‚Die Menschen sind meine Heimat‘
Der Film „Goodbye, America“: Über die Sehnsucht nach der Fremde und dem Vermissen des Vertrauten
„Tam choroscho, gdje nas njet“ – „Dort ist es gut, wo wir gerade nicht sind.“ Ein geflügeltes Wort im Russischen, das für die Sehnsucht nach der Fremde steht.
Dieser Satz hat literarischen Niederschlag gefunden bei Aleksandr S. Gribojedow, Iwan S. Turgenjew und Anton P. Tschechow. Gleichzeitig ist dieses Sprichwort ein alltäglicher Griff nach allem, was irgendwo besser erscheint als das eigene Leben.
In der Zeit der Sowjetunion wurde damit gerne die ungestillte Reiselust in Länder beschrieben, die nur schwer oder gar nicht zugänglich waren. Dazu spielte sich folgender Dialog ab:
„Wohin wollen wir dieses Jahr nicht in Urlaub fahren?“ Antwort: „Nun, letztes Jahr waren wir nicht in Italien, dafür fahren wie dieses Jahr nicht nach Spanien.“
Im heutigen Russland stehen den Bürgern alle Länder offen. Sie können reisen, wohin sie wollen. Sie können emigrieren, wohin sie wollen. Nach Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland, USA, nach Thailand, Japan. Für die Lust der Russen auf Erfahrungen im Ausland scheint es keine Grenzen zu geben.
Oft handelt es sich nur um Ferien, nach denen man in den Kreis der heimischen Familie zurückkehrt. Doch viele Millionen Russen sind emigriert und leben nun ständig außerhalb ihrer alten Heimat. Die genaue Zahl ist nicht bekannt. Schätzungen liegen zwischen 20 und 30 Millionen.
Und damit erhält das Sprichwort „Tam choroscho, gdje nas njet“ einen völlig neuen Charakter. Plötzlich wird die russische Heimat zum Sehnsuchtsort, an dem man eben nicht mehr ist. Das gilt sicher nicht für alle, aber doch für viele Russen, die im Ausland bereits die nachwachsende Generation ihrer Kinder erleben, die nicht mehr täglich mit ihrer Babulja (Oma) plaudern und kuscheln können, die nicht mehr täglich deren vertraute Sprache, Lieder und Gedichte hören können.
Genau hier setzt der russische Film „Goodbye, America“ an, der hoffentlich bald wieder in deutschen Kinos gezeigt werden kann. Um es vorwegzunehmen: Auch gestandene russische Mannsbilder haben schon mit feuchten Augen nach diesem Film das Kino verlassen. Denn er berührt die TOCKA, jene russische Seelenschwere und Empfindsamkeit, für die es keine angemessene deutsche Übersetzung gibt.
Die Handlung ist schnell erzählt. Es werden verschiedene biografische Stränge zwischen russischen Auswanderern und ihren Kindern in den USA geknüpft, die zwar wirtschaftlichen und finanziellen Wohlstand gefunden haben, nicht aber eine echte Heimat. Zum Kernsatz dafür wird die Aussage: „Wir sind aus Russland weggefahren, aber Russland nicht aus uns.“
Tragikomisch ist die ergebnislose Suche ausgewanderter Juden in Kalifornien nach einem jüdischen Restaurant, das echte „gefillte fisch“ servieren kann. Herzzerreißend ist ein Telefonat, in dem die Enkeltochter trotz Verbot ihrer Eltern die zurückgelassene Oma in der alten Heimat anruft; die Oma singt am Telefon russische Kinderlieder vor, die tief im Unterbewusstsein der „amerikanisierten“ Enkeltochter überdauert haben. Und dann ist sie plötzlich wieder da, diese seelentiefe Schwermut und Sehnsucht, nach etwas, wo man gerade nicht ist.
Die Internet-Kommunikation zwischen der ausgewanderten Tochter in Kalifornien und ihrer ebenfalls ausgewanderten Mutter in Chicago findet nicht über Skype oder WhatsApp statt. Beide nutzen – obwohl in den USA – Odnoklassniki, eine Art russisches Facebook. Gerade durch die Migration sind diese russischen sozialen Netzwerke wie Odnoklassniki oder VKontakte auch in westlichen Ländern sehr verbreitet.
Nachdenklich macht den Zuschauer das Rollenspiel eines ausgewanderten und sehr erfolgreichen russischen Geschäftsmanns, der – inzwischen mit amerikanischem Pass und amerikanisiertem Namen – seine Abstammung lieber mit polnisch ausgibt, weil man in den USA „mit Russen kein Business machen kann“. Doch noch schlimmer ist es für ihn, als seine Mutter in Moskau stirbt und er als gebürtiger Russe und naturalisierter Amerikaner ein Visum braucht, um wieder nach Russland zu fahren.
Der Film verschweigt auch nicht, warum viele Russen ausgewandert sind. „Ich erinnere mich gut, als Mama drei Jobs hatte zum Überleben. Ich möchte nicht, dass mein Kind so aufwächst“, hält ein junger Vater seiner Frau vor, die sich wieder nach der russischen Heimat sehnt.
Der Film „Goodbye, America“ ist umrahmt von Gedichten berühmter russischer Poeten der Gegenwart. Vorangestellt sind die letzten Zeilen von Jewgeni Jewtuschenko aus seinem Gedicht „Ljudi – rodina moja“. Darin gibt er als Vermächtnis an seine Kinder die Worte des gleichnamigen Gedichtes weiter: „Die Menschen sind meine Heimat.“
Und diese Menschen, so der Film, tragen ihre Heimat in sich.
Der Film endet mit Zeilen von Joseph Brodsky, in denen er sinniert: „Du kommst zurück in die Heimat. Und dann...“.
Brodsky wurde in der Sowjetzeit zwangsexiliert, durfte zum Tod seine Mutter nicht nach Leningrad reisen und hat sich nach dem Zerfall der Sowjetunion geweigert, jemals wieder nach Russland zu fahren. Er starb 1996 in New York. Jewgeni Jewtuschenko, das frühere enfant terrible der russisch-sowjetischen Literatur, lebte seit 1991 überwiegend in den USA und starb 2017 in Tulsa (Oklahoma).