerhalb der nächsten fünfzehn Jahre in einen Krieg mit China geraten könnten. Daher sei ein starker europäischer Pfeiler innerhalb der Nato bedeutsam für die Sicherheit des alten Kontinents. „Die Vereinigten Staaten haben nicht die Kapazität, alles zu tun, was sie in Europa und im Pazifik tun müssten, um der chinesischen Bedrohung Herr zu werden“, erklärte er.
Die USA brauchen Europa
Den USA und ihren europäischen Verbündeten stehen für den Umgang mit diesen geopolitischen Gegebenheiten unterschiedliche Optionen zur Verfügung. Einige Beobachter sprechen sich für eine Verbesserung der amerikanisch-russischen Beziehungen aus, um zu verhindern, dass Moskaus Verbindung zu China zu eng wird. Sie argumentieren, dass die USA Russland auf lange Sicht sogar in eine Koalition gegen China einbinden könnten. Viele von ihnen sind der Ansicht, die USA sollten ihre Truppen aus Europa abziehen, sich auf Asien konzentrieren und es Europa überlassen, sich um seine eigene Sicherheit zu kümmern.
In der Tat sollten westliche Entscheidungsträger nach Möglichkeiten suchen, das Ausmaß der chinesisch-russischen Partnerschaft einzudämmen. In naher Zukunft erscheint dies indes wenig erfolgversprechend. Denn sowohl Russland als auch China legen großen Wert auf ihre Partnerschaft und dürften kaum bereit sein, sie preiszugeben. Unter diesen Umständen halten die USA daran fest, sich einer von China oder Russland ausgehenden Aggression zu widersetzen. Dieser Ansatz hängt aber stark von der Zusammenarbeit mit den amerikanischen Bündnispartnern ab.
Präsident Biden hat eine enge Kooperation mit seinen Partnern zugesagt und signalisiert, dass er auf eine Konfrontation mit China und Russland in verschiedenen Fragen vorbereitet ist. Seine Regierung bekennt sich wieder in aller Entschiedenheit zur Nato und möchte Europa für die amerikanische Politik gegenüber China gewinnen. Die Verbündeten in Europa begrüßen das erneuerte Bekenntnis Washingtons zu den transatlantischen Beziehungen. Eine gemeinsame Vorgehensweise in Bezug auf China und Russland ist jedoch nicht einfach.
Wie die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel unlängst ausführte, verfolgen Amerika und seine europäischen Partner nicht immer die gleichen Interessen. Deutschland sträubt sich gegen Bidens Vorstellung eines Wettkampfs gegen die autoritären Mächte China und Russland, in den westliche Demokratien eingespannt werden sollen. Die deutsche Unterstützung des umfassenden EU-Investitionsabkommens mit China sowie der Pipeline Nord Stream 2 aus Russland demonstriert den Wunsch Berlins nach einer Trennung von wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Zielen.
Zudem erschweren die jüngsten Debatten um eine strategische Autonomie Europas den transatlantischen Dialog. Aus Sicht des französischen Präsidenten Emmanuel Macron kann sich Europa nicht länger darauf verlassen, dass die USA ihre Nato-Partner verteidigen, unter anderem, weil sich ihr Fokus unweigerlich auf China verlagern wird. Deshalb fordert er den Aufbau einer unabhängigen Armee. Bis jetzt wurden hierbei jedoch kaum Fortschritte erzielt. Die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hält die strategische Autonomie Europas für eine Illusion, da Europa in absehbarer Zukunft von der amerikanischen Sicherheitsgarantie abhängig bleiben werde, insbesondere vom Schutz durch die atomare Abschreckung.
Der Aufstieg Chinas wird die Vereinigten Staaten zwingen, in den kommenden Jahren den Fokus auf Asien zu richten. Die USA werden weiterhin zur Nato stehen, aber die europäischen Länder könnten einen wichtigen Beitrag zur transatlantischen Partnerschaft leisten, indem sie ihre Verteidigungsausgaben aufstocken und sich innerhalb der Nato stärker an der Gewährleistung der Sicherheit Europas beteiligen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 23.05.2021 in der Neue Zürcher Zeitung erschienen.