Russland: Die Verantwortung bleibt
Wir können die deutsch-russische Katastrophe nicht an Europa delegieren
Ich liebe Portugal. Jenes sanfte Land am westlichsten Rand Europas. Mit seinen leisen, zurückhaltenden Menschen, die der Blick aufs Meer geprägt hat und eine Jahrhunderte alte Sehnsucht nach Heimkehr.
Ich weiß auch um Ferdinand II., jenen eigenwilligen Künstlerkönig aus dem Hause Sachsen-Coburg und Gotha, der sich seinen Kummerpalast Pena in den Mondbergen oberhalb der großen Seefahrerstadt Sintra hat bauen lassen und im Gedächtnis seiner Landsleute bis heute als der deutscheste und der kunstsinnigste ihrer Monarchen lebendig geblieben ist.
Für Ludwig II. war dieser Palácio Nacional da Pena das Vorbild für sein Neuschwanstein und Richard Strauß hat darin die glücklichsten Tage seines Lebens verbracht.
Erbaut wurde er von dem berühmten Brasilienforscher Wilhelm Ludwig von Eschwege, der im Hessischen geboren später zum korrespondieren Mitglied der Akademie in Sankt Petersburg wurde.
Europäischer geht kaum.
Und es spielt auch kaum eine Rolle, ob man dabei über das besondere deutsch-portugiesische Verhältnis nachdenkt oder über die gemeinsame Kultur Europas.
Es meint doch immer das Besondere, das jeweils Einzigartige der Beziehungen. Denn genauso wenig, wie sich das deutsch-französische Verhältnis verallgemeinern lässt, so wenig gelingt das für das deutsch-russische.
Die Geschichte hat eben manche Völker enger und zuweilen tragischer miteinander verbunden als andere.
Diesen Unterschied in einer abstrakten Rede über Europa verschwinden zu lassen, wäre ein großer Verlust. Ein Verlust an historischem Wissen, aber auch ein Verlust an gemeinsamer Zukunft. Denn es gibt Perspektiven, die man nur aus dem Reservoir einer gelebten Erinnerung wiedergewinnen kann.
Nur bestimmte Länder waren zur schicksalshaften Rolle füreinander bestimmt, und das gilt ganz besonders für Deutschland in seiner prekären Mittellage zwischen West und Ost. Man kann die deutsche Verantwortung zu einer gesamteuropäischen Sache erklären; man kann sie transnationalisieren und ihrer besonderen Bedeutung entkleiden. Aber was ist damit erreicht?
Die Stimmen werden lauter, die das deutsch-russische Verhältnis an die europäische Union delegieren wollen; so wie die Historiker überhaupt ihre Sicht auf die jüngere Vergangenheit am liebsten zu globalisieren versuchen. Das mag manchen Erkenntnisgewinn bringen. Aber um welchen Preis? Im deutsch-russischen Verhältnis soll der wachsenden Entfremdung und Verständnislosigkeit füreinander, wohl jetzt noch die wissenschaftliche Rechtfertigung folgen.
Die deutsch-russische Geschichte, die in ihrer ganzen Tragik auch den Schlüssel zum furchtbaren Ende der deutschen, von Deutschland verschuldeten Katastrophe birgt, würde damit eingelagert werden in ein Verantwortungsmandat, das keine wirkliche Verantwortung kennt.
Wir dürfen es der deutschen wie der russischen Politik nicht zu einfach machen. Wir müssen sie weiterhin messen an ihrem Willen, das Verhältnis zwischen beiden Ländern wieder zum Guten wenden zu wollen.
Ein Verhältnis, das der gemeinsamen Geschichte inzwischen ebenso Hohn spricht, wie der verbliebenen Hoffnung auf eine gedeihliche Zukunft.
Die europäische Idee war dort, wo sie ernst wurde, nie abstrakt. Sie war immer Teil eines großen Gesprächs zwischen den verschiedenen Traditionen Europas. Vielleicht müssen wir uns am Ende dieses von Corona gebeutelten Jahres alle wieder daran erinnern. Die Verantwortung für das Ganze beginnt an den eigenen Grenzen.