Keine Amnestie für Amnesty
Mit seinem Lavieren im Fall Nawalny hat Amnesty International „dem Westen“ einen Bärendienst erwiesen
Alexei Nawalny ist seit Nelson Mandela der bekannteste politische Gefangene des Globus. Für Wladimir Putin war Nawalny wegen der Empörung über dessen Vergiftung und die Inhaftierung nach Rückkehr aus Deutschland sowie sein Video über „Putins Palast“ ein schmerzender Splitter im Fleisch. Da kam es für den Präsidenten und seine Apologeten zur rechten Zeit, dass der interne Beschluss von Amnesty International bekannt geworden war, Nawalny nicht mehr als „prisoner of conscience“ (POC) zu führen, frei übersetzt in Deutschland: „gewaltloser politischer Gefangener“.
Der Grund: nationalistische und rassistische Äußerungen Nawalnys in der Vergangenheit. Die Vorfälle ordnete Amnesty als „nahe an der Grenze zu Hass und Hate Speech“ ein. Außerdem habe Nawalny dafür nie um Entschuldigung gebeten.
Putins Propaganda-Armee verbreitete die Botschaft von 23. Februar an nicht nur im Land, sondern auch über die englischsprachige Internetseite des Staatssenders RT.
Die meinungsführenden Medien in Deutschland hüllten sich diesbezüglich zunächst in Schweigen. Inzwischen heißt es, das alles sei altbekannt. Es würden „Vorwürfe aus Nawalnys Vergangenheit aufgewärmt, als der Politiker in Kreisen von Nationalisten nach Verbündeten gegen Putin suchte“.
So einfach ist das nicht.
1. Richtig ist, dass Journalisten, die sich mit Russland beschäftigten, ebenso wie interessierte Leserinnen Nawalnys nationalistische, rassistische Vergangenheit kennen konnten. Aber wen interessierte das?
2. Amnesty behauptet, man sei auf die Vorwürfe gegen Nawalny erst kürzlich „aufmerksam gemacht“ worden: seine Ausfälle gegen Flüchtlinge und kaukasische Migranten („Kakerlaken“), seine Sorgen für „die Nöte ethnischer Russen“, seine Absage an den westlichen Liberalismus und sein Unterhaken bei Rechtsextremisten auf den „Russischen Märschen“. Wenn zuträfe, dass die westlichen Medien darüber umfassend berichtet haben, dann drängt sich die Frage auf: Lesen die Verantwortlichen bei Amnesty in London keine Zeitung?
3. Trotzdem ist von Amnesty zu hören, man habe Nawalny nicht schaden wollen. Obwohl Nawalnys Aussagen gegen die Satzung von Amnesty verstoßen, die „Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte“ schützen will und gleiche Rechte für alle Menschen und gegenseitigen Respekt fordert.
4. Heißt das, man wollte es nicht wissen? Weshalb? Das könnte der, freilich trügerischen, Hoffnung geschuldet sein, der Oppositionspolitiker könnte die äußerst heterogene Opposition, gar das russische Volk hinter sich sammeln und den Menschen- und Völkerrechte verletzenden Präsidenten beerben. Nicht nur ehemalige Weggefährten, beispielsweise bei der liberalen Partei Jabloko, melden erhebliche Zweifel an.
5. Weil Amnesty üblicherweise niemanden unterstützt, der „in Kreisen von Nationalisten nach Verbündeten“ gesucht hat, entsteht der verheerende Eindruck, die Organisation lege ihre Maßstäbe willkürlich an.
6. Mit seinem langjährigen Schweigen und seinem heimlichen, aber nicht zu verheimlichenden Rückzug hat Amnesty allen geschadet außer Putin: Nawalny, der westlichen Wertegemeinschaft und sich selbst.
Ob Nachlässigkeit oder falsche Solidarität: Amnesty hat seine eigenen Grundsätze preisgegeben, Menschenrechtsverstöße „systematisch und unparteiisch“ zu untersuchen. Möglicherweise ist Amnesty sogar Opfer seiner eigenen, dem Zeitgeist entsprechenden Definition von Gewalt geworden, der man aber im Fall Nawalny nach den Anschlägen auf sein Leben nicht folgen wollte.
Amnesty hat nun ein Problem, das die Organisation klären muss: Nelson Mandela galt ihr als politischer Gefangener, obwohl er – anders als Nawalny – zu physischer Gewalt aufgerufen hatte. Die Menschenrechtsorganisation muss die Frage beantworten: Könnte sich einer wie der Südafrikaner heute noch darauf verlassen, als „prisoner of conscience“ gelistet zu werden? Und bei einem Nein: Warum nicht?