Moskau emigriert in die Kultur
Gegen Repressionen: Moskau verfällt einem Kulturfieber und flüchtet sich in die Romantik
Die Moderatoren des liberalen Radiosenders Echo Moskwy stellen ihren Hörern heute eine Kreativaufgabe. Erfinden Sie Schüttelverse oder einen Witz mit den Worten „Unverschämtheit, Zynismus, Schamlosigkeit“, animieren die Sprecher ihr Publikum. Denn soeben hatte Russlands gerade entlassener Bevollmächtigter beim Europäischen Gericht für Menschenrechte, Michail Galperin, auf Anfrage dieses Gerichts, warum russische Journalisten wegen ihrer Kritik am Putin-Regime verhaftet und mit Strafzahlungen belegt worden seien, erklärt, diese Leute hätten bei ihren Kommentaren eine „Unverschämtheit, einen Zynismus und eine Schamlosigkeit“ an den Tag gelegt, die die öffentliche Moral beleidigten.
Das Humortraining solle auch von den dramatischen Nachrichten ablenken, merken die Moderatoren an. Etwa davon, dass der liberale Politiker Dmitri Gudkow wegen angeblicher Pachtschulden verhaftet worden war und bei etlichen Verwandten Gudkows Haussuchungen stattfanden. Oder davon, dass der Oppositionspolitiker Andrei Piwowarow, der die von Michail Chodorkowski unterstützte Initiative „Offenes Russland“ geleitet hatte, aus dem Flugzeug, das ihn nach Warschau bringen sollte, kurz vor dem Start herausgeholt und Festgenommen wurde, ganz im Lukaschenko-Stil.
Piwowarow droht wegen eines Facebook-Posts eine mehrjährige Haftstrafe. Im Chat von Echo Moskwy tadelt eine Hörerin die Moderatoren, dass sie versuchten, eine heitere Atmosphäre zu erzeugen, während es Mitbürgern schlecht ergehe. Verlegen lachend bittet die Sprecherin die Kommentatorin um Verzeihung.
Die Repressionen ereignen sich vor dem Hintergrund eines Kulturbooms. Moskau leistet sich synchron mehrere Theater-, Musik- und interdisziplinäre Festivals, zugleich erfüllen der betörende Duft und die Farben des blühenden Flieders die Innenstadt und erinnern Kunstliebhaber an die Fliedersträuße des stalinistischen Malers Pjotr Kontschalowski (1876 bis 1956) aus politisch angespannter Zeit. Weihnachtsschmuck in Gestalt glitzernder gläserner Stalaktiten, der über den Fußgängerzonen rund ums Jahr hängen bleibt, fügt einen Hauch Wintermärchenatmosphäre hinzu.
Im Puschkin-Museum, das Vasen, Wandteppiche und Skulpturen von Matisse, Dufy und Denis zeigt, lauscht eine Gruppe junger Leute den Erläuterungen einer Expertin, vor dem Haus erklärt ein Architekturhistoriker Wissensdurstigen die Bauten der Umgegend, in der Tretjakow-Galerie treten sich die Besucher auf die Füße. Dürstet es diese Menschen nach substanzieller geistiger Nahrung oder gar Traumatherapie, wie viele meiner Gesprächspartner überzeugt sind?
In die Kultur emigriert
Er sei regelrecht in die Kultur „emigriert“, bekennt der Kunsthistoriker Sergei Fofanow, der in der Tretjakow-Galerie die deutsch-russische Romantik-Ausstellung mit dem Titel „Träume von Freiheit“ mitkonzipiert hat. Der Rundgang beginnt beziehungsreich mit einer Dokumentation des gescheiterten Aufstands der Dekabristen 1825, die eine Verfassung für ihr Land forderten und die der staatlich produzierte Kinofilm „Bund der Rettung“ („Sojus spasenija“) vor anderthalb Jahren als verwöhnte Hipster-Verschwörer darstellte, denen der französische Champagner zu Kopf gestiegen sei.
Fofanow ärgert das. Die Ausstellung verdeutlicht, dass die meisten Dekabristen sich im Krieg gegen Napoleon hochverdient gemacht hatten und nicht wollten, dass ihr Land zu Leibeigenschaft, Justizwillkür und Zensur zurückkehre. Doch auf dem Petersburger Senatsplatz trat ihnen eine Mauer von Gardesoldaten mit einem Staketenzaun aus Gewehren entgegen, wie ein Gemälde des Hofmalers Adolphe Ladurner zeigt.
Heutige Betrachter erinnert es an die Sonderpolizistenformationen, die die jüngsten russischen Proteste niederschlugen. Und historische Infanteriegewehre vergegenwärtigen, dass die Aufständischen mit den gleichen Waffen niedergeschossen wurden, mit denen sie zuvor Napoleon aus ihrem Land gejagt hatten.
Da politische Freiheit ihnen verwehrt war, schufen die Künstler sich Freiräume in der Fantasie, im Übernatürlichen und in wissenschaftlichen Experimenten. Ein Gigant in dieser Hinsicht war der Universalgelehrte Fürst Wladimir Odojewski (1803 bis 1869), der als Staatsbeamter, Literat, Komponist, Musik- und Elektronikforscher sowie kulinarischer Alchemist zahlreiche alternative Tätigkeitsfelder gleichzeitig kultivierte.
Odojewski, den die Romantik-Ausstellung eigens würdigt, war ein Pionier der fantastischen Prosa, er machte Beethoven in Russland bekannt, schrieb mit „4338“ den ersten russischen Zukunftsroman, in dem die Menschen das Erdklima managen und die Bodenschätze des Monds ausbeuten. In Russland kennt man vor allem Odojewskis Kindergeschichte von der „Kleinen Stadt in der Tabaksdose“, in der ein kleiner Junge ins Innere einer Musikdose gerät und dort sieht, wie deren Klänge von Hämmern erzeugt werden, die auf arme Glockenknaben einschlagen – ein Bild der Gesellschaft als filigraner Gewaltstruktur. Dennoch ist die Figur Odojewskis, der Zeitgenossen als „russischer Faust“ galt und der Puschkin und Dostojewski beeinflusste, heute weitgehend vergessen.
Stadtnomade mit Hoodie
Doch schon während des Corona-Lockdowns im vergangenen Jahr nahm sich auch das Gogol-Center von Kirill Serebrennikow dieses geistigen Grenzüberwinders an und brachte in diesem Frühjahr, kurz nachdem Serebrennikow die künstlerische Leitung des Hauses abgeben musste, ein Odojewski-Drama namens „Mensch ohne Namen“ („Tschelowek bes imeni“) heraus. Das von dem Dramaturgen Valeri Petschejkin, dem Pianisten Pjotr Aidu, dem Regisseur Alexandr Barmenkow, dem Schauspieler Nikita Kukuschkin sowie Serebrennikow gemeinschaftlich erarbeitete Stück versetzt in eine nachtschwarze, mit Klavieren, Laborutensilien und Bildschirmen möblierte Unendlichkeit, mit der dieser im 19. Jahrhundert geborene Renaissancemensch in Beziehung zu treten versucht.
Die Inszenierung lebt von der proteischen Wandelbarkeit und expressiven Akrobatik Kukuschkins, der, zunächst als Stadtnomade mit Hoodie, in seiner Zukunft – unserer Gegenwart – Metrostationen seines Namens sucht, aber nur solche findet, die nach Puschkin, Lermontow, Dostojewski benannt sind. Doch schon trägt er einen eleganten Seidenkaftan und versucht, im Schutz magischer Dämpfe und eines Achtecksterns einen Homunkulus zu zeugen, er bemuttert Holzkugeln, als seien es Knabenköpfe, nimmt die Klaviere auseinander und dehnt ihre Saiten auf die ganze Bühnenbreite. Mit einem Silberdrahtgespinst um den Kopf verwandelt er sich in den von ihm geliebten Beethoven, der seine Isolation durch Taubheit in seinem Werk durchbricht.
Das Moskauer Kulturleben, das manche mit Puschkins Drama „Gelage während der Pest“ vergleichen, bietet für jeden Geschmack etwas. In der Tretjakow-Galerie tritt der oppositionelle Rapper Iwan Alexejew alias Noize MC auf, dessen Konzerte mehrfach verboten wurden, und bekennt sich zum „rebellischen Romantismus“, den er in der Ausstellung verherrlicht findet. Mit besonderer Emphase rappt Alexejew das Mandelstam-Gedicht „Für den dröhnenden Heldenmut kommender Jahrhunderte“, das 1931 die Protestlyrik des Dichters einleitete, die ihn am Ende das Leben kosten würde, wie er dem Publikum erklärt. Die Leute jubeln ihm zu.
Im Puschkin-Museum wird zum Abschluss der Bill-Viola-Schau das Instrumentalstück „Deserts“ von Edgar Varèse aufgeführt, auf das Violas Arbeiten Bezug nehmen, und zwar im Rahmen des Festivals „Kirschbaumhain“ (Bosco di Ciliegi), das die gleichnamige russische Luxusfirma jedes Jahr abhält, weshalb die Besucher mit Prosecco und Kirschen empfangen werden. Das Kunstfest, das sich noch bis November hinziehen wird, wirkt wie eine Antwort auf Tschechows „Kirschgarten“, denn statt Kirschbäume abholzen zu lassen, pflanzen die Bosco-Festredner neue, obendrein nicht Sauer- sondern Süßkirschenbäume. Im Garten des Puschkin-Museums prangen schon zwei Jungpflanzen.
Als nach vier Varèse-Aufführungen in Folge – das Publikum muss ja Distanz halten – der künstlerische Leiter des Musikensembles den Schlagzeugapparat per Kleinlaster ins Konservatorium zurückbringen will, ist es fast Mitternacht, doch zu Russlands Hauptmusiktempel ist kein Durchkommen, Parkplätze und Zufahrtswege sind durch gepanzerte Luxusjeeps blockiert. Denn im Rahmen des Bosco-Festival hat heute hier Placido Domingo gesungen, der an manchen Orten der Welt nicht auftreten darf.
Aus dem Konzertsaal kommen teuer gekleidete Damen, die von Domingo schwärmen, aber nicht sagen können, was er gesungen hat. Dafür trägt jede einen mannshohen Kirschbaumsetzling mit Spaten, das Geschenk an VIP-Gäste. „Diese Leute mit ihrem Geld und den unzufriedenen Mienen sind der Schimmel der Gesellschaft!“, entfährt es dem Musiker, der bittet, seinen Namen zu verschweigen. Um drei Uhr nachts hat er die Instrumente endlich im Fundus verstaut.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 7. Juni 2021 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung erschienen. / © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.