„Russland ist jetzt eine Diktatur“
Denis Oding, 51, Künstler, Organisator von Festivals, St. Petersburg: „Ich bin ethnischer Deutscher“
In den vergangenen zwei Jahren habe ich in St. Petersburg gelebt, davor acht Jahre in Moskau. Ich habe die Anfänge der Club – und Rave-Geschichte in Russland mitgemacht. Moralisch war ich darauf vorbereitet, irgendwann wegzugehen. Nach 2014. Damals wurde offensichtlich, dass Russland immer stärker in Richtung Diktatur abrutscht; dass es Probleme geben würde, und die würden so oder so jeden Russen betreffen. Der letzte Tropfen war die Mobilmachung, es wurde immer schlimmer und schlimmer. Das war der Anstoß, dass man sich jetzt besser nicht mehr in Russland aufhalten sollte. Eine absurde Situation.
Ich war nicht in der Armee, aber jetzt werden alle in jedem Alter einberufen, sogar die, die sich seinerzeit vor der Armee in die Klapsmühle abgesetzt haben. Deshalb ist jetzt jeder bedroht. Außerdem herrscht in der Armee ein komplettes Chaos, da weiß die rechte Hand nicht, was die linke tut.
Ich hatte sofort nach Beginn des Kriegs den Impuls, wegzugehen. Ich dachte ganz konkret darüber nach und wäre fast schon ausgereist. Aber irgendwie glaubte ich, es würde schon nicht so albtraumhaft werden.
Weil es dann zu einer Massenflucht aus Russland kam, hatte ich gewisse Schwierigkeiten mit der Ausreise. Aber ich hatte ein Schengenvisum und bin über Finnland gefahren. In einem Sammeltaxi fuhr ich bis Helsinki, und dort setzte ich mich in ein Flugzeug nach Berlin.
Große russische Diaspora
Nach Berlin kam ich aus vielen Gründen: Ich bin ethnischer Deutscher. Meine Mutter wollte schon in den 90ern, dass wir nach Deutschland übersiedeln. Aber damals war in Russland eine Zeit der Hoffnung. Ich war jung. Wir machten den ersten Techno-Club in Russland auf, den „Tunnel“. Dann machten wir noch alle möglichen anderen Projekte: „Wostotschni Udar“, „Rave-Montage“, „KaZantip“, zwei Projekte mit Berliner Partnern – „Mayday“ und „Soundtropolis“. Wir haben ständig deutsche Musiker zu Veranstaltungen nach Sankt Petersburg geholt. Ich war in den 90er- und 2000er-Jahren in Deutschland.
Berlin ist mir sehr nah, ich fühle mich mehr als Deutscher, nicht als Engländer, Amerikaner oder Argentinier, zum Beispiel. Gleichzeitig gibt es hier eine große russische Diaspora. Ich fühle mich nicht von meiner ganzen Vergangenheit abgeschnitten, es gibt hier Freunde und Bekannte.
Ich habe mütterlicherseits viele Deutsche, väterlicherseits gibt es lettische Deutsche. Mein Großvater wurde repressiert und verhaftet. Weil er deutscher Staatsangehöriger war, sagte meine Großmutter: „Wie das denn, er ist doch Deutscher?“ Er sollte seinen Pass vorlegen, und dann hat man gleich dort auf dem Litejnij-Prospekt [Im Gebäude von OGPU und NKWD der UdSSR, Red.] seine Staatsbürgerschaft in die sowjetische umgewandelt und ihn erschossen. Meine Großmutter wurde deportiert. Das waren die Eltern meiner Mutter.
Ich habe nicht vor, nach Russland zurückzugehen. Ich möchte hierbleiben. Wenn möglich, möchte ich als Spätaussiedler die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten.
In meinen Bekanntenkreis unterstützen die meisten den Krieg nicht, überhaupt sind alle geschockt von dem, was da passiert. Aber es gibt auch Leute, die das alles richtig finden und mit irgendwelchem imperialen Gequatsche unterstützen. Jeder hat seine eigenen Gründe.
Seit 2012 gehe ich zu den Meetings. Als die Krim angeschlossen wurde, war ich auf dem Manege-Platz. Als Nemzow ermordet wurde, als diese Geschichte mit Nawalny passierte. Ich habe immer versucht, auf die Straße zu gehen. Aber weil Russland eine Diktatur ist, weiß man nicht, ob das sinnvoll ist. Mich hat man nicht ins Gefängnis gesteckt, aber neben mir auf den Meetings wurden Leute festgenommen, auch Freunde, Bekannte und Verwandte.
Mit Denis Oding sprach Tatiana Firsova am 26.10.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.
Wie die Interviews entstehen
In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa.
Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.
Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber werden dabei offener, reicher.
Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.
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