Eine Frage der Konfliktreife
Der Krieg in der Ukraine wird mit Verhandlungen enden. Die Frage ist nur, wann
Michael Ambühl brachte als Chefunterhändler der Schweiz die bilateralen Verträge II zur Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU ins Ziel und lehrte von 2013 an Verhandlungsführung an der ETH Zürich. Wieso man auch mit Despoten wie Putin verhandeln kann, erklärt er im Gespräch mit Christina Neuhaus.
Christina Neuhaus: Sie sagten Anfang Jahr, Russland und die Ukraine seien gefangen im Chicken-Game. Sie verglichen sie mit zwei Wagen, die aufeinander zurasen. Wer bremst, steht als Verlierer da. Wer bremst zuerst?
Michael Ambühl: Das Chicken-Game ist ein Begriff aus der Spieltheorie. Wer zuerst ausweicht, hat verloren und ist das Chicken, der Angsthase. Für Russland und die Ukraine traf dieser Vergleich allerdings nur bis zum 24. Februar zu. Nachdem der Aufprall bereits stattgefunden hat, bildet das Chicken-Game die Situation jetzt nicht mehr richtig ab. Es braucht ein neues Modell zur Analyse. Wir haben eines kreiert und nennen es Salgina.
Salgina? Wie die Salginatobelbrücke im Prättigau?
Genau. Diese Brücke – übrigens ein Meisterstück Schweizer Ingenieurskunst – spannt sich einspurig über ein Tobel. Stoßen hier zwei Autos in der Mitte aufeinander, können sie nicht einfach ausweichen, denn dies würde den Fall von der 90 Meter hohen Brücke und damit den sicheren Tod bedeuten. Die beiden Fahrer können somit entweder weiter stoßen und versuchen, den anderen auf die gegenüberliegende Seite der Brücke zurückzudrängen, oder eben ausweichen und zu Tode stürzen, oder…
…sie beginnen zu verhandeln.
Ja, das wäre ein Ausweg, der nicht direkt ins Desaster führt.
Die Ukraine und Russland verhandeln aber nicht.
Der Krieg wird mit einer Verhandlung enden müssen. Die Frage ist nur, wann und unter welchen Bedingungen. Verhandelt wird erst dann, wenn beide zur Einsicht kommen, dass sie ihre Interessen am Verhandlungstisch besser wahren können als auf dem Feld. Jede Seite hofft jetzt noch, dass sie mit der Fortsetzung des Kriegs die Bedingungen für Verhandlungen verbessern kann.
Sie beginnen erst dann zu verhandeln, wenn die Verhandlungsergebnisse attraktiver sind als Kriegsgewinne?
Ja. Die Hauptfrage lautet: Wann ist die Zeit für Verhandlungen gekommen? Für William Zartman, einen amerikanischen Konfliktforscher, ist das eine Frage der Konfliktreife. Eine solche kann intern oder extern beeinflusst werden, zum Beispiel durch Sanktionen oder Militärhilfe.
Kann man mit einem zu allem entschlossenen Autokraten wie Putin überhaupt verhandeln?
Man kann sich in dieser Situation den Verhandlungspartner nicht auslesen. Die Verhandlungstheorie besagt, dass man auch mit unbeständigen Rechtsbrechern verhandelt, wenn es der Sache dient. Je weniger man der anderen Seite trauen kann, desto größer müssen die Konsequenzen bei einem allfälligen Vertragsbruch sein. Das haben die Amerikaner im Iran-Abkommen 2015 mit dem sogenannten Snap-Back-Mechanismus sicherzustellen versucht.
Übersetzt auf die Situation in der Ukraine, bedeutet das, dass die Alliierten der Ukraine Garantien geben, dass die Sanktionen im Fall einer russischen Verletzung verschärft und die Militärhilfen massiv erhöht würden. Ein Nato-Beitritt scheint zurzeit ja kaum realistisch.
Welches Land oder welche Organisation wäre geeignet, um Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland herbeizuführen?
Die geeignetste Wahl wäre die Uno, aber sie ist derzeit zu schwach dafür.
Sie haben kürzlich eine Reform der Uno vorgeschlagen. Wie sieht Ihr Vorschlag aus?
Zum einen müsste das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder abgeschafft, zum andern die Zusammensetzung des Uno-Sicherheitsrats geändert werden. Die Zusammensetzung der fünf ständigen Mitglieder stammt von 1945. Nach objektiven Kriterien müsste die Auswahl nach einer Kombination aus Bevölkerungsgröße und wirtschaftlicher Leistung oder Beitrag zur Uno erfolgen. Damit wären China, Indien und die USA wohl gesetzt. Bei den kleineren Staaten im Mittelfeld könnte es allerdings zu Verschiebungen kommen.
Zum Beispiel bei Russland.
Ja, Russland hat bloß 145 Millionen Einwohner und ein Bruttosozialprodukt, das etwa dem von Spanien entspricht.
In einem Beitrag für die Sonntagszeitung haben Sie und Ihre Mitautorin Nora Meier geschrieben: „Jemand sollte sich getrauen, die Dinge beim Namen zu nennen. Etwa ein unabhängiger Kleinstaat.“ Wieso haben Sie die Schweiz nicht direkt aufgefordert?
Es müsste ja nicht zwingend die Schweiz sein. Wichtig ist, dass es ein Staat ist, der losgelöst von den derzeitigen Interessenblöcken einen Vorstoß lancieren würde.
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Uno in Ihrem Sinn reformiert?
Eine solche Reform würde eine Änderung der Uno-Charta erfordern, die an einer sogenannten Allgemeinen Konferenz eingeleitet werden kann. Dazu braucht es zwar je eine Mehrheit in der Generalversammlung und im Sicherheitsrat, aber keine zwingende Zustimmung der Vetomächte. Erst wenn es dann um die Inkraftsetzung des neuen Charta-Textes geht, hätten die fünf ein Vetorecht. Und bevor Sie mich nun fragen, wieso wir denn eine Reform vorschlagen, die schwierig umsetzbar ist: Auch die Schweiz hat das Frauenstimmrecht oder eine AHV-Reform erst nach mehreren gescheiterten Anläufen einführen können. Der Krieg in der Ukraine könnte die Reformidee beflügeln – vorausgesetzt, eine Gruppe von aufgeklärten Staaten hat den Mut, sie voranzutreiben.
Sie sind Experte für Verhandlungsführung. Wie verhandelt man eigentlich erfolgreich?
Es gibt kein Kochbuchrezept für Verhandlungen. Es gibt zwar allgemeine Grundsätze. Ob ein qualitatives Verhandlungsmodell wie etwa die Harvard-Methode, ein quantitatives wie die Spieltheorie oder keine explizite Methode zur Anwendung kommen soll, hängt vom konkreten Fall ab. So oder so gilt: Stets braucht es gutes Beurteilungsvermögen und gesunden Menschenverstand.
Was ist das Ziel einer guten Verhandlung?
Bei Verhandlungen geht es immer darum, einen Interessenausgleich zu finden, so dass am Schluss alle besser dastehen als vor Verhandlungsbeginn. Wenn immer möglich sollten die Verhandlungen auf der Basis von fairen und objektiven Kriterien geführt werden. Das ist in der idealen Welt so. In der realen kann es jedoch sehr wohl vorkommen, dass die Seite mit der kleineren Verhandlungsmacht auch einmal eine Kröte, aber keine allzu große, schlucken muss, für die es keine wirtschaftlichen oder rechtlichen Gründe gibt, sondern nur politische.
Welche Kröte muss die Schweiz bei den Verhandlungen mit der EU schlucken, wenn irgendwann doch einmal so etwas wie ein Rahmenabkommen gelingen soll?
Grundsätzlich gilt: Der Kleinere kann nur mit der Kraft der guten Argumente verhandeln. Er muss seine Argumente gut kommunizieren und wissen, wie er seine Stärken einbringen kann. Das bedeutet auch, dass man sich nie in eine Situation bringen lassen sollte, in der man die Verhandlungen nicht mehr abbrechen kann. Vereinfachend gesagt, kann man nur dann gut verhandeln, wenn man die Gespräche auch scheitern lassen kann. Ein probates Mittel für den Kleineren besteht darin, in Optionen zu denken und bei einer Blockade neue Vorschläge einzubringen, die der anderen Seite entgegenkommen, ohne aber seine eigenen Anliegen zu opfern. Das ist natürlich leichter gesagt als getan.
Der Bundesrat hat die Verhandlungen mit der EU vor anderthalb Jahren abgebrochen. Sie als Experte sagen, das sei richtig gewesen?
Wenn die Beurteilung stimmt, dass der Entwurf in einer Volksabstimmung abgelehnt worden wäre, dann war die Entscheidung meines Erachtens richtig. Bei den Diskussionen zwischen der EU und der Schweiz geht es darum, dass die EU das bilaterale Vertragswerk, dem sie in früheren Verhandlungen zugestimmt hat, abändern will.
Das darf sie natürlich verlangen. Aber Verträge muss man im gegenseitigen Einvernehmen ändern und kann nicht bloß Forderungen stellen. Auch dann nicht, wenn man in einer stärkeren Position ist. In Verhandlungen sollte man einen fairen Interessenausgleich suchen.
In den Gesprächen setzt die EU die Schweiz aber eher unter Druck. Sie erneuerte etwa die Forschungszusammenarbeit nicht oder verweigerte der Schweiz die Börsenäquivalenz. Bei allem Verständnis für eine realpolitische Einschätzung der Verhandlungslage: Ich finde, dass das Schweizer Verhandlungsteam zu Recht nicht tel quel alles annehmen will, was die EU fordert.
Das Rahmenabkommen ist tot, aber dennoch führen Brüssel und Bern sogenannte Explorationsgespräche, in denen es wieder um die alten Fragen geht.
Meine Kollegin Daniela Scherer und ich haben vor längerer Zeit die Idee eines Interimsabkommens vorgebracht und dazu im Auftrag des EDA Anfang 2021 ein Gutachten verfasst. Das hätte Zeit gegeben, die Situation zu überdenken. Aber die Politik verwarf diese Idee.
Werden sich die Schweiz und die EU überhaupt je einigen können?
Ich glaube nach wie vor, dass die Probleme lösbar sind. Die Schweiz müsste sich aber bereit erklären, den heute geltenden EU-Rechtsbestand mit einigen wenigen Ausnahmen zu akzeptieren.
Mit welchen wenigen Ausnahmen?
Dem Lohnschutz und einer Schutzklausel gegen übermäßige Zuwanderung in die Sozialversicherung. Eine Einigung sollte möglich sein, weil diese Ausnahmen den Binnenmarkt faktisch nicht beeinträchtigen.
Und dann würde Brüssel plötzlich einlenken?
Die Schweiz müsste auch die Übernahme der staatlichen Beihilferegeln und die von der EU gewünschte Modernisierung des Freihandelsabkommens erwägen. Wenn die Schweiz zudem noch bereit wäre, den Rechtsbestand inskünftig dynamisch zu übernehmen, vorbehaltlich der erwähnten Ausnahmen, wären die EU-Forderungen in materieller Hinsicht bestens erfüllt.
Sie haben mit Ihrem Lösungsansatz die FDP und die Mitte überzeugt, nicht aber die EU. Daran wird sich kaum etwas ändern, solange die Streitfrage nicht gelöst ist.
Eine Differenz besteht tatsächlich bei der Streitbeilegung. Doch auch hier sollte eine pragmatische Lösung möglich sein. Die Schweiz akzeptiert neu das Instrument der Ausgleichsmaßnahmen, deren Verhältnismäßigkeit allenfalls ein Schiedsgericht überprüfen könnte, ohne diesem aber ein Recht zur Auslegung des EU-Besitzstands zu gewähren. Eine ähnliche Lösung hat die Schweiz bereits im Zollsicherheitsabkommen ausgehandelt.
Den institutionellen Teil des Zollsicherheitsabkommens haben Sie damals als Staatssekretär ausgehandelt. Aber nochmals: Die EU beharrt auf einer Streitschlichtung, bei der der Europäische Gerichtshof das letzte Wort hat. Was nun?
Hier würde ich hart bleiben. Bei all den materiellen Konzessionen der Schweiz bei der Übernahme von bestehendem und zukünftigem Recht ist nicht einzusehen, weshalb die EU den Drittstaat Schweiz dem Europäischen Gerichtshof unterstellen soll. Für das gute Funktionieren des Binnenmarkts hat diese Unterstellung keine praktische Bedeutung, für die Schweiz hingegen ist sie politisch heikel. Von Brüssel müsste man ein gewisses Verständnis gegenüber einem Drittstaat erwarten, zumal er ja auch nicht die gleichen Rechte wie ein Mitgliedsstaat hat.
Die Schweiz akzeptiert die dynamische Übernahme von EU-Recht, bedingt sich aber bei der Sozialversicherung und beim Lohnschutz Ausnahmen aus?
Ja. Beim Materiellen maximales Entgegenkommen, kein kleinliches Aussortieren, höchstens zwei oder drei Ausnahmen, die der EU nicht weh tun. Gleichzeitig sollten wir bei den heiklen Grundsatzfragen, die unser staatspolitisches Verständnis betreffen, strikt bleiben.
Michael Ambühl war der Chefunterhändler für die Bilateralen Abkommen II zur Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU und wurde später zum Staatssekretär ernannt. Von 2013 an war er an der ETH ordentlicher Professor für Verhandlungsführung und Konfliktmanagement. Seit Anfang des Jahres ist er emeritiert.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 26.10.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung