Alexei Nawalny

Des Kometen Schweif

Ein Rechercheteam hat die Geheimdienstler enttarnt, die Alexei Nawalny bespitzelt haben – und möglicherweise vergiftet

Alexei Nawalny
Schon lange im Fokus des russischen Geheimdiensts: Alexej Nawalny 2017

Wäre Alexei Nawalny ein Komet, die Welt hätte in den vergangenen Jahren den Schweif der Begleiter gesehen, den er hinter sich herzog. Dass der Oppositionspolitiker Tag und Nacht vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB beschattet wurde, war bekannt. Nun hat die Rechercheplattform Bellingcat behauptet, dass sich zum Zeitpunkt von dessen Vergiftung in Tomsk ein Team von sechs bis zehn Agenten in seiner Nähe aufhielt. Mehrere der Männer verfügten über eine medizinische Ausbildung oder Spezialkenntnisse über chemische Waffen. Die Rechercheure, denen sich CNN, Der Spiegel und die russische Onlineplattform The Insider angeschlossen hatten, stützen sich anscheinend auf die Auswertungen von Flugdaten und Telefonkontakten. Die Beweislast, so sagten sie, liege nun „vollständig beim russischen Staat“.

Nawalny steht schon lange im Fokus der Mächtigen: Erst kürzlich hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Russland dazu verurteilt, Nawalny wegen „unnötiger Gewalt“ eine Entschädigung in Höhe von 8500 Euro zu zahlen. Begründet hat das Gericht das Urteil mit den Umständen von dessen Verhaftung am 6. Mai 2012. Im Umfeld von Massenprotesten gegen Wladimir Putins bevorstehende Rückkehr in den Kreml sei Nawalny – nicht zum ersten Mal – entwürdigend behandelt worden; die Staatsgewalt habe gegen sein Recht auf Versammlungsfreiheit verstoßen, ihm ein faires Verfahren verwehrt. Bei den Demonstrationen war es zu blutiger Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten und zu Hunderten Festnahmen gekommen. Nawalny musste damals eine 15-tägige Haftstrafe wegen Widerstands absitzen.

Der Angriff von Tomsk

Und nun der beinahe tödliche Angriff von Tomsk: Für die deutsche Öffentlichkeit, für Politiker und Ärzte steht mehrheitlich fest, was die Bellingcat-Recherchen zu bestätigen scheinen: Nawalny ist am 20. August 2020 in Russland vermutlich von staatlicher Seit vergiftet worden; dass der Präsident das nicht gewusst haben sollte, gilt als unwahrscheinlich. Nach Zusammenbruch im Flugzeug und Notlandung in Omsk durfte das Opfer mit Genehmigung von Wladimir Putin nach Berlin geflogen und im Universitätskrankenhaus Charité behandelt werden.

Nach den dortigen Untersuchungen und der Analyse von Proben durch ein Speziallabor der Bundeswehr bestätigten Labore in Frankreich und Schweden sowie Anfang Oktober auch die Internationale Agentur für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW): Vergiftung mit einem chemischen Nervengift der Nowitschok-Gruppe.

Teil der Agentengruppe war laut der Rechercheure Oberst Stanislaw Makschakow, der früher Mitglied einer militärischen Einheit gewesen sein soll, die chemische Kampfstoffe entwickelte, darunter ähnliche wie das Nawalny verabreichte Nowitschok. Dieses Ergebnis stärkt diejenigen, die bei der Frage nach den Verantwortlichen Nawalnys Vorwurf teilen, den er Ende September in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ äußerte: „Ich behaupte, dass hinter der Tat Putin steht.“ Nur die unter seinem Befehl stehenden Leiter der Geheimdienste FSB (Inland), GRU (Militärgeheimdienst) und SWR (Ausland) könnten auf Nowitschok zugreifen.

Den Vorwurf des russischen Außenministers Sergej Lawrow, „das Eindringen von giftigen Kampfstoffen“ könne auch in Deutschland geschehen sein oder in dem Flugzeug, mit dem er in die Charité gebracht wurde“, nimmt kaum jemand ernst. Mehr noch: Für die deutsche Öffentlichkeit und zahlreiche Kommentatoren ist der „Fall Nawalny“ längst ein Fall Putin.

Versuch der Einschüchterung

Er steht demnach in einer Reihe mit den Morden an dem Duma-Abgeordneten Sergej Juschenkow 2003, dem Chefredakteur des russischen Forbes-Magazins Paul Chlebnikow (2004), dem mit Polonium vergifteten Ex-Spion Alexander Litvinenko (2006), dem Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja (2006) und Boris Nemzow (2015) in Moskau sowie Sergej Skripal in Salisbury (2018) und den Mord an einem Georgier in Berlin (2019). Dem mutmaßlichen Täter wirft die Anklage einen Auftragsmord vor, hinter dem „staatliche Stellen der Zentralregierung der Russischen Föderation“ stünden.

Das Image der Moskauer Regenten in Deutschland ist denkbar schlecht. Die geringen Bemühungen um Aufklärung dessen, was mit Nawalny in Zimmer 239 des Hotels in Tomsk geschah, werden als Signal an alle Oppositionellen in Russland gewertet und als Versuch der Einschüchterung. Das gilt auch für die häufig wahllosen Verhaftungen bei Demonstrationen und die hohen Strafen bei den folgenden Prozessen.

In einer freien, der Meinungsfreiheit verpflichteten Demokratie sind regierungskritische Meinungen und sogar regierungsfeindliche Parolen erlaubt. Und so gibt es in Deutschland auch Stimmen, die Putins Argument folgen: Wenn die Staatsgewalt den „Figuranten“ (Putin) hätte töten wollen, hätte er ihn kaum zur Behandlung nach Deutschland geschickt. Manche sympathisieren mit dem Wort der Chefredakteurin der russischen Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja, wonach es keinen Grund gebe, den deutschen Diensten mehr zu vertrauen als jedem anderen.

Letztes Mittel Mordanschlag?

Die linke Tageszeitung „Neues Deutschland“ räumte nach dem Anschlag auf Nawalny ein, dass er „nachweislich vergiftet worden“ sei. Der Fall zeige erneut, „dass es keinen Grund gibt, die Zustände in Russland zu beschönigen“. Wer Regierung oder Unternehmen kritisiere, lebe dort gefährlich. „Und das betrifft keineswegs nur unsympathische Menschen wie Nawalny, der immer wieder durch rechtsradikale Äußerungen aufgefallen ist.“

Andere, die den Kreml in Schutz nehmen, verweisen darauf, dass Nawalny auch außerhalb der „Partei der Gauner und Diebe“, wie Nawalny „Einiges Russland“ nannte, mächtige Gegner habe. Gemeint sind jene, denen Nawalny Korruption und maßlose Bereicherung vorwirft. Und tatsächlich hat Nawalny kürzlich auf Youtube einen Film über Korruption in Tomsk veröffentlicht, in dem er Namen und Adressen nennt.

Ist also das letzte Mittel gegen Opponenten ein Mordanschlag? Bellingcat und CNN meldeten, dass FSB-Agenten kurz vor dem Anschlag auf Nawalny nach Sotschi gereist waren, „wo die russische Führung einen großen Teil des Sommers“ verbringe. „Der Trip legt nahe, dass die Operation möglicherweise von höchster Stelle abgesegnet worden ist“. Wen die Gruppe der Reisenden des Kometenschweifs dort getroffen haben, konnten die Rechercheure allerdings nicht ermitteln, wie sie zugeben.

Was sie ermittelt haben, sind starke Indizien. Nach den Regeln eines Rechtstaats muss jedoch nicht der Angeklagte seine Unschuld beweisen. Um ein Urteil zu fällen, bedarf es dort noch mehr.

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