Die schweigende Mehrheit
Was es für Russen bedeutet, wenn ihr Land immer wieder am Pranger steht
Wer Charlotte Knoblochs warnenden Worten im Deutschen Bundestag zum Gedenken der Befreiung von Auschwitz mit offenen Herzen zugehört hat, dem wird ihr Bekenntnis zum eigenen Land, aber auch ihre Bitte, auf dieses Land aufzupassen, lange noch nachgeklungen haben. Ein junger russischer Kollege, mit dem ich darüber sprach, hat mir diesen Eindruck bestätigt.
Aber dann fügte er einen Satz hinzu, auf den ich – offen gesagt – nicht gefasst war. Warum, fragte er, sprechen die deutschen Medien nur in der passiven Wendung davon, dass Auschwitz befreit wurde. Warum sagen sie nicht, dass es sowjetische Soldaten waren, die dafür mit ihrem Leben bezahlten.
Es gibt Momente, bei denen es wohl besser ist, auf eine Rechtfertigung zu verzichten. Und es gibt genügend Berichte in deutschen Medien, die diesen Zusammenhang eben nicht unerwähnt ließen.
Was mich vielmehr beschäftigt, ist der Grad an Verletztheit, der aus diesem Einwand spricht, und der eine vollständige Wahrnehmung gar nicht mehr zulässt. Was ist bei diesem jungen Mann passiert, der mit seinem eigenen Land über Kreuz liegt, dass er so reagiert.
Man bekommt eine Ahnung davon, was es für viele Russen bedeutet, wieder am Pranger zu stehen. In den Familien am legendären Abendbrottisch wird ein solches Gespräch kaum anders verlaufen.
Die Russen seien ein stolzes Volk, hat mir meine russische Gesprächspartnerin jüngst erklärt, die schon lange in Deutschland lebt und sich um die parlamentarische Demokratie in unserem Land verdient gemacht hat. Aber können wir einen solches Wort wie Stolz überhaupt noch verstehen? Auch wenn Charlotte Knobloch jüngst davon sprach?
Für viele professionelle Beobachter Russlands sind die Fronten geklärt: Das Regime steht gegen eine wachsende Opposition. Aber wo bleiben die Übrigen? Jene, die man so gerne als „breite Masse“ abtut? In Deutschland hätte man früher von einer schweigenden Mehrheit gesprochen. Was bewegt diese Menschen wirklich?
Wir wissen es nicht. Wir können nur Vermutungen anstellen. Neulich habe ich gelesen, der legendäre Sowjetmensch käme jetzt wieder; jener ideologische Homunculus, bei dem man nicht weiß, ob er der sowjetischen Erziehungsdiktatur entsprungen war oder der westlichen Wahrnehmung.
Doch wann haben die Beobachter aus der Ferne schon richtig gelegen, was die Verhältnisse im Osten angeht. Das jüngste Beispiel ist Belarus und der plötzliche Widerstand auf der Straße. Da tritt über Nacht eine entschlossene, junge Generation in Erscheinung, und wir müssen uns fragen: Warum hat das keiner gesehen, warum hat fast niemand von ihr etwas gewusst?
Vieles von dem, was in Moskau, Irkutsk oder Jekaterinburg heute gefordert wird, deckt sich mit unseren Werten. Aber wir sollten einen Fehler nicht wiederholen: zu glauben, dass die Freiheitsbewegungen im Osten nur eine Kopie dessen sein wollen, was der Westen schon ist.
Das hat in den neunziger Jahren zu jener tiefen Enttäuschung geführt, die fast alle politischen Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft aufgefressen hat. Vielleicht sind die jetzigen Zustände noch von Dauer. Vielleicht enden sie jäh und fast über Nacht.
Wir sollten gewappnet sein. Aber wir sollten den Unterschied auch ertragen: Was es heißt, ein stolzes Volk zu sein. Das müssen die Menschen in Russland selber entscheiden. Nur so kann ein ziviles Gespräch zwischen zivilen Gesellschaften wieder entstehen.