Russland: Nichts wie weg!
Hilflos, trauernd, zornig, beschämt: ‚Frei zu atmen ist in Russland nicht mehr möglich‘
Es war ein Impuls. Ein Gedanke, der kam und nicht mehr aus seinem Kopf wich. Auch Angst. Angst, dass die Grenzen zugehen, dass er in den Kampf muss, dass er für immer bleibt, wo er nicht sein will. Nikolai Knopkin packte schnell eine Tasche, buchte an einem späten Abend online ein Flugticket – und war weg aus Russland. Weg von seiner Mutter, weg von seinem Bruder, weg aus seinem Land, in dem er keine Zukunft mehr sieht.
„Es ist zutiefst traurig, was gerade passiert, so unreif, dumm und widerlich, was unser Präsident tut“, sagt er bei seinem Anruf aus der Türkei, wo er mit einem Freund, ebenfalls aus Russland, noch in einem Istanbuler Hotel wohnt. Hier komme er zu sich, wie er berichtet. Versuche, einen klaren Kopf zu bekommen, die nötigsten Sachen zu regeln für ein Leben in Ungewissheit. „In Russland kann ich einfach nicht mehr arbeiten.“
Nikolai Knopkin heißt nicht Nikolai Knopkin. Niemand in dieser Geschichte trägt seinen wahren Namen, weil die Menschen sich, weit weg von Russland, und ihre Verwandten, noch in Russland, nicht gefährden wollen. Es sind unsichere Zeiten im Land. Die Behörden haben die Gesetze verschärft. Der Krieg, den Russland in der Ukraine führt, darf laut dem sogenannten Fake-News-Gesetz nicht Krieg genannt werden, es drohen bis zu fünfzehn Jahre Freiheitsentzug.
Proteste gegen den russischen Einsatz in der Ukraine enden für die meisten Demonstranten mit der Verhaftung und mehreren Tagen in Haft. Auch Strafverfahren können folgen. Polizisten halten auf den Straßen wahllos meist junge Männer an und überprüfen Pässe und Telefone. Vor Geschäften und Apotheken stehen Menschen Schlange, um sich mit Kleidern, Elektronik und Medikamenten einzudecken, weil die Läden schließen oder die Arzneimittel ausgehen.
Mehr als sechzig ausländische Unternehmen haben sich aus Russland zurückgezogen. Ihren russischen Mitarbeitern soll die russische Staatsanwaltschaft laut Berichten unabhängiger russischer Journalisten für den Rückzug mit Haft gedroht haben.
Leben in Sicherheit nicht mehr möglich
Die Preise steigen, die Sorgen vieler Menschen ebenfalls. Derweil berichtet das staatsnahe Fernsehen jeden Tag von einer „exakten“ und „schnell vorankommenden militärischen Spezialoperation“, mittels deren russische Truppen in der Ukraine angeblich für die „Sicherheit der Menschen im Donbass“ sorgen.
„Es ist einfach unerträglich. In den ersten Tagen des Kriegs war mir ständig übel“, erzählt Knopkin. Er spricht leise, macht immer wieder Pausen. Knopkin ist Fotograf. Mehrere Jahre hat er für eine britische Zeitung fotografiert.
Mit dem Konflikt im Donbass vor acht Jahren wurden seine Aufträge immer weniger. „Für mich war das Jahr 2014 ein erster Wendepunkt. Jahr um Jahr verschwanden aus Russland interessante Menschen. Und jetzt? Für jeden, der frei atmen will, der kritisch arbeiten will, der neue Projekte plant, ist ein Leben in Sicherheit in Russland nicht mehr möglich.“
Mehrere zehntausend Menschen haben Russland bereits verlassen. Es sind Künstler, Programmierer, Journalisten, Sportler, Menschenrechtlerinnen, Aktivisten, Unternehmer. Allein in Georgien sollen sich bis zu 25 000 russische Staatsbürger aufhalten, wie das georgische Wirtschaftsministerium vor einigen Tagen mitteilte.
Vor Banken und Mobilfunkanbietern bilden sich in der georgischen Hauptstadt Tbilissi laut Augenzeugen lange Schlangen, die Nachfrage nach Wohnraum steigt, die Anfeindungen gegenüber Russen nehmen zu. Georgische Demonstranten fordern die Einführung einer Visumspflicht für alle Einreisenden aus Russland. Manche Banken in Tbilissi legen russischen Staatsbürgern ein Dokument zur Unterzeichnung vor, in dem sie die russische Besetzung georgischen Territoriums verurteilen sollen. Ohne die Unterschrift gibt es kein Konto.
Fluchtziele: Georgien, Armenien, Türkei
Es sind vor allem Länder wie Georgien, Armenien, Kasachstan, Aserbaidschan und die Türkei, in die die meisten Russen derzeit fliehen. Für Armenien und Kasachstan brauchen sie nicht einmal einen Reisepass, eine russische Identitätskarte genügt. Serbien und Katar sind visumsfrei für Russen, in Indien, Sri Lanka, Vietnam oder Ägypten bekommen sie ein Visum an der Grenze.
Europa hingegen verlangt ein Schengen-Visum, die wenigsten Russen haben eines, auch aufgrund der Corona-Pandemie. Unabhängige Online-Medien stellen Listen auf, was für eine Ausreise in welches Land nötig ist. Es sind Orientierungshilfen für Ausreisewillige. Die Menschen tauschen sich in Telegram-Chats aus, geben Hilfestellungen bei der Eröffnung eines Kontos im jeweiligen Gastland, bei der Suche nach Spielgruppen für ihre Kinder, suchen nach Jobs.
„Die Solidarität ist groß, sonst würde man wohl völlig wahnsinnig werden in dieser Mischung aus Schock, Hilflosigkeit, Zorn, Scham, Trauer“, sagt Maria Larina, ebenfalls am Telefon in Istanbul. Auch die Larins, knapp 40-jährige Moskauer, hatten schnell entschieden. Sie ließen ihre beiden Mädchen das Lieblingsspielzeug einpacken und eilten zum Flughafen. Eltern und Freunde bekamen am nächsten Morgen eine Nachricht auf Whatsapp: „Vielleicht sind wir panisch, aber wir sind nun außerhalb Russlands. Hoffentlich in Sicherheit.“
Alexander Larin arbeitete jahrelang für eine ausländische Firma. Diese hat nun ihr Moskauer Büro geschlossen und dem Ökonomen die Option geboten, von woanders zu arbeiten. Nur drei Tage zum Überlegen hatten sie. „Kein Job in dieser wirtschaftlichen Lage, in die Russland willentlich hineingeschlittert ist? Eine schlechte Aussicht“, sagt Maria Larina.
Die Familie besitzt eine Wohnung im Westen Moskaus, die Mädchen haben Freunde, ihre Schule. „Wir haben uns etwas erarbeitet, wollen einen gewissen Lebensstandard halten. Die russische Regierung hat das mit einem Schlag zunichtegemacht“, sagt sie.
In der Türkei wird Larina zunächst arbeitslos sein. „Erst einmal müssen wir hier ankommen, müssen unsere Töchter in einer Schule unterbringen, eine Wohnung finden, Geld verdienen. Es ist ein böser Traum, aus dem es derzeit kein Erwachen gibt“, sagt sie.
Das Trauma der geschlossenen Grenzen
Wer jetzt noch aus Russland wegwill, zahlt horrende Preise für die Flugtickets. Da die meisten europäischen Länder ihren Luftraum für russische Flugzeuge geschlossen haben und Russland im Gegenzug die meisten europäischen Flugzeuge aussperrt, nehmen die neuen Exilanten teilweise skurrile Umwege in Kauf. Manche reisen über Taschkent in Usbekistan, andere über Ulaanbaatar in der Mongolei.
Geschlossene Grenzen sind ein Trauma aller, die in der Sowjetunion aufgewachsen sind. Sie geben diese Ängste auch an ihre Kinder weiter. „Ich bin in Russland zu Hause, aber ist das noch mein Zuhause?“, fragt die Moskauerin Elina Nasarowa. Jeden Tag, so erzählt sie bei einem Spaziergang durch Moskau, verlasse mindestens ein Freund, ein Verwandter, eine Bekannte das Land.
Was erwarte sie, die Jungen, überhaupt noch in Russland? Wirtschaftlicher Niedergang? Perspektivlosigkeit? Angst vor Repressalien, weil sie offen ihre Meinung sagen wollten? Bereits die Pandemie habe so viele Möglichkeiten genommen.
Die 24-Jährige, die Kulturmanagement studiert hat, hielt sich in den vergangenen zwei Jahren mit wechselnden Jobs über Wasser. „Jetzt kann man nicht einmal mehr bei McDonald’s arbeiten, weil die Kette aus Russland weggegangen ist.“
Sie klingt resigniert. Ihr Freund, ein IT-Spezialist, der für eine amerikanische Firma gearbeitet habe, sei bereits im Ausland. „Alle um mich herum stellen sich derzeit dieselbe Frage: Gehen oder bleiben? Ich bin hin- und hergerissen.“
Von dieser Zerrissenheit spricht auch Nikolai Knopkin in Istanbul. „Einerseits will ich so weit weg von Russland sein wie nur möglich, aus Abscheu vor diesem Land. Andererseits will ich so sehr bei meinen Nächsten in Moskau sein.“
Maria Larina weint fast: „Ich will einfach nur nach Hause. Aber das, was in Russland passiert und was Russland macht, ist nicht mehr das, was wir als unser Land bezeichnen können.“
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 15.3.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung