Die archaische Demokratie
Die Bilder aus Amerika sind ein gefundenes Fressen für alle autoritären Systeme – auch für Russland
Am Abend des Tages, an dem ein in Teilen wohl auch gesteuerter Mob das Kapitol in Washington stürmte, zeigte das russische Staatsfernsehen ganz andere Bilder. Nicht die Krawalle in Amerika waren die Spitzenmeldung, sondern ein Staatspräsident Putin, der im Nordwesten seines Landes auf einer kleinen Insel im Ilmensee einen Gottesdienst besuchte und das russische Weihnachtsfest feierte. Seht her, sollte das heißen: in unserem Land geht es friedlich zu, während im Westen, im Herzland der westlichen Welt, die Anarchie auf den Straßen tobt.
Die Botschaft war unmissverständlich. Die Bilder aus Washington dienten dann nur als Beleg, in welch schlechter Verfassung die demokratischen Verhältnisse in Amerika sind; „archaisch“ nannte die Sprecherin des russischen Außenministeriums das amerikanische Wahlsystem.
Nun werden solche Kommentare niemanden verwundern; verwunderlich wäre eher gewesen, wenn wir gar nichts zu hören bekommen hätten. Denn auch die zweite Botschaft war unmissverständlich. Wir scheren uns nicht um die inneren Angelegenheiten der USA, hieß das. Aber mischt ihr euch gefälligst auch bei uns nicht mehr ein.
Natürlich waren die Bilder aus Amerika ein gefundenes Fressen für alle autoritären Systeme, und einige haben das weidlich genutzt. Aber man fühlt sich doch hin- und hergerissen bei der Frage, welcher Eindruck womöglich verheerender gewesen wäre: Ein Kapitol, das in dieser ehrwürdigen alten Demokratie inzwischen mit der Nationalgarde verteidigt werden muss? Oder eine mehrheitlich liberale Gesellschaft, die sich den Stil und das politische Klima nicht von Extremisten aufzwingen lässt.
Verständlicherweise rätselt man jetzt darüber, warum die Polizei so versagt hat, und ob es womöglich eine hidden agenda gab. Aber mit einigem Abstand könnte man auch gelassener auf diese Ereignisse blicken. Am Ende waren die demokratischen Traditionen dieses Landes eben doch stärker als alle Versuche, sie zu zerstören. Am Ende haben eben doch jene obgesiegt, die mit Zorn und Verzweiflung zusehen mussten, wie ihr Land immer mehr auf den Abweg geriet. Die unverwüstliche Nancy Pelosi, die Sprecherin des amerikanischen Repräsentantenhauses, reckte siegesgewiss ihren Arm. Sie ist die Verkörperung dieses Triumphs geworden.
Wären uns Szenen denn wirklich lieber gewesen, die gezeigt hätten, wie ein normaler, verfassungsgemäßer Vorgang nur noch unter Polizeischutz und in hochbewaffneten Festungen stattfinden kann? Hätte so das Bild einer wehrhaften Demokratie ausgesehen?
Sicher, die an Nachlässigkeit grenzenden Vorkehrungen hätten fast in die Katastrophe geführt. Aber eine freie Gesellschaft lässt sich eben nicht völlig verriegeln. Für ihre Offenheit nimmt sie das Risiko und die Verletzbarkeit ganz bewusst mit in Kauf. Es ist eben kein Zynismus, dies angesichts der Bilder von Washington zu sagen: Wir schätzen die freie Welt! Eine andere wollen wir nicht.
Das heißt keineswegs, ihre Gefährdung zu ignorieren. Wir leben in Zeiten, die nicht mehr harmonisch sind. Seit Jahren geistert das Wort von der Großen Transformation der modernen Gesellschaft wieder herum. Aber wenn man mit solchen Begriffen nicht nur in Debattensalons imponieren will, dann heißt das auch anzuerkennen, welche soziale Sprengkraft in historischen Übergangsphasen steckt.
Jetzt muss sich freilich zeigen, ob unsere Demokratien diesem politischen Stresstest gewachsen sind. Nach Ordnungsgewalt und Sanktionen zu rufen, ist keine Lösung. Aus Friedhofsruhe, das wissen auch unsere Freunde in Moskau, wächst keine gute Zukunft heran.