Krieg in der Ukraine

Marina Owsjannikowa: ‚Alle verstehen, dass gelogen wird‘

Wer ist die junge Frau, die im Ersten Kanal gegen den Krieg protestierte?

von Sascha Sivtsova, Svetlana Reuter und Semen Baschkirow (MEDUZA)
Marina Owsjannikowa
Eine mutige Person: Marina Owsjannikowa demonstriert gegen den Krieg.

In einer Live-Übertragung der Nachrichtensendung Vremja (Die Zeit), der wichtigsten Abendnachrichtensendung des staatlichen Ersten Fernsehkanals, erschien am 14. März die Nachrichtenredakteurin Marina Owsjannikowa hinter der Moderatorin Jekaterina Andrejewa im Bild und hielt ein Antikriegsplakat in die Kamera. Owsjannikowa blieb für einige wenige Sekunden auf Sendung, dann wurde die Übertragung aus dem Studio unterbrochen. Owsjannikowa wurde festgenommen und bereits verurteilt, bisher zu einer Ordnungsstrafe von 30 000 Rubel (damals weniger als 300 Euro) wegen Teilnahme an einer nichtgenehmigten Aktion. Meduza erzählt, wer Marina Owsjannikowa ist und wie die Stimmung in den staatlichen Fernsehanstalten seit Beginn des Kriegs mit der Ukraine ist.

Marina Owsjannikowa, über die in diesen Tagen das gesamte russischsprachige Internet redet, wurde nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur TASS 1978 in Odessa geboren. Bis zu ihrer Heirat trug sie den Namen Tkatschuk. Ihr Vater ist Ukrainer, die Mutter Russin. Sie war professionelle Schwimmerin, in der ersten Jugendleistungsklasse. Sie hat die Wolga und den Bosporus durchschwommen.

1997 nahm sie ein journalistisches Studium an der staatlichen Universität in Kuban auf. In dieser Zeit begann sie mit der Moderierung der Lokalnachrichten beim örtlichen staatlichen Fernsehkanal Kuban (der wiederum zur überregionalen staatlichen Medienholding-Gesellschaft WGNRK gehört). Owsjannikowa beschreibt diese Zeit ihres Lebens so: „Damals waren wir junge und ambitionierte Studenten und bereit, Tag und Nacht zu arbeiten, auch an Feiertagen und am Wochenende. Wir lebten für diese Arbeit, wir waren mit ganzem Herzen dabei.“

Ein anderer Absolvent derselben Universität, Tachir Cholikberdijew, erzählt, Owsjannikowa habe in einem Jahrgang zusammen mit Margarita Simonjan studiert, der Chefredakteurin von Russia today. Simonyan bestreitet dies, gibt aber gleichzeitig zu, sich als ihre Konkurrentin um eine Stellung beim Kubaner Sender beworben zu haben.

„Sie war der fast allmächtige Liebling des fast allmächtigen Direktors des Senders Kuban, [Wladimir] Runow, und ihretwegen sträubte er sich mit aller Kraft gegen meine Einstellung als Korrespondentin des Senders in der Region Krasnodar, er wollte sie auf diesem Posten haben.“ Dass Owsjannikowa von Runow protegiert wurde, bestätigte auch eine andere Kubaner Journalistin, mit der Meduza sprach.

Wladimr Runow selbst, der den Sender Kuban von 1993 bis 2002 leitete, kommentiert Simonjans Aussage so: „Das ist natürlich nicht wahr. Ich hätte (Margarita Simonjans) Karriere gar nicht behindern können. Ich habe nie mit ihr gearbeitet. Außerdem hatte sie ganz andere Lotsen, die sie befördert haben. Sie war damals schon eine imposante Persönlichkeit.“

Rukow nennt Owsjannikowa eine „kluge Frau“, die „kaum zu stoppen war.“ „Sie wollte sich immer bestmöglich profilieren, sie konnte sich durchboxen. Schön, dass sie sich verwirklicht hat.“

Owsjannikowa Protestaktion aber verurteilt er. „Ich sehe darin nichts Heldenhaftes oder Kühnes. Ich finde es eher töricht. Eine Journalistin soll schreiben und filmen, nicht irgendwelche Sperenzchen machen.“

Runow erzählt, er habe Ovsyannikova geraten, ihr Studium an der Moskauer Universität fortzusetzen, an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation (RANEPA); er habe ihr ein Empfehlungsschreiben verfasst, das „ihr bei der Aufnahme geholfen hat“. Dort studierte sie von 2001 – 2005.

Darauf war die Security nicht vorbereitet

Ein Informant auf dem Umkreis des Ersten Kanals erinnert sich, dass Owsjannikowa damaliger Mann Igor Owsjannikow, der als Regisseur bei Russia today tätig war, ihr Anfang 2002 eine Stelle in der Nachrichtensendung Vremja besorgte, wo seine Mutter Redakteurin für Untertitel war. „Sie [Marina Owsjannikowa] arbeitete dort wohl sofort mit den Korrespondenten, also als Redakteurin. Igor und sie haben zwei Kinder, der ältere ist, soviel ich weiß, fast 18 Jahre alt. Marina hat in der internationalen Abteilung der Nachrichtenredaktion gearbeitet. Was sie zu ihrer gestrigen Aktion bewogen hat, weiß ich nicht“, erzählt ein Bekannter von Owsjannikowa.

Er berichtet auch, Owsjannikowa habe nach ihrer Aktion das Studio zunächst ungehindert verlassen. Dann aber habe der Sicherheitsdienst sehr schnell reagiert, und sie am Ausgang des Gebäudes festgenommen.

Die Pressestelle des Ersten Kanals ließ Nachfragen von Meduza, auf welcher Rechtsgrundlage die Festnahme Ovsyannikova erfolgte, unbeantwortet (wie lange sie dort festgehalten wurde, ist nicht bekannt).

Ein ehemaliger Kollege von Owsjannikowa, der Journalist Igor Riskin, erzählte Meduza, sie habe ihm um 23.07 Uhr Moskauer Zeit eine Nachricht geschickt. Als er ihr seine Hilfe anbot, schrieb sie zurück, sie befinde sich „in Polizeigewahrsam in Ostankina“. (Riskin hatte ihr geschrieben unmittelbar nachdem er den Bericht über ihre Aktion in der Nachrichtensendung gesehen hatte. Danach brach der Kontakt ab.)

Riskin war seit 2002 Mitarbeiter beim Ersten Kanal, 2006 als Korrespondent in Washington, 2009 schied er aus. „Der Krieg in Georgien 2008 hat mich furchtbar deprimiert, auch die Art, wie die Kollegen darüber berichteten. Durch meine Arbeit bei dem Sender fühlte ich mich mitverantwortlich für das, was dort geschah, obwohl ich nicht direkt daran beteiligt war. Ich war vollkommen schockiert, und das war der Grund für meine Entscheidung. Ich habe keine großen Protestaktionen veranstaltet, ich bin einfach gegangen“, erzählt Riskin.

In den sozialen Medien kursierende Theorien, wonach „Sender die Aktion quasi vom selbst lanciert wurde“, weil Owsjannikowa „allein niemals an den Security-Mitarbeitern vorbeikommen wäre“. Das hält er für falsch. „Das sagen Leute, die nie in dem neuen Studio des Senders gewesen sind. Das ist ein ehemaliges Konzertstudio, in dem früher populäre Unterhaltungssendungen aufgenommen wurden. Die Arbeitsplätze der Redakteure befinden sich im Studio selbst, direkt hinter den Moderatoren“, erklärt Riskin.

„Natürlich gibt es Wachleute, aber die waren zu meiner Zeit am Eingang zum Studio postiert, nicht innerhalb des Studios. Die Redakteure arbeiteten in Wochenschichten, die Wachleute kannten jeden. Alle kennen sich dort, und so ein zusammengefaltetes Plakat hineinzuschmuggeln, es auseinanderzufalten und sich damit hinter die Moderatorin zu stellen, das ist technisch ganz einfach. Ich vermute, es war niemand im Studio, der sie hätte festhalten können. Wahrscheinlich hat man im Kontrollraum über dem Studio dem Wachpersonal ein Signal gegeben, und dieses hat sie dann am Ausgang festgenommen.“

Ein anderer Informant aus dem Sender erzählte „Meduza“, es gebe jetzt einen Wachmann innerhalb des Studios. Er sei in der Nähe des Tischs der Nachrichtensprecherin postiert, habe aber nicht rechtzeitig auf Marinas Aktion reagieren können, weil es dergleichen noch niemals gegeben hat und mit etwas Derartigem nicht rechnete.

Ein ruhiger, gescheiter, umgänglicher Mensch

Marina Owsjannikowa ist „ein für Fernsehverhältnisse sehr ruhiger Mensch“, erzählt ihr ehemaliger Kollege Riskin. „Sie neigt nicht zur Hysterie.“

Shanna Agalakowa, früher Korrespondentin des Senders in Paris (am Tag nach der Aktion wurde berichtet, dass sie den Sender verlassen hat) beschreibt Owsjannikowa als „sehr gescheit und sehr umgänglich. Marina ist Nachrichtenredakteurin, wir sind uns manchmal auf der Arbeit begegnet, aber nicht sehr oft. Soweit ich weiß, hat sie mit den Korrespondenten aus den russischen Regionen gearbeitet. Ich bin internationale Korrespondentin, ich habe mit den internationalen Redakteuren gearbeitet“, erzählte sie Meduza.

Über die Stimmung im Ersten Kanal nach der Aktion von Owsjannikowa weiß Agalakowa nichts zu berichten. Sie habe die Leitung des Senders schon am 3. März darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie den Sender verlassen wolle. Sie notierte: „Ab Freitag bin ich frei. Ich kann es kaum erwarten.“ Auf die Frage, warum sie sich entschlossen habe zu kündigen, antwortete Agalakowa: „Ich denke, die Antwort ist klar“.

Jelena Afanassjewa, ehemalige Leiterin der Direktion für kreative Planung, die von 2006 bis 2021 in dem Sender tätig war, erzählte Meduza, es gebe im Ersten Kanal viele, auch bei den Informationsprogrammen, wo Owsjannikowa gearbeitet hat, die mit der offiziellen Sichtweise auf die Ereignisse „nicht einverstanden“ seien. „Einige glauben tatsächlich an das, was sie tun, und davon kenne ich viele. Manche arbeiten hier, weil sie keine andere Arbeit finden können, die Medien-Branche ist zusammengeschrumpft wie Balzacs Chagrinleder“, kommentiert Afanassjewa.

„Ich kenne viele, die die offizielle Meinung, wie sie vom Ersten Kanal gesendet wird, nicht teilen, aber sie können nicht kündigen, oder sie haben Angst zu kündigen, entweder weil sie Kinder haben oder wegen ihrer Eltern, oder wegen der Hypotheken, oder weil sie ihre Ersparnisse verloren haben, oder weil sie Angst haben, arbeitslos zu werden, oder auf schwarze Listen zu kommen.“

Seit Beginn des Kriegs „stehen alle Mitarbeiter des Ersten Kanals unter Strom“, sagt ein Informant aus dem Umfeld des Senders gegenüber Meduza. „Alle ohne Ausnahme verstehen, dass gelogen wird. In den Studios gibt es überall Bildschirme mit den Nachrichten von Reuters und AP, ihnen aber werden von oben Themen und Texte aufgedrückt, die mit der Realität absolut nichts zu tun haben. Seit Beginn des Kriegs haben die mittleren Angestellten der Nachrichtenprogramme Panik: Warum lügen wir? Was wird aus uns? Aber die Leitung des Senders tut so, als gäbe es keinen Grund zur Beunruhigung, die sagen, wir sägen jetzt kurz mal den [Präsidenten der Ukraine] ab, und dann ist alles wie früher.

Aber die Zeit läuft, Selensky ist immer noch nicht abgesägt. Bei den Menschen mit Hirn und Zugang zu Informationen liegen die Nerven blank. Und Owsjannikowa hat Hirn und Zugang zu Informationen, weil sie bei einem der wichtigsten Nachrichtensendungen gearbeitet hat, wo die Berichte aus aller Welt gesammelt werden, und sie hat mit vielen verschiedenen Korrespondenten gearbeitet“, sagt ein Gesprächspartner gegenüber Meduza. Er ist sich sicher, dass man Owsjannikowa einen Schauprozess machen wird, damit „andere nicht ihrem Beispiel folgen“.

Ein Informant aus dem Umkreis eines anderen großen Senders der staatlichen Medienholding erklärte gegenüber Meduza, auch in seiner Gesellschaft gebe es mehrere Journalisten, denen die Situation gar nicht gefalle: „Sie müssen über diese ‚friedensstiftende Spezialoperation‘ berichten, dabei haben viele von ihnen Verwandte im wehrpflichtigen Alter, die sie auf jedem erdenklichen Weg aus dem Land bringen wollen. Das ist wirklich abartig: Du erzählst in die Kamera, wie großartig das alles ist, aber in deiner Freizeit hilfst zu hektisch beim Kofferpacken, damit deine Verwandten nicht in diese ‚friedensstiftende Spezialoperation‘ reingeraten. Das ist ein kolossales psychisches Trauma, da helfen keine Hypotheken.“

Weitermachen, als wäre nichts geschehen

Nach der Aktion von Owsjannikowa gab es im Ersten Kanal eine „interne Überprüfung“, berichtet die Agentur Interfax mit dem Verweis auf die Pressestelle des Fernsehsenders. In einer offiziellen Erklärung wird Owsjannikowa als „Fremde im Bild“ bezeichnet, ohne Nennung ihres Namens oder ihrer Position. Die Presse-Sekretärin des Ersten Kanals, Larissa Klimowa, beantwortete Meduzas Nachfragen nicht.

Die Arbeit im Ersten Kanal geht nach der Aktion von Marina Owsjannikowa weiter wie zuvor, als wäre nichts passiert, berichtet ein Informant gegenüber Meduza: „Besondere Aufregung war heute nicht zu bemerken. Die Leute machen einfach weiter, es gab keine besonderen Weisungen von oben. Wissen Sie, die arbeiten wie in der Fabrik, ruhig und ohne zu fragen.“

Ein anderer Mitarbeiter des Senders, mit dem Meduza sprach, bestätigte dies: „Noch ist alles ruhig“, sagte er. „Noch ist der Donner nicht angekommen, und es ist noch nicht gesagt, dass er überhaupt ankommt.“

Ende Februar hatte sich der populäre Fernsehmoderator Iwan Urgand auf seiner Sendung „Abendlicher Urgand“ zusammen mit seinem Texter Alexander Gutkow öffentlich gegen den Krieg positioniert, daraufhin wurde seine Sendung abgesetzt, die beliebteste Unterhaltungssendung des Ersten Kanals, vorgeblich wegen „wichtiger gesellschaftspolitischer Ereignisse“. Urgand wollte den Vorfall gegenüber Meduza nicht kommentieren.

Dieser Text stammt von der russischen Online-Plattform Meduza. Weil die Website in Russland gesperrt ist, stellt die Redaktion ihre Artikel der Allgemeinheit zur Verbreitung zur Verfügung.

Sie finden das russische Original auch auf KARENINA.

Deutsche Übersetzung von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann

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