Kunstszene

Schlagstockmalerei in Sibirien

Die freie Kunstszene von Moskau bis Nowosibirsk und Nischni Nowgorod: lebendig, laut und lebensnah

Alisa Yoffe 2019, noch mit Haar auf dem Kopf, den sie aus Solidarität mit Alexei Nawalny kahl geschoren hat.

Die russische und zumal die Moskauer Kunstszene ist mindestens so lebendig wie die in London, New York oder Berlin. Unterstützt von einigen Galerien, Biennalen und insbesondere dem Moskauer Museum für Zeitgenössisches, der Garage, florieren die Performancekunst, Gender-Aktionen, humoristische Street Art, aber auch neue Monumentalmalerei oder Multimedia-Genres. Moskau hat Geld und leistet sich gern teure und medienwirksame Kunstereignisse wie derzeit die Tretjakow-Galerie mit ihrer Romantik-Ausstellung, die mit Bildern aus Deutschland und Russland sowie mit hochkarätigen modernen Einsprengseln bestückt ist.

Bei wem hingegen kaum Geld anzukommen scheint, das sind die Künstler. Der Multimedia-Star Andrej Kuskin, dessen Performance „Im Kreis“, ein stundenlanger Rundgang durch sich allmählich verfestigenden Flüssigbeton, auch auf der Romantik-Schau zu sehen ist, postete kürzlich auf Facebook, dass er keine Kraft mehr habe, Geld zusammenzukratzen, um seine Kinder zu ernähren. Die für ihre Skulpturen aus Metallstreben berühmte Künstlerin Anja Scholud lebt in bitterer Armut in einem Dorf am Moskauer Stadtrand.

Wie die Tretjakow-Galerie erwarteten die meisten Museen von zeitgenössischen Künstlern, dass sie ihnen ihre Werke schenken, sagt der Kunsthistoriker und Kurator Simon Mraz, der von 2009 bis Ende des vorigen Jahres in Moskau das Österreichische Kulturforum leitete und den wir jetzt in seinem mit russischer Kunst vollgestellten Haus in Trautmannsdorf bei Wien per Videotelefonat erreichen. Das stehe in symptomatischem Kontrast zum Galeriegründer, dem Textilkaufmann Pawel Tretjakow, der im großen Stil Gemälde seiner Zeitgenossen kaufte und ihnen auch dadurch seine Anerkennung zum Ausdruck brachte.

Keine Knete: Kreative kommen zu kurz

Mraz findet es bezeichnend, dass, obwohl vor der letzten Kunstbiennale bekannt wurde, dass viele Künstler für das vorige Kunstfest ihr verabredetes Entgelt nicht bekommen hatten, die Biennale-Präsidentin Julia Musykantskaja dadurch keineswegs unter Druck geriet. Daher habe er versucht, Kulturarbeit im europäischen Sinn zu tun und Künstlern, die oft keine Werkstatt hätten, eine Heimat zu geben, statt sie als Investitionsprojekt zu betrachten.

Der Österreicher, der wie wenige das weite Land bereist hat, brachte russische und internationale Künstler an ebenso geschichtsmächtige wie „unerzählte“ Orte – zum Atomeisbrecher „Lenin“ nach Murmansk, zur Kaukasus-Sternwarte in Nischni Archys, in die Hauptstadt des jüdischen Siedlungsprojekts Birobidschan in Fernost –, um deren historisches Gepäck durch neue Kunstwerke zu erschließen. Seine Moskauer Wohnung überließ Mraz immer wieder Künstlern für schöpferische Experimente. Und den relativen Stillstand der Pandemie nutzt er, um gemeinsam mit der Journalistin Kate de Pury ein Buch zu schreiben, das rund achtzig Künstler und ihr kulturelles Umfeld in teils entlegenen Regionen des Landes vorstellt.

Der Londoner Verlag Reaktion will es zum Jahreswechsel unter dem Titel „Russia Contemporary. Free Art from Moscow to Vladivostok" auf Englisch herausbringen. Das Buch solle die Künstler besser bekannt machen, aber auch eine Verneigung vor ihnen sein, sagt Mraz, denn sie seien international vollkommen auf Augenhöhe, dabei in ihrem Werk aber ganz frei von theoretischer Spekulation, alles sei mit Herzblut bezahlt.

Ihm imponiert die 32 Jahre alte Moskauerin Antonina Baever, die sich durch ihren Künstlernamen Genda Fluid einer nichtbinären Utopie verschrieben hat, in der mit sozialen Rollen und Normen auch Leid und Schmerz überwunden werden sollen. Baever, die auch als Sängerin, Dichterin und Kuratorin auftritt, präsentierte unlängst in der Garage ihre „Lockdown-Hymne“, ein meditatives Chorstück mit Bluesanklängen, das die Selbstisolationsdepression und ihre Überwindung im digitalen Raum beschwört. Zuvor ließ sie in der Aktion „Die unreine Kraft der Kunst“ weiße Leinwände durch schmelzenden schmutzigen Schnee „bemalen“.

Kahler Kopf aus Solidarität mit Nawalny

Der 48 Jahre alte Moskauer Performancekünstler Shifra Kazhdan, der den Vornamen seiner Großmutter angenommen hat, feiert durch öffentliche Auftritte in Fantasiekostümen aus Papier den gesellschaftlichen Wert von Fragilität. International erfolgreich ist die vom Punk inspirierte Alisa Yoffe, die weiße Tapeten, Wände oder Textilien mit ihren unverkennbaren schwarzen Pinselzeichnungen im Stil grotesker Kinderzeichnungen bemalt.

Die 33 Jahre alte Yoffe, in armen Verhältnissen in Usbekistan aufgewachsen, hat sich nach der Heimkehr des Oppositionellen Alexei Nawalny und den Protesten gegen seine Verurteilung den Kopf geschoren, als Zeichen der Solidarität mit den politischen Gefangenen. Ihre Monumentalbilder fixieren soziale Antagonismen, schildern Polizeigewalt, daneben gestaltet Yoffe Kleidung für die Modehäuser Comme des Garçons und Bonne Suits.

Eine Synthese von Wissenschaft, Technologie und Kunst sucht hingegen der Moskauer Dmitri Kawarga mit seinen biomorphen Großskulpturen wie jener zerfransten „Einsiedelei“-Aussichtskapsel, die sich auf einem irregulären Metallturmgerüst über einem aussterbenden Dorf bei Sankt Petersburg erhebt.

Nonverbale Poesie in Nischni Nowgorod

Doch auch fern der Hauptstadt entsteht hochklassige Kunst, so in Nischni Nowgorod, wo das dort ansässige Duo Provmyza – für Sergej Proworow und Galina Mysnikowa – autonom vom provinzstädtischen Umfeld in verrätselten Videoperformances und Multimedia-Installationen Versuche von Menschen inszeniert, durch Rituale unklare Bedrohungen zu bannen. Mit ihrer radikalen „nonverbalen Poesie“ sind Provmyza Stars der russischen Kunstszene, waren aber auch schon bei der Biennale von Venedig.

Den exakt entgegengesetzten Weg geht im südrussischen Krasnodar, dessen Kulturkonservatismus notorisch ist, die Künstlergruppe ZIP, die vor zehn Jahren in einer ehemaligen Druckerei das Kunst- und Kulturzentrum „Tipografia“ gründete. Das Lokal, das über einen Ausstellungssaal und eine Bibliothek verfügt und von einem lokalen Sponsor gefördert wird, ist mit Filmvorführungen und vor allem interaktiv-begehbarer Kunst zu einem sozialen Treffpunkt geworden, aus dem schon eine Nachfolgegeneration von Künstlern hervorging.

Mraz‘ besondere Liebe gilt jedoch der jungen Künstlergruppe Zichorie (Zikori) in der von kaum einem Ausländer je besuchten Monostadt Schelesnogorsk, die in den fünfziger Jahren zur Eisengewinnung unweit von Kursk aus dem Boden gestampft wurde. Der Name der an städtischen Unorten gedeihenden Pflanze ist Programm, die Schelesnogorsker Kunsthistorikerin Alexandra Dorofejewa, die in Moskau und Tallinn studiert hat, und ihre um die 25 Jahre alten Mitstreiter wollen in der von ihrer Großvätergeneration erbauten Stadt ein zugleich experimentierfreudiges wie emotionales Verhältnis zum eigenen Ort kultivieren.

Dorofejewa rief dazu die Schelesnogorsker Kunstbiennale ins Leben, die ganz auf kuratorische Vorgaben verzichtet und deren Teilnehmer ihre Arbeiten selbst an die Ausstellungsorte – wie die zum Kunstzentrum umgebaute ehemalige Bäckerei von Dorofejewas Großeltern oder deren Datscha-Schrebergarten – bringen müssen. Im vergangenen Jahr wurde die zweite Ausgabe der Schelesnogorsker Biennale von der Moskauer Kunstmesse Cosmoscow zum besten regionalen Kunstereignis gekürt.

Tanz und Theater bei den Tscherepanows

Selbst die von Gulag-Zwangsarbeitern mit aufgebaute Rüstungsschmiede Nischni Tagil am Ostrand des Uralgebirges besitzt eine Kunstszene mit dem inzwischen nach Jekaterinburg umgezogenen Punkerpaar Anna und Vitali Tscherepanow als Zentralfiguren. Überregional bekannt wurden die Tscherepanows durch Tänze und Theaterperformances, die sie vor Überwachungskameras aufführen und von ihnen aufzeichnen lassen, sowie die Aktion „Würfel“, bei der sie in Moskau, aber auch im westlichen Ausland Werke von Künstlern aus Nischni Tagil an Sammler für Summen verkauften, die Stelle für Stelle erwürfelt werden.

Im sibirischen Omsk floriert die Szene um die inklusive Galerie „Linkes Bein“ (Lewaja noga), wo sowohl Avantgardisten als auch Traditionalisten Werke zeigen und die Vernissagen der jeweils anderen besuchen. Berühmt ist die feministische Künstlerinitiative Nadenka, deren Installation „Frohes Fest! Alles Recht!“ zum Weltfrauentag mit Wäschestücken auf der Leine, die mit Stickbuchstaben mühsam errungene Frauenrechte aufzählten, durch mehrere russische Städte tourte.

Blaue Nasen in Nowosibirsk

Sibiriens Kulturhauptstadt Nowosibirsk brachte die frechen „Blauen Nasen“ hervor, aber auch den politischen Künstler Artjom Loskutow, der die „Monstrationszüge“ am ersten Mai erfand, fröhliche Kundgebungen mit absurden Plakaten, die von Funktionären beargwöhnt und diesmal, angeblich wegen Corona, verboten wurden. Als Nawalny 2019 eine Recherche über die Immobilien, das Flugzeug und die Yacht der Kreml-Journalistin Nailja Asker-Sade und ihren Sponsor, den VTB-Bankier Andrei Kostin, herausbrachte, verkaufte Loskutow, der inzwischen nach Moskau umgezogen war, die Liebespaar-Plakette der beiden aus dem New Yorker Central Park, nachdem Unbekannte sie abgeschraubt hatten, als „Fundstück“ und spendete den Erlös einer Wohltätigkeitsstiftung für die Behandlung kranker Kinder.

Unter dem Eindruck der Polizeischläger, die friedliche Demonstranten gegen Wahlfälschung verprügelten, erfand Loskutow damals auch die von ihm bis heute praktizierte „Schlagstockmalerei“ (Dubinopis). Dabei prügelt er mit einem farbgetränkten Polizeischlagstock auf Leinwände ein, bis diese an Birkenstämme erinnern oder an die brutale Urgestalt einer russischen oder belarussischen Nationalflagge.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 4. Mai 2021 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung erschienen. / © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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