Die Demokratie muss Vorbild sein

Wer unser politisches System für das beste hält und es anderen Völkern empfehlen will, muss sich selbst an seine Regeln halten

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Schon als die Sowjetunion noch existierte, wusste Richard von Weizsäcker: Die Demokratie ist nicht vollkommen, die Mehrheit hat nicht immer Recht.

Aber die Überlebensfragen der Menschheit seien „nirgendwo mit einer größeren Chance auf Erfolg“ zu behandeln als in der Demokratie, sagte er 1984 bei seiner Amtseinführung. Denn die sei „offener und lernfähiger als jede andere Regierungsform“ und fähig zur Korrektur. Die Demokratie ermögliche den „Weg zum Wandel in Frieden“.

In der Demokratie ist das Recht der Maßstab fürs Zusammenleben. Der Staat und seine Organe sind daran gebunden.

In der Demokratie haben die Menschen nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte, jeder Mensch die gleichen.

Dazu gehören die Freiheit der Rede und der freien Versammlung sowie die Freizügigkeit.

So sollte es sein, das ist das Versprechen.

Wer die Demokratie für die beste aller Regierungsformen hält und sie anderen Staaten und Völkern empfehlen will, muss sich selbst an seine Regeln halten, muss Vorbild sein.

Ein schlechtes Beispiel gibt, wer die großen Fragen der Zeit noch immer durch Eisen und Blut entscheiden will, wie Bismarck es nannte, statt durch Gespräche und Mehrheitsbeschlüsse. Das sollte in atomaren Zeiten für alle Regierenden gelten.

Wer Putin das Festklammern an der Macht vorwirft, sollte selbst den demokratischen Gepflogenheiten entsprechen und abtreten.

Wer sich – zurecht – über russische oder belarussische Polizisten erregt, die auf friedliche Demonstranten einprügeln, darf sich auch im Alltag der einen oder anderen Demokratie umsehen.

Ein Volk, das Klimaschutz ernst nimmt und Russland vorwirft, an der fossilen Energie festzuhalten, sollte Autos bauen, die russische Oligarchen nicht kaufen.

Wer sich um Abhängigkeit Europas von Gas aus Russland sorgt, sollte dort nicht selbst Öl kaufen.

Derartige double standards entzaubern die Demokratie. Wenn Demokraten mit zweierlei Maß messen, verspielen sie Glaubwürdigkeit.

Selbstverständlich kann Russland schwerlich als Demokratie nach westlichem Verständnis bezeichnet werden. In Demokratien werden keine Regimegegner auf offener Straße ermordet und keine Journalisten, sie werden höchstens entlassen.

Es gibt eine lange Reihe von Vorwürfen, die sich die Machthaber im Kreml gefallen lassen müssen.

Aber wenn die Demokratien selbst kein Vorbild liefern, woraus sollten die Menschen in Russland ihr Vertrauen schöpfen, eines Tages in wirklich demokratischen Verhältnissen leben zu können?

Wie sagte Richard von Weizsäcker 1984, als es noch die UdSSR gab? „Auch fördert es den Frieden nicht, die Welt in gut und böse einzuteilen.“

Die Ost-West-Beziehungen dürften sich „nicht in Sicherheitsfragen er­schöpfen“. Friedliche Zusammenarbeit weise den Weg zur Abrüstung.

Zusammenarbeit, das setzt Verstehen voraus, den Argumenten der anderen Seite zuzuhören, sie zu berücksichtigen, einen Kompromiss zu suchen.

Den Weg zum Frieden ebnet der Dialog.

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