Nawalnys Stoß auf das Herz der Macht

Sanktionen müssen politischer Natur, angemessen und Teil einer längerfristigen Strategie sein

Im Kreml hat alle Macht einen Platz: Politik, Religion, Militär, Geheimdienst

Keine Schwäche zeigen. Russlands Machthaber haben sich entschieden, einmal mehr einer scheinbar bewährten Logik zu folgen – Unnachgiebigkeit statt politischer Elastizität. Es wäre ein Leichtes gewesen, der Protestbewegung viel Schwung zu nehmen, hätte man Alexei Nawalny laufen lassen. Doch die vermeintliche Stärke offenbart Schwäche: Der Präsident sieht sich genötigt, sich gegen Vorwürfe der Bereicherung zu verteidigen, ein reich gewordener Freund aus Jugendtagen muss den Kopf hinhalten; man arbeitet sich an einem „Blogger“ ab – Nawalny –, den man zuvor belächelt und ridikülisiert hatte.

Der Mythos gebiert seinen Gegenmythos: 20 Jahre lang hat der scheinbar unbesiegbare Wladimir Putin es vermocht, in Russland keinen ernst zu nehmenden politischen Gegner zu haben. Und nun schafft er sich einen formidablen Widersacher, mag dieser auch im Gefängnis sitzen.

Das Internet besiegt den Fernseher

Nawalny war zuvor das Sprachrohr vor allem einer jüngeren Generation gewesen, die einer bleiernen Zeit müde war und die für sich keine Perspektive im heutigen Russland sah. Die Mehrzahl der Menschen hatte deren Proteste eher skeptisch betrachtet und mag sich gesagt haben: „Ja, da oben wird viel gestohlen. Aber ‚der Zar‘ ist anders.“

Doch die Macht, in geheimdienstlichem Verschwörungsdenken verfangen, machte den Gegner größer, als er war und beschloss, sich seiner zu entledigen. Nawalny überlebte und erwies sich als dem Kreml gefährlicher Machtpolitiker. Er kehrte zurück und war nicht nur bereit, zum Märtyrer zu werden, sondern setzte zum zentralen, offensichtlich wohlvorbereiteten Stoß an: auf das Herz der Macht, den Präsidenten selbst.

Mehr als 100 Millionen Menschen haben bislang die Videodokumentation gesehen, die sich bemüht, minutiös den Nachweis zu führen, dass eben auch der vermeintlich saubere Zar sich pompös bereichert. „Der Fernseher siegt über den Kühlschrank“, hat es in Russland stets geheißen: Die staatliche Propaganda gewann die Menschen für die Sache der Macht, auch wenn es ihnen nicht allzu gut ging. Damit könnte es vorbei sein, auch weil das Internet den Fernseher besiegt hat.

Die Verfolgung Nawalnys löste Proteste aus, die teils ganz andere Motive haben. Um zehn Prozent sind die Einkommen der Menschen in den vergangenen sieben Jahren zurückgegangen, während sich die Zahl der Milliardäre und Millionäre genauso vermehrt hat wie deren Vermögen.

Gefährlich sind für die Macht jene Demonstranten, die sagen: „Ich bin nicht für Nawalny, aber ich lasse mich nicht länger bestehlen“, die ihren Unmut mit der zunehmenden Repression begründen oder mit ihrer miserablen wirtschaftlichen Lage. Ob die Menschen ihre Proteste fortsetzen, wird davon abhängen, wie groß der Leidensdruck ist, und ob sie es wagen, ihre Angst vor der Repression und vor ungewisser Zeit zu überwinden. „Habt keine Angst!“ waren Nawalnys Abschiedsworte an seine Anhänger im Gericht.

Entschlossen reagieren, gesprächsbereit bleiben

Und wie soll der sogenannte Westen sich zu diesem Geschehen verhalten? Die Ordnung seiner inneren Angelegenheiten ist das souveräne Recht eines jeden Staates, und man sollte sorgfältig darauf achten, dabei Verschiedenheit zu respektieren. Russlands Weg muss von den Russen selbst entschieden werden. Zugleich hat die Völkergemeinschaft sich – in den Vereinten Nationen, der OSZE, im Europarat – verabredet, Prinzipien einzuhalten, die nicht nur das Miteinander der Staaten regeln, sondern auch Grundsätze deren innerer Verfassung. Wo hiergegen verstoßen wird, muss reagiert werden.

Im Umgang mit autoritären Regimen, die solche Regeln verletzen, sollte der Westen dreierlei tun: entschlossen und geschlossen reagieren, das Angebot zum Gespräch und alle möglichen Pfade der Kultur und der Wissenschaft, des Handels und der Begegnung aufrechterhalten, um einander nicht völlig aus den Augen zu verlieren.

Entschlossen und geschlossen zu reagieren bedeutet: als Europäer eine klare gemeinsame Sprache zu finden und bereit zu sein, zum Mittel der Sanktionen zu greifen. Diese müssen politischer Natur sein, angemessen und Teil einer längerfristigen Strategie. Als Russland 2014 die Krim annektierte, wurden Maßnahmen gegen die unmittelbar Verantwortlichen erlassen, gegen ihre Möglichkeiten, im Westen zu reisen und auf ihre teils eindrucksvollen Vermögen zuzugreifen.

Und diese Sanktionen können ohne Weiteres verschwinden, wenn ihr Grund entfällt. Sanktionen sind dann politisch, wenn sie reversibel sind, rote Linien ziehen und darauf abzielen, Verhalten zu ändern, so schwer das zu erreichen ist. (Dass dies möglich ist, hat 2016 ausgerechnet Putin bewiesen, gegenüber der Türkei, als deren Luftwaffe einen russischen Kampfjet abschoss.)

Nord Stream 2 einzustellen wäre unangemessen

Jetzt einfach eine Investitions- und Ökoruine in der Ostsee zu schaffen, indem man mal so eben den Bau der Pipeline Nord Stream 2 einstellt, ist weder politisch noch angemessen. Das wäre eine pure, maximale Strafmaßnahme.

Was unternimmt man bei der nächsten Menschenrechtsverletzung, was wurde im vergangenen Jahr getan, als eine russische Journalistin von der Macht so schikaniert wurde, dass sie sich öffentlich verbrannte? Welcher Logik folgt der wohlfeile Ruf nach Einstellung von Nord Stream 2, der nicht gleichzeitig die Schließung der Jamal-Pipeline durch Polen oder jener Pipeline verlangt, die Südosteuropa mit russischem Gas versorgen soll? Ist es akzeptabler, dasselbe russische Erdgas zu ökologisch und ökonomisch höheren Kosten zu verflüssigen und mit Tankern auf langen Seewegen zu uns zu schaffen?

Natürlich ist es richtig, grundsätzlich nichts auszuschließen – auch nicht die Kooperation in wichtigen Wirtschaftsprojekten. Was jetzt zu tun ist, hat unlängst Alexei Nawalny gesagt: gezielt die Interessen jener ins Visier nehmen, die Verantwortung tragen. Das wäre Teil einer politischen Strategie, zu der es gehören muss, die Dinge beim Namen zu nennen, die eigenen Prinzipien nicht preiszugeben und zugleich den Dialog nicht einfach einzustellen, den langen Atem zu behalten und auf den Moment vorbereitet zu sein, in dem es Russlands Interessen und der Wunsch seiner Menschen gebieten, das Verhältnis zum „Westen“ zu reparieren.

Bis dahin sollten unser Respekt und unsere Solidarität jenen Menschen gehören, die den Mut aufbringen, für bessere Verhältnisse in Russland zu sorgen – einem nicht nur für sie großartigen, wunderbaren Land.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 5. Februar 2021 in der Süddeutschen Zeitung erschienen.

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