Der Albtraum des Übersetzers
Es ist die nächste Seite, sagt Dmitri Koltschigin, der im Rahmen des Deutschlandjahrs in Russland 2020/2021 mit dem Merck-Übersetzerpreis ausgezeichnet wurde – für die Übertragung von Grimms Werk „Deutsche Mythologie“ ins Russische (Verlag LRC, Moskau, 2018)
Andrei Archangelski: Grimms Werk ist so gewaltig, dass man die Empfindung hat, man brauchte für die Übersetzung ein ganzes Leben. Man muss mit diesem Material leben, sich hineinfühlen. Hat es auf Sie wirkt? Haben Sie sich als echter alter Germane gefühlt?
Dmitri Koltschigin: Die Zeitgenossen haben Jacob Grimm als äußerst gutmütigen Menschen beschrieben. Dabei hatte manch einer seiner Gesprächspartner schlicht Angst vor seiner Gelehrtheit. Nicht Bewunderung und nicht Ehrfurcht, sondern richtige Angst, im direkten, profanen Sinne. Man versteht eigentlich nicht, wie ein Mensch in einem Leben eine so enorme Masse an Material verarbeiten kann.
Heinrich Heine sagte angesichts von Grimms „Deutscher Grammatik“ einfach nur: Grimm habe offensichtlich seine Seele an den Teufel verkauft, denn ein Wissenschaftler allein kann nicht in ein paar Jahren die Arbeit eines Jahrhunderts einer ganzen Akademie bewältigen. Und tatsächlich hat ja eine ganze Akademie die Arbeit am „Deutschen Wörterbuch“ nach Jacob Grimms Tod über ein Jahrhundert lang weitergeführt.
Sie haben Recht, die Übersetzung der „Deutschen Mythologie“ (oder eines anderen großen Buchs von Grimm) ist an sich nur möglich nach einer langen Vorbereitungsarbeit. Allein die Lektüre aller unmittelbaren Begleitwerke kann Jahre erfordern. Innere Veränderungen sind dabei nicht zu vermeiden.
Gottes gute Laune ist die Voraussetzung für die Erschaffung hervorragender Menschen, sagt Grimm. Ein Übersetzer gleicht einem höheren Wesen: Er erschafft den ganzen Planeten neu – nur in einer anderen Sprache.
Ein Übersetzer ähnelt eher einem Hierophanten, der im Namen der Gottheit spricht. Er hat wie er die Verantwortung und die Pflicht des Dienenden. In „Deutsche Rechtsalterthümer“ – ebenfalls ein grundlegendes Werk – untersucht Jacob Grimm die Form und die (profane und sakrale) Bedeutung altgermanischer Termini für Schuld. Im Besonderen begegnen wir dort dem gotischen Wort „Dulgiskula“, in dem Grimm die altslawische Wurzel „Dolg“ – also „Pflicht, Schuld“ untersucht. Bevor man sich an eine solche Aufgabe begibt, die im Grunde längst überfällig war, jedoch von der Geschichte für Jahrzehnte aufgeschoben wurde, muss man sich zunächst selbst von dem Gefühl der Schuld durchdringen lassen, die Last der Verantwortung auf sich nehmen, sich aufbürden.
Es gibt Grund für die Annahme, dass sich in der russischen Kultur seit dem 19. Jahrhundert eine Schuld gegenüber Grimm angehäuft hat. Und dabei ist Jacob Grimm, obwohl ein Klassiker, ein Patriarch und ein Begründer in jeder Hinsicht, auf wunderbare Art und Weise ein lebender Autor geblieben. Man streitet mit ihm, man schreibt über ihn (und zwar viel, und nicht nur in Deutschland), man findet bei ihm immer wieder etwas Neues.
Für die Denkmale der Brüder Grimm wurde wahrscheinlich mehr Marmor verarbeitet als für die ganze Dynastie der Ptolemäer zusammengenommen. Dabei hat Grimm sich selbst nie auf den Sockel gestellt.
Grimm fehlt uns im russischsprachigen Raum: Grimm ist bei uns bis heute ein Autor der Enzyklopädien, mehr gelobt als gelesen. Deshalb bestand für die Übersetzung eine Aufgabe auch darin, den echten, den ganzen Grimm in den akademischen (und nicht nur den akademischen) Diskurs zurückzuführen, in den wissenschaftlichen Gebrauch.
Auf der anderen Seite ist der mythologische Gott bisweilen auch ein Gott „des Zorns und der Rache“, wie Grimm schreibt. Wie kann ein Buch sich an einem nachlässigen Übersetzer rächen? Was ist das überhaupt – der Angsttraum eines Übersetzers? Ein fataler Fehler?
Die Heiden und Halbheiden (die ersten Christen und Mehrfachgläubigen) hatten, wie Grimm zeigt, zu ihren Göttern oft ein ganz pragmatisches Verhältnis, ein gewissermaßen funktionales: Wenn die Götter ihnen lästig waren oder nicht ihre Pflicht taten, dann wurden sie bestraft: ausgepeitscht, ertränkt oder verjagt. In mittelalterlichen Gedichten bittet Karl der Große Gott nicht um Hilfe, sondern er fordert sie und droht, die Kirche aus seinen Ländern zu vertreiben.
Auch Bücher können sich sehr gut rächen. Eine Übersetzung offenbart schnell jeden Mangel im kulturgeschichtlichen Wissen eines Übersetzers. Aber wahre Albträume für den Übersetzer gibt es vor allem zwei: die nächste Seite und ein Fehler des Autors. Der erste Fall tritt ein, wenn man in einem Text auf etwas völlig Unverständliches stößt, auf ein Hindernis erster Ordnung, das zum Scheitern der ganzen Arbeit führen, die Vorwärtsbewegung der neuen Sprache zerstören kann. Der zweite Angstraum ist, wenn dir scheint, dass der Autor fehlgegangen ist und deine Hilfe braucht. Im ersten Fall erleidet der Übersetzer einen Niederschlag, im zweiten der Autor; am Ende aber ist immer der Leser das Opfer.
Ihre Übersetzung dieses grimmschen Werks ist, wie es heißt, die erste Übertragung ohne Auslassungen und Kürzungen. Gemeint sind vor allem die zahlreichen Anmerkungen, die im Original nicht weniger als ein Drittel des Buchs ausmachen, Hunderte von Quellen, darunter viele seltene und kaum bekannte. Waren für die Suche nach diesen Quellen zusätzliche Recherchen in Deutschland notwendig? Und wie viel Zeit haben Sie insgesamt in Bibliotheken verbracht?
Nach der ersten Ausgabe von 1878 erschienen in Deutschland eine Vielzahl gekürzter Varianten der „Deutschen Mythologie“, etwa solche für die „studierende Jugend“ oder vereinfachte „Volksausgaben“. Für die russische Übersetzung sind sie vollkommen ungeeignet. Unsere „Deutsche Mythologie“ entspricht der vollständigen deutschen Publikation, nur dass sie durch die Übersetzungen der Zitate und zusätzlichen erklärenden Kommentare noch umfangreicher ist. Zum ergänzenden Material gehört auch eine Literaturliste. Grimm selbst hat seine Quellenangaben nie vollständig ausgeschrieben (das war zu seiner Zeit nicht üblich), und sich in seinen Abkürzungen zurechtzufinden ist eine Aufgabe, die der Übersetzung an sich durchaus gleichkommt.
Das Buch enthält etwa 4000 Quellenangaben, darunter Klosterglossare, alte Rechnungsbücher, Jagdbreviere in gebrochenem Mittelniederdeutsch, Schwänke und Fastnachtsspiele, womöglich noch in Form von Inkunabeln, topographische Traktate aus dem 16. Jahrhundert oder Bücher über Drüsenentzündungen. Die Quellenangaben sehen dabei in etwa so aus: „Jun.“, „K.“, „Mons“, „O.Sal.“.
Unter solchen Bedingungen nützte die beste Bibliothek nichts. Der einzige Weg ist, nach der ursprünglichen Quelle zu suchen, also zunächst einmal alle Hinweise Grimms auf ein ganz bestimmtes Buch zu sammeln. (Diese Hinweise können bis zu 25 verschiedene Erscheinungsformen haben!) Sodann fängt man an, daraus irgendwelche Schlüsselbegriffe, Namen oder Zitate herauszufiltern, mit denen man sich auf die eigentliche Bibliotheks-Odyssee begeben kann. Zum Glück arbeiten die größten europäischen Bibliotheken intensiv daran, ihre alten Bestände zu digitalisieren, ansonsten wäre es ganz unmöglich, eine solche Masse von Literatur in einer Bibliothek, in einer Stadt, oder sogar in einem Land zu erfassen.
Natürlich gibt es in der „Deutschen Mythologie“ auch zahlreiche unkomplizierte, leicht dechiffrierbare Quellen, aber es gibt auch wahre Rätsel. Insgesamt hat mich das Literaturverzeichnis etwa ein halbes Jahr täglicher Suche im bibliothekarischen Sinne gekostet. Aber das ist ja eigentlich nur logisch – schließlich hat Grimm sein ganzes Leben als Bibliothekar gearbeitet, also muss sein Übersetzer ihm darin folgen.
Woher kommt Ihr Interesse an deutscher Kultur und Sprache? Hört man in der modernen deutschen Sprache denn einen Widerhall der alten Glaubensrichtungen und Sitten?
Das Interesse zu allem Deutschen ist bei mir eng mit dem Namen Richard Wagner verbunden. Wagner beschreibt in seiner Autobiografie ausführlich seine Erfahrungen mit der „Deutschen Mythologie“. Am Anfang klagt er sehr darüber, wie schwer dieses Buch sei, aber dann, sagt er, ergreift den aufmerksamen und geduldigen Leser das Gefühl der wiedergewonnenen Kindheit. Grimm und Wagner, das sind die Stützpfeiler meiner Germanophilie.
Über Wagner lernt man Grimm kennen. Über Grimm Wagner. Sie beide hörten aus der Umgangssprache den Widerhall der Sprache des Altertums heraus. Kleinste Personifizierungen, sowie in das Fleisch der Sprache eingegangene tote Metaphern und juristische Termini, Namen von Kräutern, Tieren und Krankheiten – in all dem glimmen die Funken des alten Volkstums. Allgemeingebräuchliche Worte wie „Frau“ oder „Wunsch“ können plötzlich in die nebligen Tiefen der Geschichte vordringen. Alte sakrale Begriffe und sogar frühere Bezeichnungen der Nachbarvölker findet man – Sie werden nie darauf kommen – in gebräuchlichen Hundenamen wieder. Was zum Beispiel ist gewöhnlicher als die Namen der Wochentage? Aber mit ihnen gehen auch die alten Götternamen von Mund zu Mund. Und wo die Namen sind, sind die Götter selbst nicht weit.
Dieses Interview ist im Dezember 2020 in der russischen Ausgabe der Zeitung "Petersburger Dialog" erschienen. Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann