Der Kult der Stärke
Zwischen Alexei Nawalny und Wladimir Putin tobt ein Kampf auf Leben und Tod
Ein Symbol der Zarenmacht ist das Zepter. Putin, der Russland zwanzig Jahre regiert, hatte bis jetzt kein Zepter. Jetzt endlich ist es erschienen. Am 23. Januar verliefen die Protestdemonstrationen, die wie eine große Welle über das ganze Land schwappten, im Zeichen des neuen Zarensymbols: einer Klobürste.
Putins Weg begann mit einer Toiletten-Metapher, als er verkündete, die tschetschenischen Kämpfer müsse man „auf dem Scheißhaus abmurksen“. Unserem Land haben sich diese Worte für immer eingeprägt, und nun wird er offenbar auch mit einem Toiletten-Meme enden.
In Alexei Nawalnys schonungslosem Enthüllungsvideo über einen Märchenpalast im kaukasischen Gelendschik am Ufer des Schwarzen Meeres, an Luxus vergleichbar mit Schloss Versailles, springt ein Detail ins Auge, eine Klobürste für siebenhundert Euro. Wer ist der Besitzer dieser goldenen Klobürste und des dazugehörigen Palastes? Nawalnj hat keinen Zweifel: Präsident Putin.
Am 23. Januar baute der junge Tischler Georgi bei mir auf der Datscha Möbel zusammen. Abends beim Tee sagt er, wenn Putin Zar wäre, dann bitte schön: Palast, goldene Klobürste. Aber er ist nun mal kein Zar!
Bei Georgi regen sich Zweifel: Vielleicht war es ja doch nicht auf Befehl Putins, dass sie den aus Berlin eingetroffenen Nawalny umgehend in Untersuchungshaft genommen haben, wo er nun auf seine Gerichtsverhandlung wartet? Das Dilemma für das Putin-Regime: Georgi, weit entfernt von jeder Politik, ist eher auf Nawalnys als auf Putins Seite.
Das Volk vergöttert den Zaren
Er hat sich das Video über den Palast angeschaut. Vierzig Millionen haben es gesehen, sage ich. Nein, 79 Millionen, sagt Georgi, seine Augen funkeln, er ist beeindruckt von dieser Zahl. Noch vor einem Monat war ihm Nawalnys Schicksal egal, aber jetzt zählt der Möbelbauer aus dem Moskauer Umland zu Alexeis Fans. Wird das geduldige Russland, das Revolutionen fürchtet, sich Nawalny zuwenden?
Ein tödlicher Kampf zwischen Nawalny und Putin hat begonnen. Allerdings hat Putin schon vor dem rachevergifteten Palast-Video Nawalny keineswegs unterschätzt. Bezeichnenderweise nennt er ihn nie beim Namen.
Im System des Zaubermärchens, in dem Russland seit je existiert, ist dies das größte Kompliment. Nur den gefährlichen Feind darf man nicht beim Namen nennen. Das russische Wort für Bär – medwedj – ist ein Pseudonym: der Honigkenner. Für Putin ist Nawalny der „Berliner Patient“. Auf diese Weise schreibt Putin das russische Märchen mit seiner besonderen Logik und seinen antihistorischen Werten fort.
Ja, im Unterschied zum in seiner Grundlage vernünftigen Westen ist Russland ein Zaubermärchen. Es hat und hatte nie eine Geschichte, stattdessen läuft ein Märchenschauspiel. Mit der Zeit wechseln die Darsteller, nicht aber die Rollen.
Die Rolle des Zaren in unserem Märchen spielt heute Putin. Im russischen Märchen vergöttert das Volk den Zaren, das bedeutet, dass es ihm bei Wahlen seine Stimme gibt. Der Zar erobert Länder, nimmt sich die Krim, träumt von einem Land mit den Grenzen der Sowjetunion. Deswegen stand der Zar zunächst dem Volk nahe.
Liebhaber von Luxus und Raufbold
Er stammt aus einem Leningrader Hinterhof, lernt von der Pike auf, sich zu verteidigen, als echter Proll will er stärker sein als alle anderen. Der KGB hat ihm den Kult der Stärke eingeimpft. Letzten Endes erweist sich der Zar als menschenverachtender Liebhaber von Luxus und Raufbold von der Straße. Anstelle von Siegen in seinem Kiez-Hinterhof will er jetzt die Welt mit den Amerikanern und Chinesen aufteilen. Europa soll die Klappe halten.
Doch so sehr das Volk seinen Zaren liebt, alles hat seine Grenzen. Und Nawalny hat die Grenzen aufgezeigt. Bei seinen oppositionellen Aktivitäten verwandelt er seit einiger Zeit den Volkszaren in den unsterblichen Zauberer Koschtschei – den beinahe unbesiegbaren, hässlichen, bisweilen lächerlichen Bösewicht der slawischen Mythologie. Diese Märchenfigur kann das Volk absolut nicht leiden.
Aber nichts zu machen: Abgesehen davon, dass der Zar Fehler macht, das Pensionsalter nach oben schraubt, sich die Verfassung auf den Leib schneidert, um ewig regieren zu können, altert er auch noch – oh je! Und unser Märchen mag Koschtschei, den Unsterblichen nicht. Ein Koschtschei wird nicht gewählt.
Und wer erzählt dem Volk vom gierigen und herzlosen Koschtschei? Unser zweiter Märchenheld. Nawalny hat sich in den Zarewitsch Iwan verwandelt. Er ist der Thronanwärter, und seine Frau Julia passt in die Rolle der wunderschönen Wassilissa. Ein fulminantes Paar für den Kreml.
Jenseits des politischen Rubikons
Der Märchenzar Putin hat, wie es sich für einen Monarchen gehört, uns zu einem harmlosen, blütenweiß gewaschenen Volk erklärt: Wir sind besser als alle anderen.
Dennoch werden seit Beginn seiner Regentschaft permanent politisch die Schrauben angezogen. Der Freiheitsspielraum schrumpft. Wir haben ein absolut gehorsames Parlament, servile Gerichte und ein Staatsfernsehen, das rund um die Uhr die Taten des Zaren preist.
Und gegen diesen mitsamt seinen Omon-Sondereinheiten und der Nationalgarde, gegen die Gewaltorgane mit ihren Lakaien tritt völlig unbewaffnet der Zarewitsch Iwan an. Moment mal, nicht ganz. Er hat, wie im Märchen, einen grauen Wolf an seiner Seite. Das ist seine Antikorruptionsstiftung FBK, die Diebstahl und Korruption des Staats anprangert. Und solange Nawalny nur gegen Korruption kämpfte, war er Putin sogar nützlich. Die Bojaren im Kreml schwiegen. Jeder von ihnen konnte ja in Verdacht geraten oder sogar Zielscheibe eines direkten Angriffs des Oppositionellen werden.
In einem bestimmten Moment schien Nawalny sogar Putin zu helfen, den sich liberal gebärdenden Konkurrenten Medwedjew loszuwerden. Medwedjew verstummte nach den Enthüllungen über seine Machenschaften. Wo ist er abgeblieben? Abgetaucht im Nirgendwo.
Doch der Zarewitsch Iwan alias Nawalny überschritt den politischen Rubikon, als er sich einen ebenfalls ziemlich märchenhaften Plan ausdachte und umzusetzen begann – das „System des klugen Abstimmens“. Wählt, was auch immer, nur nicht die Partei des Zaren.
Dieses Projekt war nicht allzu erfolgreich, dafür potenziell höchst schmerzhaft für die Machthaber. Dieses Jahr, im September, stehen Dumawahlen an, und unsere Märchenduma wird aufhören, ein störungsfreies Instrument der Zarenmacht zu sein, wenn dort auch nur einige wenige unabhängige Menschen auftreten. Und hast du nicht gesehen, sorgen sich die Freunde Putins, bricht ganz Russland zusammen!
Der fehlerfreie Zar wehrt sich
Da feuerte der Zar den ersten Schuss ab. Unser Zar ist unfehlbar. Weder früher im Leningrader Hinterhof noch heute im Kreml durfte und darf ein echter Kerl Fehler zugeben. Putin hat in den zwanzig Jahren seiner Regentschaft seiner Meinung nach keinen einzigen Fehler begangen, ganz zu schweigen von irgendeiner Niederträchtigkeit. Alle Probleme Russlands gehen auf das Konto des Westens und der fünften Kolonne, die jetzt zu „ausländischen Agenten“ erklärt wird.
Diese „Unfehlbarkeit“ des Zaren hat Russland in der Welt isoliert. Der Zar hat jegliche Beteiligung am Krieg im Donbass, am Abschuss der malaysischen Boeing und an der Vergiftung der Skripals von sich gewiesen. Mit schlimmen Dingen hat der Zar nichts zu tun. Aber der Zarewitsch Iwan denkt anders, er stachelt das Volk gegen den unsterblichen Koschtschei auf – also Zeit für den Kreml, den Herausforderer zu beseitigen.
Alexej wird schon lange von seinen Feinden gejagt. Sie haben ihm eine ätzende grüne Flüssigkeit ins Gesicht gespritzt, ihn unter Vorwänden vor Gericht gezerrt, ihn immer wieder eingesperrt. Doch unser Märchenheld hat keine Angst, er ist zum Recken geworden, hat politisches Gewicht erlangt. Da ertönte das Kommando: Weg mit ihm!
Der Kreml verhedderte sich in widersprüchlichen Behauptungen über das, was mit Nawalny im August 2020 passierte, warum ihm im Flugzeug schlecht wurde, warum er ins Koma fiel. Eine Kreml-Version lautet, er leide an einer chronischen Krankheit; oder er habe das alles nur gespielt. Na, dann ist Nawalny ein genialer Schauspieler. Er spielte den Vergifteten sogar im Koma, auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod, viele Tage lang.
Es gibt die Version, er habe sich selbst vergiftet. Das ist die Märchenversion, vergleichbar mit Gogols Unteroffizierswitwe, die sich selbst auspeitschte. Es gibt die Version, Alexeis Mitstreiter hätten es getan, um ein sakrales Opfer zu erschaffen. Schließlich gibt es die Erzählung, Nawalny sei erst, als er im Westen anlangte, vergiftet worden.
Der Zar sagte dazu öffentlich, mit süffisantem Lachen, wenn man ihn hätte töten wollen, hätte man ihn schon getötet. Eine wahre Zarenantwort, im Westen hätte kein Präsident gewagt, sich so etwas auszudenken!
Die vergiftete Unterhose als Symbol
In Russland wie im Westen ist das Leben ein Langstreckenlauf, eine Prüfung. Aber im Westen ist es nur ein Lauf, bei uns hingegen ein Hindernisrennen. Wir verschwenden viel Lebenszeit mit der Überwindung staatlicher Hindernisse, eigentlich kämpfen wir mehr mit Hindernissen, statt zu laufen.
Nawalnys Ziel ist, die Hindernisse auf dem Weg des russischen Läufers zu reduzieren. Die Staatsmacht hat hingegen nur neue Hindernisse zu bieten. Das ist der Kern des Konflikts.
In Russland siegt derjenige, der Symbole für sich zu nutzen versteht. Nachdem Nawalny in einer Berliner Klinik, wohin ihn der Zar mit der Perspektive „ständiger Wohnsitz im Westen“ geschickt hatte, wieder zu sich gekommen war, erforschte er seine Vergiftung und konnte beweisen, dass der Zar im Unrecht ist. Man wollte ihn töten, ja, aber er wurde nicht getötet, weil das System morsch ist.
Die Giftmörder waren ihm jahrelang nachgereist, in Erwartung des Befehls von oben, und als der Befehl erteilt wurde, applizierten sie „Nowitschok“ auf Nawalnys Unterhose. Allerdings nicht in der nötigen tödlichen Dosis. Der Schuss ging daneben. Nawalny erhielt als Geschenk das Symbol der vergifteten Unterhose und zeigte die märchenhaften Häscher und Giftmörder (sorgfältige Internetrecherche!) in seinem Youtube-Video aus Berlin. Am 23. Januar schwenkten viele Demonstranten Unterhosen. Unterhosen und Klobürste – das Zepter und der Reichsapfel der Zarenmacht.
Auch Putin nutzte während seiner Herrschaft Märchensymbole. Mit entblößtem Oberkörper ritt er ein Zauberpferd. Er tauchte in der Tiefe des Meeres nach Schätzen. Vor einer Wahl angelte er einen Riesenhecht – ein Märchenzeichen des Sieges. Wie ein echter Zar sakralisierte er das Motiv des Sieges. Offenbar will er als siegreicher Zar in die Ewigkeit eingehen.
Nawalnys märchenhafte Selbstopferung
In diesem Märchenreich tobt jetzt ein Kampf der Giganten, der russischen Recken. Nawalny versetzte Putin einen Schlag mit dem Video über einen obszön luxuriösen Palast mit Casino und Klobürste, einem Bett mit Baldachin, mit unterirdischem Eishockey-Stadion inmitten von Weinbergen.
Nawalny, der Zarewitsch Iwan, hat alles berechnet. Er kehrte dorthin zurück, wo er vergiftet wurde, in die Heimat, wo ihn – welch Paradox! – sofort diese Giftmörder festnahmen – als Betrüger, wegen angeblicher früherer Wirtschaftsvergehen. Das Flugzeug landete nicht auf dem Flughafen, wo ihn seine Anhänger erwarteten, sondern auf einem anderen, wo ihn die Polizei erwartete. Stopp, Foto! Die märchenhaft rührende Abschiedsszene mit Julia Nawalnaja und ihrem Mann ist äußerst eindrucksvoll. Und als Nawalny im Gefängnis sitzt, erscheint das Youtube-Video über den Palast.
Ein Volltreffer. Eine märchenhafte Selbstopferung. In Gefangenschaft des Zaren diese direkte, gnadenlose Herausforderung des Zaren. Was kann der Zar tun? Ihn für lange Jahre einsperren? Noch ein Mordanschlag? Das eine wie das andere würde, nach den Protesten im ganzen Land zu urteilen, den Zaren endgültig in Koschtschei verwandeln.
Nawalny, der nächste Solschennizyn?
Es bleibt nur, ihm die Staatsbürgerschaft abzuerkennen und ihn in den Westen abzuschieben. Wie Solschenizyn. Aber Solschenizyn war ein „politischer Verbrecher“. Nawalny muss man erst einen politischen Paragraphen anhängen, für Wirtschaftsvergehen wird man nicht ausgebürgert. Also werden sie das tun und ihn ausbürgern.
Es wird großes Geschrei geben. Der Westen wird keine große Hilfe sein. Allerdings, so hoffe ich, werden viele „Putinversteher“, insbesondere in Deutschland, anfangen, Nawalny zu verstehen. Doch wir haben es mit einem Märchen zu tun! Die Rollen bleiben gleich, die Darsteller wechseln. Den Zarewitsch Iwan, den Befreier Russlands, wird ein neuer Nawalny spielen.
Am 23. Januar demonstrierten viele junge Leute, eine neue Generation, Normalbürger unseres Landes, deren Lebensstil dem Westen nähersteht als dem Kreml-Herrscher. In Moskau gab es Konfrontationen mit der Polizei. Die Polizei knüppelte. An einigen Stellen schlugen die Demonstranten plötzlich zurück. Das gab es früher nicht. Das ist ein Zeichen aus der Zukunft.
Ich schließe nicht aus, dass der Zar, der sich in den unsterblichen Koschtschei verwandelt, vom Herostratos-Komplex und dem Wunsch befallen wird, die Welt zu zerstören, die sich ihm nicht unterwerfen will. Dabei geht es nicht um interne Auseinandersetzungen, sondern um die totale Konfrontation. Atomwaffen gibt es dafür mehr als genug.
Die Waagschale der Fortuna neigt sich zugunsten des lebendigen, im Gefängnis sitzenden Alexei. Für die Märchenwelt ist auch wichtig, dass er den Tod nicht fürchtet. Wichtig und notwendig ist außerdem die wunderschöne Wassilissa, seine Frau Julia, die bei den Demonstrationen am 23. Januar festgenommen wurde. Koschtschei, der vorerst die Rolle des Zaren spielt, ist vielleicht nur für eine gewisse Zeit unsterblich. Russland wird seine Wahl treffen.
Aus dem Russischen von Beate Rausch.
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: FAZ, Feuilleton, 27. Januar 2021 / Alle Rechte vorbehalten. Copyright Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.