Ukraine

Ukraine: Ein gefährlicher Verbündeter?

Worum es beim Streit über angeblichen Autoritarismus und Ultranationalismus in der Ukraine geht

Ukraine Kiew 2014 Maidan Rechtsextreme
Haben heute keinen Einfluss mehr auf die ukrainische Politik: Rechtsextreme "Aktivisten" am 28. März 2014 in Kiew.

Am 30. Mai 2021 veröffentlichte Ted Galen Carpenter vom rechtslibertären Cato-Institut Washington auf der Webseite von The National Interest einen Artikel mit dem Titel „Ukraine’s Accelerating Slide into Authoritarianism“ (Das Abdriften der Ukraine in den Autoritarismus). Darin zeichnete der Autor ein düsteres Bild der ukrainischen Politik, die angeblich von antidemokratischen und ultranationalistischen Tendenzen geprägt sei. Diese vermeintlichen Merkmale der heutigen Ukraine, so argumentierte Carpenter, machen diesen postsowjetischen Staat untauglich für die Unterstützung der USA. Warum der Mitarbeiter des Cato-Instituts, der weder erkennbares Interesse an der Ukraine zu haben scheint noch je Forschung über sie veröffentlicht hat, derart kategorische Urteile über dieses Land abgibt, bleibt ein Rätsel.

Carpenters Einschätzung der jüngsten Geschichte der Ukraine und seine Forderung nach einem Ende der Unterstützung Washingtons für Kiew löste Reaktionen inner- und außerhalb der USA aus. Die erste kam aus Moskau, obwohl Russland in Carpenters Text nur en passant erwähnt wurde. Einen Tag, nachdem der Text in den Vereinigten Staaten erschienen war, veröffentlichte die einflussreiche russische staatliche Online-Ressource inoSMI (Ausländische Massenmedien) am 31. Mai 2021 eine russische Übersetzung von Carpenters Artikel.

Der inoSMI-Redakteur stellte Carpenters Artikel vor: „US-Beamte lieben es, die Ukraine als ‚eine mutige Demokratie, die sich der Bedrohung durch die Aggression eines autoritären Russlands widersetzt‘, darzustellen. Aber das idealisierte Bild, das von Washington geschaffen wurde, hat nie wirklich mit der dunkleren Realität übereingestimmt, und die Kluft zur Ukraine, die zunehmend in Richtung Autoritarismus abgleitet, ist jetzt zu einem echten Abgrund geworden, stellt der Artikel fest.“

Im Juni 2021 entwickelte sich eine interaktive Debatte über Carpenters Attacke auf die Ukraine. Auf den Seiten von The National Interest wurde eine Antwort auf Carpenters ersten Artikel von Doug Klain vom Atlantic Council veröffentlicht. Etwas später veröffentlichte ich im Ukraine Alert des Atlantic Council eine zweite Gegendarstellung zu Carpenter. In der Ukraine wurde der Text wenig später ins Russische und Ukrainische übersetzt sowie von der Kiewer Website Gazeta.ua wiederveröffentlicht. Weitere Antworten auf Carpenter erschienen auf der Kiewer Ressource Khvylia (Welle) in russischer Sprache und auf der Website des Berliner Zentrums Liberale Moderne Ukraine verstehen in deutscher Sprache.

Am 28. Juni 2021 antwortete Carpenter auf Klains und meine Kritik an seinem ersten Text mit einem zweiten Artikel mit dem Titel „Why Ukraine Is a Dangerous and Unworthy Ally“ (Warum die Ukraine ein gefährlicher und unwürdiger Verbündeter ist), der wiederum in der Webversion von The National Interest erschien und anschließend auf der Website des Cato-Instituts  wiederveröffentlicht wurde.

Während keine der Antworten auf Carpenter in Russland erschien, wurde seine Widerlegung wieder innerhalb eines Tages von der Kreml-kontrollierten inoSMI-Website übersetzt. Carpenters neuer Artikel wurde am 29. Juni 2021 erneut auf Russisch veröffentlicht und von einem inoSMI-Redakteur eingeleitet: „Im Mai [2021] nahm sich ein Autor von The National Interest die Freiheit, das Selenski-Regime für seine autoritären Tendenzen zu kritisieren. Daraufhin kritisierten der deutsche ‚Ukrainist‘ Andreas Umland und ähnliche ‚Maidanisten‘ [ein Begriff, der sich auf den Kyjiwer Unabhängigkeitsplatz bezieht] Carpenter so sehr, dass er beschloss, es ihnen in diesem Artikel heimzuzahlen. Man kann nicht schweigen: Vorwürfe der ‚russischen Desinformation‘ erinnern an McCarthyismus. Die Verteidiger des Kiewer Regimes haben eine mächtige Lobbyorganisation hinter sich, den Atlantic Council.“

Ebenfalls am 29. Juni 2021 veröffentlichte eine Reihe weiterer russischsprachiger Medien wohlwollende Rezensionen von Carpenters Artikel, zum Beispiel die große Tageszeitung Iswestija (Nachrichten) sowie die populären Internetressourcen Lenta.ru und Gazeta.ru. Neben anderen vom Kreml kontrollierten Quellen wurde auf der Website des Krim-Fernsehsenders Pervyi sevastopol'skii („Sewastopols Erster Kanal“) nicht nur kurz Carpenters Artikel vom Juni besprochen. Die Krimer Webseite hatte bereits zuvor seinen ersten Angriff auf die Ukraine vom Mai 2021 in The National Interest vorgestellt.

Neben anderen russischsprachigen Videoquellen veröffentlichten die Youtube-Kanäle „Oleg Kalugin“ und „Kognitive Dissonanz“ russische Audiorezensionen von Carpenter unter den Titeln "„On Ukraine's Lobbyists in the US“ (29. Juni 2021) und „Senior Research Fellow of the Cato Institute [...] Ted Carpenter on Ukraine…“ (1. Juli 2021). Carpenters Artikel über die Ukraine wurden von zahlreichen russischen elektronischen Medien vorgestellt, darunter von Yandex.ru, RIA.ru, MK.ru, Sputniknews.ru, Regnum.ru, News.ru, Tsargrad.TV, KP.ru, PolitRos.com, Life.ru, Argumenti.ru, Actualcomment.ru, RUnews24.ru, PolitExpert.net, Versia.ru, Ridus.ru, 360TV.ru, Riasev.com, Inforeactor.ru, Glas.ru, Riafan.ru, Newinform.com, SMI2.ru, Iarex.ru, TopCor.ru, InfoRuss.info, Profinews.ru, Rusevik.ru, Alternatio.org, News2.ru, News22.ru, und andere.

In englischer Sprache wurde die Debatte um die Ukraine am 28. Juni 2021 von Jon Lerner vom Hudson Institute in The National Interest besprochen. Die englischen Versionen der russischen Websites TopWar.ru und Oreanda.ru veröffentlichten kurze Rezensionen von Carpenters Argumenten unter den Titeln „Strategically, Ukraine is a ‚trap‘ for the United States“ („Strategisch ist die Ukraine eine Falle für die Vereinigten Staaten“)  und „American Political Scientist Called Ukraine a Dangerous and Unworthy Ally“ („Amerikanischer Politikwissenschaftler nennt die Ukraine einen gefährlichen und unwerten Verbündeten“). Oreanda.ru bemerkte, dass in der Ukraine „ein Putsch im Jahr 2014 mit Hilfe von ultranationalistischen und neonazistischen Gruppen durchgeführt wurde. Carpenter stellte fest, dass diese Organisationen mit ihren ‚hässlichen Werten‘ weiterhin die Politik in Kiew beeinflussen. Befürworter eines Bündnisses mit der Ukraine versuchen, diese Tatsachen nicht zu bemerken, heißt es in dem Artikel. Der Autor des Materials bemerkte die beklagenswerte Situation mit Menschenrechten und Freiheiten in diesem Land.“

Die ukrainischen Nachrichtenagenturen UAzmi.org und UAinfo.org zitierten am 1. Juli 2021 einen ironischen Kommentar des prominenten Odessaer Bloggers Oleksandr Kovalenko, der am 30. Juni 2021 über Carpenters Text im The National Interest geschrieben hatte: „Interessanterweise benutzte er als Argumente, was wir seit 2014 regelmäßig von russischen Propagandisten hören, nämlich dass in der Ukraine Neonazismus grassiert, Rechte und Freiheiten der Bürger mit Füßen getreten werden, es in der Ukraine keine Redefreiheit gibt, wilde Affen und Krokodile in der Ukraine sind... In der Tat, die ganze Palette von Kreml-Fälschungen über die Ukraine ist aus dem Mund eines amerikanischen Experten auf den Seiten einer angesehenen und einflussreichen Publikation inmitten der internationalen Marineübung SeaBreeze-2021 zu hören.“ Die führende englischsprachige Zeitung der Ukraine, Kyiv Post, erklärte Carpenter am 2. Juli 2021 – mit Verweis auf seine Artikel in The National Interest – zum „Feind der Woche“ der Ukraine.

Die unterschiedlichen Reaktionen in Russland, den USA, der Ukraine und anderswo illustrieren das Grundproblem von Carpenters Argumenten. Was an seinen Aussagen zur Ukraine auffällt, ist weniger ihr kritischer Ton. Vielmehr überrascht, dass Carpenter gerade jene umstrittenen politischen Themen anspricht, die auch in Russlands staatlich kontrollierten Massenmedien in den vergangenen sieben Jahren, wenn nicht schon vorher, beliebt waren und sind.

Es gibt gute Gründe, zum Beispiel den dysfunktionalen Präsidentialismus der Ukraine, ihr unterentwickelte Parteiensystem oder die unvollständige Zusammenarbeit Kiews mit dem Internationalen Strafgerichtshof zu kritisieren (ein Problem, das auf den Seiten von The National Interest behandelt wurde). Doch dies sind weder prominente Themen in der russischen Propaganda noch werden sie von Carpenter aufgegriffen.

Der Kreml spricht selten über solche und ähnliche Herausforderungen der Ukraine, da sie oft auch auf Russland zutreffen. Carpenter, so vermutet man, erwähnt diese und ähnliche Themen nicht, weil er kein Ukrainisch liest. Nach dem Inhalt seiner beiden Artikel zu urteilen, hat er vielleicht nicht einmal die frei verfügbare englischsprachige wissenschaftliche Literatur über die Ukraine nach dem Euromaidan gelesen.

Vielmehr stellt der Mitarbeiter des Cato-Instituts weitreichende Behauptungen über ein angebliches Vorherrschen von Ultranationalismus und ein vermeintliches Abgleiten in den Autoritarismus in der heutigen Ukraine auf – Behauptungen, die auch in den russischen Staatsmedien und von kremlnahen Personen des öffentlichen Lebens seit vielen Jahren täglich verbreitet werden. Kein Wunder, dass vom Kreml gesteuerte Zeitungen, Fernsehsender und Websites Carpenters Artikel in The National Interest eifrig zitiert und rezensiert haben.

Hier kommt ein hochrangiger amerikanischer Kommentator, der bei einem führenden Washingtoner Think-Tank arbeitet, in einem der einflussreichsten politischen Magazine der USA publiziert und genau jene Argumente wiederholt, die der Kreml seit sieben Jahren verbreitet, um seinen hybriden Krieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Damit nicht genug, verwendet Carpenter die Lieblingsnarrative des Kremls, um unumwunden ein Ende der US-Unterstützung für die Ukraine zu fordern. Was könnte Moskau sich mehr erhoffen?

Wie stark sind die Ultranationalisten wirklich?

Das Beharren Carpenters auf einer großen Rolle von Ultranationalismus in der Ukraine auch in seinem zweiten Artikel ist absurd. Im Gegensatz zu verschiedenen anderen europäischen Parlamenten, die nach dem Verhältniswahlsystem gewählt werden, gibt es in der ukrainischen Werchowna Rada (Oberster Rat) seit Ende 2014 keine rechtsextreme Fraktion mehr. Die Rada hatte eine solche Fraktion nur für zwei Jahre seit 2012.

Im Jahr 2019 ging die ukrainische extreme Rechte – zum ersten Mal in ihrer Geschichte und im Gegensatz zu vielen anderen Nationalisten auf der Welt – mit einer Einheitsliste in die Parlamentswahlen. Trotz dieser seltenen Harmonie erhielt die Liste der rechten Freiheitspartei, die auch Vertreter der beiden anderen relevanten ultranationalistischen Gruppen, des Rechten Sektors und Nationalen Korps, einschloss, 2,15 Prozent – ein Ergebnis, das in etwa dem entspricht oder sogar darunter liegt, was viele einzelne rechtsextreme Parteien in europäischen Ländern bei nationalen Wahlen erhalten.

Bei den Präsidentschaftswahlen 2019 erhielt der Präsidentschaftskandidat der vereinigten extremen Rechten 1,62 Prozent. Wer europäische Wahlen der letzten Jahre verfolgt hat, wird feststellen, dass radikale Nationalisten in einer Reihe von NATO-Mitgliedsländern, darunter auch einige ältere Demokratien, eine größere oder deutlich größere Unterstützung erhalten als die ukrainische vereinigte extreme Rechte.

Was die Unterstützung von Ultranationalismus angeht, war die Ukraine während ihrer gesamten postsowjetischen Geschichte in der Tat – wie Carpenter andeutet – außergewöhnlich. Sie zeichnete sich jedoch nicht durch die parteipolitische Stärke, sondern durch die elektorale Schwäche der extremen Rechten aus. Das zeigen die Ergebnisse verschiedener rechtsextremer Präsidentschaftskandidaten und Wahlbündnisse seit der Einführung des Verhältniswahlrechts 1998 zeigen (siehe Tabelle ganz unten). Die einzige Periode, in der die extreme Rechte in der Lage war, nennenswerte landesweite Unterstützung zu gewinnen (10,44 Prozent), war während der berüchtigten Präsidentschaft Wiktor Janukowitschs in den Jahren 2010 – 2014. Janukowitsch löste mit seiner prorussischen Politik eine nationalistische Mobilisierung aus und förderte die extreme Rechte der Ukraine als bequemen Sparringspartner bei Wahlen.

Ultranationalistische Minister im Jahr 2014

Im Jahr 2014 bestand freilich unter vielen Antifaschisten Europas eine panikähnliche Stimmung in Bezug auf die extreme Rechte in der Ukraine. Die ukrainischen Ultranationalisten hatten immer noch ihre Fraktion im Parlament, waren während der Euromaidan-Revolution unübersehbar und traten in der ersten Post-Euromaidan-Regierung für mehrere Monate mit vier Ministern an. Vor allem die russische Propagandamaschine und ihre verschiedenen westlichen Ableger hämmerten der Weltöffentlichkeit die Idee ein, dass der frühere Präsident Janukowitsch durch einen faschistischen Putsch in Kiew aus seinem Amt entfernt worden sei (während Janukowitsch in Wirklichkeit Kiew erst verließ, nachdem die Gewalt bereits beendet war, und offiziell von demselben Parlament abgesetzt wurde, das ihn zuvor unterstützt hatte).

Sicherlich glaubten und glauben nur wenige nichtrussische Beobachter die ukrainische Horrorgeschichte des Kremls in vollem Umfang. Dennoch war ein weit verbreiteter Ansatz unter westlichen Politikern und Kommentatoren seither, dass es ja kaum Rauch ohne Feuer geben kann; wenn Russland so besorgt ist, müssen die ukrainischen Ultranationalisten wohl ein relevantes Problem sein.

Die wenigen akademischen Experten, die die ukrainische extreme Rechte erforscht hatten, bevor sie zu einem populären Thema wurde, und sie aus einer komparatistischen Perspektive untersuchten, warnten jedoch bereits 2014, dass der Medienhype um dieses Thema unangebracht sei. Der russische Historiker Viacheslav Likhachev (Zmina Human Rights Center, Kiew), der ukrainische Politikwissenschaftler Anton Shekhovtsov (Center for Democratic Integrity, Wien) und die amerikanische Soziologin Alina Polyakova (Center for European Policy Analysis, Washington, DC) hatten die ukrainischen Nationalisten bereits vor Beginn des Euromaidans 2013 und verschiedene nicht-ukrainische Ausprägungen von Rechtsextremismus in Europa und Nordamerika erforscht. Aus ihrer historischen und vergleichenden Sichtweise heraus warnten sie und andere früh, dass Alarmismus bezüglich der Ukraine unangebracht ist. Sie sprachen sich gegen eine aufkommende westliche Mainstream-Meinung aus, der ukrainischen Ultranationalismus sei ein großes Problem.

Einige dieser Forscher sagten schon 2014 ausdrücklich voraus, dass die Aussichten der ukrainischen extremen Rechten begrenzt sind. Und in der Tat haben die ukrainischen Ultranationalisten sich seither neuerlich nur als eine tertiäre nationale politische Kraft erwiesen, wie das schon vor ihrem einzigen nennenswerten Wahlerfolg von 2012 der Fall gewesen war. Heute ist der innenpolitische Einfluss der ukrainischen Rechtsextremisten geringer als in vielen reicheren und sichereren Ländern Europas.

Selbst die öffentlichkeitswirksame Beteiligung vieler radikaler Nationalisten an der ukrainischen Landesverteidigung gegen den hybriden Angriff Russlands seit 2014 hat sich nicht sonderlich auf ihre Wahlerfolge ausgewirkt. 2019 gewann Wolodymyr Selenski mit seinem offen jüdischen Familienhintergrund bei den ukrainischen Präsidentschaftswahlen gegen einen moderat nationalistischen Amtsinhaber mit einem Ergebnis von 73 Prozent.

Ukraine hat den Demokratietest bestanden

Dies führt zum zweiten Hauptpunkt in Carpenters unglücklichen Darstellungen der Ukraine – angebliche autoritäre Tendenzen, welche die Ukraine für US-Unterstützung disqualifizieren würden. Auch hier ist Carpenters Argumentation bizarr. Die Ukraine war in der Tat eine Ausnahme im postsowjetischen Kontext, jedoch im gegenteiligen Sinne als es im The National Interest dargestellt ist.

Früh in ihrer postsowjetischen Geschichte bestand die Ukraine nach ihrer Entstehung als unabhängiger Staat im Jahr 1991 einen der entscheidenden Tests, die Politikwissenschaftler verwenden, um das demokratische Potenzial einer Nation zu einzuschätzen: Ist eine Wählerschaft in der Lage, den obersten Beamten und mächtigsten Politiker ihres Landes per Volksabstimmung abzusetzen?

Im Jahr 1994 setzten die Ukrainer ihren amtierenden Regenten per Präsidentschaftswahl ab. Infolgedessen wurde der erste Präsident der Ukraine, Leonid Krawtschuk (1991 – 1994), durch das zweite Staatsoberhaupt, Leonid Kutschma (1994 – 2005), ersetzt.

Die viel ältere und reichere Bundesrepublik Deutschland bestand diesen speziellen Demokratietest erst vier Jahre nach der Ukraine. 1998 setzten die Deutschen zum ersten Mal einen amtierenden Bundeskanzler, Helmut Kohl (1982 – 1998), durch Parlamentswahlen ab, welche die SPD gewonnen hatte. Der damalige Vorsitzende der Sozialdemokraten (und heutige Mitarbeiter des russischen Staats) Gerhard Schröder wurde neuer Regierungschef, bis auch er 2005 infolge von Wahlen gehen musste. (Zwar hatte es 1969 die Ablösung des damaligen Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger durch den SPD-Mann Willi Brandt gegeben. Dies war jedoch das Ergebnis eines Wechsels der Regierungskoalition und nicht der damaligen Bundestagswahl, die Kiesingers CDU/CSU eigentlich gewonnen hatte.)

Auch bei den Präsidentschaftswahlen 2010 und 2019 warfen die ukrainischen Wähler ihre amtierenden Staatsoberhäupter aus dem Amt – mit peinlichen Ergebnissen für die beiden gemäßigt nationalistischen Amtsinhaber. Die beiden damaligen Präsidenten Wiktor Juschtschenko und Petro Poroschenko wollten in jenen Jahren klar eine zweite Amtszeit im höchsten politischen Amt der Ukraine. Doch wurden Juschtschenko und Poroschenko spektakulär von Oppositionskandidaten geschlagen und traten nach ihren vernichtenden Niederlagen ordnungsgemäß zurück.

In den letzten dreißig Jahren hat die Ukraine Dutzende kompetitive Runden von Präsidentschafts-, Parlaments- und Kommunalwahlen durchlaufen, von denen die meisten grundlegende demokratische Standards erfüllten. Diese Erfahrung steht in scharfem Kontrast zu fast allen anderen postsowjetischen Staaten, die bei der Gründung der UdSSR im Jahr 1922 bereits Teil der Union waren.

Das Besondere an der Ukraine, als Nachfolgestaat der ursprünglichen Sowjetunion, ist das Gegenteil von dem, was Carpenter behauptet: Es ist nicht der relative Autoritarismus, sondern der relative Demokratismus der Ukraine, der bemerkenswert ist und der diesen Staat für den gesamten Westen (und nicht nur für die USA) unterstützenswerter macht als andere Gründungsrepubliken der UdSSR.

Die Rolle der USA in der Ukraine

Carpenters Verwirrung über diese Fragen wird besonders in seinem zweiten TNI-Artikel und seiner dortigen Antwort an Klain und mich vom 28. Juni 2021 sichtbar. Er vergleicht verschiedene postsowjetische Staaten und kommt zu einer seltsamen Schlussfolgerung:

„Umland betont, dass andere Länder, die aus der ehemaligen Sowjetunion hervorgegangen sind, deutlich autokratischer sind als die Ukraine, und stellt fest, dass [in einem kürzlich veröffentlichten Demokratie-Ranking von Freedom House, in dem die Ukraine 60 von 100 Punkten erhalten hatte] Russland eine Bewertung von zwanzig Punkten erhielt und Weißrussland elf Punkte [von 100 möglichen ‚Global Freedom Scores‘]. Er hätte hinzufügen können, dass Kasachstan mit dreiundzwanzig Punkten in der gleichen trostlosen Kategorie lag. Aber niemand erwartet von den Vereinigten Staaten, dass sie solche Länder militärisch verteidigen oder sie als lebendige Demokratien preisen. Umland, Klain und andere Fans von Kiew erwarten von Washington, dass sie beides tun.“

Das ist jedoch genau der Punkt: Hätten Russland, Weißrussland und Kasachstan in der zitierten Freedom-House-Tabelle die gleichen Global Freedom Scores wie die Ukraine, sollten sie vom Westen ähnlich wie die Ukraine behandelt werden. Würden sie, wie die Ukraine in der Terminologie von Freedom House, „teilweise frei“ und nicht schlicht „unfrei“ sein, wären die drei Länder westliche Unterstützung wert – einschließlich der Unterstützung durch die Vereinigten Staaten (die übrigens 83 Punkte in diesem Ranking erhielten).

Das Überraschendste an Carpenters zwei Artikeln zur Ukraine in The National Interest ist jedoch nicht das, worüber er schreibt, sondern das herausragende Sicherheitsthema, über das er kontinuierlich schweigt. Gemeint ist hier das im engeren Sinne nationale Interesse der USA am Schicksal der Ukraine als ehemalige Atommacht und heutiger Nicht-Nuklearwaffenstaat.

Wie in meiner ersten Antwort auf den Anfangstext des Cato-Institut-Mitarbeiters im Juni 2021 angedeutet, spielten die USA eine wichtige Rolle bei der atomaren Abrüstung der Ukraine in den frühen 1990er-Jahren. Gemeinsam mit Moskau setzte Washington Kiew damals unter Druck, nicht nur den Großteil seines damals riesigen Arsenals an Massenvernichtungswaffen aufzugeben, das die Ukraine bei Erlangung ihrer Unabhängigkeit 1991 von der UdSSR geerbt hatte. Russland und die USA sorgten dafür, dass der Ukraine alle strategischen und taktischen Kernsprengköpfe entzogen wurden. Heute erscheinen die konzertierten Bemühungen Moskaus und Washingtons vor einem Vierteljahrhundert wie direkte Vorbereitungen für Russlands Annexion der Krim und den Beginn eines verdeckten Kriegs in der Ostukraine im Jahr 2014.

Die Nichtverbreitung von Atomwaffen

Das einzige relevante Zugeständnis, das Washington in den neunziger Jahren an Kiew machte, war, dass der Beitritt der Ukraine zum Atomwaffensperrvertrag (NPT) als Nichtkernwaffenstaat durch das – inzwischen berüchtigte – Budapester Memorandum über Sicherheitsgarantien von 1994 ergänzt wurde, das von der Ukraine, Russland, den Vereinigten Staaten und Großbritannien unterschrieben wurde. Letzteres Land zeichnete dieses schicksalhafte Dokument, obwohl London nicht an den vorhergehenden trilateralen Verhandlungen über die nukleare Abrüstung der Ukraine mit den USA und Russland teilgenommen hatte.

London unterstützte dieses Abkommen jedoch mit seiner offiziellen Unterschrift, da Großbritannien 1968 zusammen mit den USA und der UdSSR zu den drei Gründerstaaten des weltweiten Nichtverbreitungsregimes gehörte und seitdem Depositarstaat des NVV ist. Auf einem KSZE-Gipfel in Budapest im Dezember 1994 versicherten Washington, Moskau und London im Zusammenhang mit Kiews Unterzeichnung des NVV, dass sie die ukrainische Souveränität, Integrität und Grenzen respektieren würden.

Mit seinem Angriff auf die Ukraine seit 2014 und insbesondere mit seiner offenen Annexion der Krim (sowie auch mit einigen früheren und anderen Aktionen) untergräbt Russland nun schon seit Jahren die Logik des Nichtverbreitungsregimes. Es ist nicht mehr klar, dass Länder, die darauf verzichten, Atomwaffen zu besitzen, zu bauen oder zu erwerben, sicher sind und vor allem vor Ländern geschützt sind, die Atomwaffen bauen dürfen. Russlands im NVV offiziell erlaubter Besitz von Atomwaffen verschaffte ihm nicht nur einen entscheidenden militärischen Vorteil gegenüber der Ukraine. Er war auch der Hauptgrund dafür, dass der Westen – anders als in Jugoslawien, im Irak, in Afghanistan oder in Libyen – nicht militärisch in den russisch-ukrainischen Krieg eingegriffen hat.

Der Zwischenfall mit der „Defender“

Ein Zwischenfall mit einem britischen Kriegsschiff in der Nähe des Hafens von Sewastopol im Schwarzen Meer im Juni 2021 hatte damit im Zusammenhang eine mehr als symbolische Bedeutung. Der britische Zerstörer „Defender“ fuhr auf einer Reise von Odessa nach Batumi an der Krim vorbei, ohne einen Umweg zu machen, um die von Russland beanspruchten ukrainischen Schwarzmeergewässer vor der Halbinsel zu umgehen. Dieses Verhalten Großbritanniens war eine besondere Form von Validierung des Budapester Memorandums von 1994 und des Atomwaffensperrvertrags von 1968. Nachdem die „Defender“ die Erlaubnis Kiews erhalten hatte, ukrainische Gewässer zu passieren, verteidigte sie mit ihrem Kurs nicht nur das allgemeine Völkerrecht, indem sie den kürzesten Weg von den Ufern des südlichen ukrainischen Festlands zu ihrem Ziel an der georgischen Schwarzmeerküste nahm. Das britische Schiff folgte auch der Logik des Nichtverbreitungsregimes, das auf der Prämisse aufbaut, dass die Grenzen von Nichtkernwaffenstaaten genauso respektiert werden wie die der offiziellen Kernwaffenstaaten des NVV.

Mit seiner expliziten Forderung, die US-Unterstützung für die Ukraine zu beenden, setzt sich Carpenter nicht nur einen amerikanischen Verrat an einem Leuchtturm der Demokratie im postsowjetischen Raum ein. Er schlägt auch vor, die normativen und psychologischen Grundlagen des Nichtverbreitungsregimes der Menschheit unter den Teppich zu kehren. Wenn – nach Russland als Rechtsnachfolgerin der UdSSR – ein zweites Gründungsland des Atomwaffensperrvertrags von 1968 der Welt signalisieren würde, dass die territoriale Integrität und politische Souveränität der Ukraine von untergeordneter Bedeutung ist, hätte dies weitreichende Folgen für die internationale Ordnung. Dies gilt umso mehr, als Kiew Anfang der Neunziger kurzzeitig ein Atomwaffenarsenal besaß, das deutlich größer war als die entsprechenden Bestände der offiziellen Kernwaffenstaaten Großbritannien, Frankreich und China zusammengenommen.

Der offensichtliche Verstoß des Kremls gegen die Logik des Nichtverbreitungsregimes seit 2014 kann als eine vorübergehende und singuläre Abweichung eines Garanten des NVV von einer zentralen internationalen Norm gesehen werden. Ein, wie es Carpenter vorschlägt, Rückzug der USA von der Unterstützung des ukrainischen Staats würde jedoch ein Muster im Verhalten der Gründer des Nichtverbreitungsregimes herstellen. Solch ein Schritt könnte politischen Führungsfiguren in aller Welt signalisieren, dass das Völkerrecht im Allgemeinen und der NVV im Besonderen keinen Schutz für Nichtkernwaffenstaaten bietet.

Verlässliche nationale Sicherheit kann nur durch den Bau oder Erwerb von Massenvernichtungswaffen erreicht werden. Als ultimatives Abschreckungsinstrument können Kernsprengköpfe zudem eine Rolle spielen, wenn sich ein Staat – wie Russland 2014 – entscheidet, ein benachbartes Territorium zu annektieren, und Dritte davon abschrecken will, sich einzumischen.

Dass Carpenter diese Themen in seinen beiden Artikeln in The National Interest nicht einmal erwähnt, ist bemerkenswert. Insofern Carpenter sich in seinen Artikeln als besorgt um nationale Interessen der USA darstellt, sollte man meinen, dass die Verhinderung nuklearer Proliferation auf seiner Agenda steht. Doch Carpenter ignoriert dieses Thema auch in seinem zweiten Artikel – nachdem es in den ersten Antworten auf seinen ursprünglichen Ukraineartikel vom Mai 2021 explizit erwähnt worden war.

Tatsächlich findet die Diskussion über die schwerwiegenden Auswirkungen von Moskaus Verletzung des Budapester Atomdeals von 1994 und die daraus resultierenden Implikationen für die US-Außenpolitik bereits seit mehr als sieben Jahren statt. Die Debatte wird nicht zuletzt auf den Websites verschiedener Washingtoner Institutionen ausgetragen – vom Wilson Center for International Scholars bis hin zur ältesten US-Zeitschrift ihrer Art, die 1837 gegründeten World Affairs. Man hätte erwarten können, dass der Fellow des Cato-Instituts die zahlreichen US-Publikationen zu diesem Thema zur Kenntnis genommen hat und in seinen Überlegungen berücksichtigt.

 

TABELLE: Stimmenanteile der wichtigsten ukrainischen rechtsradikalen Parteien bei den Präsidentschaftswahlen (schraffierte Zeilen) und Verhältniswahlen zum Parlament, 1998 – 2019 (in Prozent)

Partei oder Allianz Block „Nazionalnyj front“ [Nationale Front] (KUN, UKRP & URP) / URP / KUN UNA / Prawyi sektor

[Rechter Sektor]

Block „Mensche sliw“ [Weniger Worte] (VPO-DSU & SNPU) / VOS
Nationale Wahl
1998 (Parlament) 2,71 (NF) 0,39 (UNA) 0,16 (MS)
1999 (Präsident)
2002 (Parlament) 0,04 (UNA)
2004 (Präsident) 0,02 (Kosak, OUN) 0,17
(Kortschynskyj)
2006 (Parlament) 0,06 (UNA) 0,36 (WOS)
2007 (Parlament) 0,76 (WOS)
2010 (Präsident) 1.43 (Tjahnybok)
2012 (Parlament) 0,08 (UNA-UNSO) 10,44 (WOS)
2014 (Präsident) 0,70 (Jarosch)* 1.16 (Tjahnybok)
2014 (Parlament) 0,05 (KUN) 1,81 (PS) 4,71 (WOS)
2019 (Präsident) 1,62 (Koshulyns'kyy)
2019 (Parlament) 2,15 (WOS)**

* Bei den Präsidentschaftswahlen 2014 kandidierte Dmytro Jarosch formal als unabhängiger Kandidat, war aber öffentlich als Führer des Rechten Sektors (PS) bekannt.

** Die Liste der Freiheitspartei 2019 war ein einheitlicher Block der meisten relevanten ukrainischen rechtsextremen Parteien, wurde aber offiziell nur als WOS-Liste registriert.

Abkürzungen: KUN: Konhres ukrajinskych nazionalistiw (Kongress der Ukrainischen Nationalisten); UKRP: Ukrajinska konserwatywna respublikanska partija (Ukrainische Konservative Republikanische Partei); URP: Ukrajinska respublikanska partija (Ukrainische Republikanische Partei); WPO-DSU: Wseukrajinske politytschne objednannja "Derschawna samostijnist Ukrajiny" (Allukrainische Politische Union "Staatliche Unabhängigkeit der Ukraine"); SNPU: Sozial-nazionalna partija Ukrajiny (Sozial-Nationale Partei der Ukraine); OUN: Orhanisazija ukrajinskych nazionalistiw (Organisation der Ukrainischen Nationalisten); UNA: Ukrajinska nazionalna asambleja (Ukrainische Nationalversammlung); UNSO: Ukrajinska narodna samooborona (Ukrainische Nationale Selbstverteidigung); WOS: Wseukrajinske objednannja "Swoboda" (Allukrainische Union „Freiheit“).

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