„Ich gehe zurück, wenn die Revolution ausbricht“

Michail Nikanorow, 24 Jahre, Sankt Petersburg, Breakdancer: Verließ Russland wegen der Mobilmachung

Wartet auf die Revolution: Mikhail Nikanorow
„Ich liebe mein Land, aber ich hasse die Regierung.“ Michail Nikanorow hofft auf einen Regimewechsel oder eine Revolution.

Ich habe in Sankt Petersburg gelebt, zusammen mit meiner Mutter, ich bin Breakdancer. Schon seit 15 Jahren mache ich das, ich unterrichte und trete auf.

Im Sommer war ich in Indien, ich hatte da zwei Verträge, einen Dreh für Netflix. Das war für einen Film, der Anfang nächsten Jahres rauskommen soll.

Ich habe an der Herzen Universität studiert, ich bin Software-Entwickler. Aber das war nur pro forma, ich habe meinen Abschluss gemacht, sogar ein Einser-Diplom, aber ich habe das nicht mal abgeholt. Dieser Bereich interessiert mich nicht.

Ich habe nur studiert, weil es mir leichtgefallen ist. In Russland ist die Ausbildung nicht besonders gut. Ich wollte weiter auf Master studieren, nur um von der Armee freigestellt zu werden, aber mir fehlten zwei Punkte für ein staatlich finanziertes Studium. Und dann ging das mit dem Coronavirus los.

Aber ich unterrichte ja schon und habe Auftritte. Ich hatte nicht das Geld, um mir einen Wehrpass zu kaufen [eine Bescheinigung über (angeblich) geleisteten Wehrdienst, um sich freizukaufen]. Ausleihen wollte ich das Geld nicht, ich wusste ja nicht, ob ich den Ausweis bekomme oder nicht.

Ich habe mich ziemlich durchgeschlagen, verdiente um die 80 Prozent weniger als sonst. Ich bin zur Armee gegangen, weil ich so die Zeit leichter überbrücken konnte. Ich habe meinen Emotionen nachgegeben und bin zur Armee.

Die Armee: stumpfsinnig und zwecklos

Bei der Armee ist es ziemlich stumpfsinnig. Das ist eine Art Rollenspiel, man spielt Armee. Innerhalb eines Jahres gab ich nicht einen Schuss ab. Ich weiß, wie man mit Platzpatronen schießt, aber ich habe niemals scharf geschossen. Ich weiß, wie man ein Sturmgewehr auseinandernimmt. Aber wir haben nicht eine Übung mitgemacht. Bei uns gab es bloß ein ewiges Exerzieren und Marschieren, und wir waren kostenlose Arbeitskräfte.

Ich hatte Glück, ich wurde in einen Club in unserer Einheit aufgenommen, da habe ich getanzt und bin aufgetreten. Aber ansonsten war das eine vollkommen sinn- und zwecklose Angelegenheit.

KARENINA-Serie
Flucht und Exil
Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Es gibt in der Armee keine Rekrutenschinderei mehr, das wird da heute alles streng unterbunden. Es gibt alle möglichen Mütter-Komitees, endlose Überprüfungen, Körpervisitationen am Ende jeden Tages, und wenn jemand einen kleinen blauen Fleck hat oder eine Schürfwunde, beginnt sofort eine riesige Untersuchung. Damit ist man jetzt in der Armee sehr streng. Als ich zur Armee kam, war ich 21, zwei Wochen später wurde ich 22.

Bei den Protesten in Sankt Petersburg

Ich habe Russland wegen der Mobilmachung verlassen. Ich will nicht an die Front, ich will nicht in einen Krieg, den ich nicht unterstütze, der gar nicht sein dürfte. Ich habe dagegen protestiert. Schon bevor er angefangen hatte, ging ich zu allen Protestaktionen, die stattfanden. Meistens waren das Proteste von Nawalny, die waren am größten.

Einmal wurde ich festgenommen. Das war auf einem Meeting gegen die Verfassungsänderung, gegen die Erhöhung des Rentenalters. Damals saß ich eine Woche lang in Haft. Ich ging zu allen Aktionen, bevor ich zur Armee ging.

Ich kam aus der Armee zurück, und einen Monat später begann der Krieg. Vom 24. Februar an bin ich jeden Tag auf die Straße gegangen, solange bis alle Aktionen unterdrückt wurden. Es gab sehr viel Polizei, es war sehr brutal, sie haben alle verhaftet, allen wurden Geldbußen aufgebrummt, beim ersten Mal 30 000, beim nächsten Mal schon bis zu 500 000 Rubel. Oder bis zu 15 Tagen Arrest, danach bis zu 30 Tagen.

Das hat die Leute natürlich verschreckt. Das ist russischer Standard. Alle sind völlig verschreckt, und niemand glaubt, dass die Proteste etwas ändern können.

Beim Fernsehen wird mir übel

In Petersburg und Moskau unterstützen 80 bis 85 Prozent den Krieg nicht. Aber ich habe alle möglichen Videos aus Sibirien und von noch weiter weg gesehen, wo die Leute nur Fernsehen gucken, dort kann es sein, leider, dass ihn mehr Leute unterstützen.

Ich gucke kein Fernsehen, mir wird übel davon. Wir haben einen Fernseher zu Hause, aber wir schalten ihn nicht ein. Ein paarmal habe ich ihn eingeschaltet, bloß um mir diesen Zirkus mal anzusehen, der dort veranstaltet wird. Ich habe es keine drei Minuten ausgehalten. Das ist einfach die Hölle, das ist echt brutal.

Den Leuten, die Fernsehen gucken, kann man unmöglich irgendwas erklären, bei denen ist einfach das Gehirn ausgeschaltet. Sie plappern alles Wort für Wort nach, was im Fernsehen gesagt wird. Und wenn man ihnen irgendwelche Fakten vorlegt, wollen sie sich die nicht einmal ansehen.

Anfangs habe ich noch versucht, mit ihnen zu diskutieren, aber dann habe ich verstanden, dass das völlig nutzlos ist. Die meisten wollen nicht einmal den Versuch machen, nachzudenken. Es ist ja leichter, einfach in seiner Welt zu hocken, die einem im Fernsehen gezeigt wird, was die Leute schon immer angeguckt haben. Alles andere ist ihnen nur lästig.

Das sind für sie alles nur „Fakes“, alles „nur erfunden“, alles „Westpropaganda“. Und bei den Straßenprotesten sagen sie dann gern, das sind „alles nur Studenten“ oder irgendwelche „Liberalen“. Dabei gehen alle auf die Straße, kleine Kinder und alte Omas. Jedes Alter. Das gibt es nicht, dass nur Studenten auf die Straße gehen.

Wir beschlossen sofort, wegzugehen

Als der Krieg angefangen hatte, waren sehr viele Menschen auf den Meetings. Wenn man diese Proteste nicht so stark unterdrückt hätte, wäre vielleicht sogar etwas dabei herausgekommen. Aber bei uns kann man ja nicht anders.

Meine Mutter und ich haben sofort beschlossen, wegzugehen. Wir haben alle auf die Bekanntmachung von Putin gewartet [betreffend die Mobilmachung; Red.]. Wir trafen uns mit ein paar Freunden und witzelten, dass, wenn er morgen die Mobilmachung bekanntgibt, wir uns vielleicht für eine unbestimmte Zeit nicht mehr sehen werden. Am anderen Morgen weckte mich der Anruf eines Freundes. Da war schon überall eine irre Panik.

Wir hatten uns schon im Frühling Visa geholt. Wir dachten, wir fahren irgendwohin und sitzen das aus. Aber dann haben wir die Entscheidung irgendwie immer weiter aufgeschoben und halt so weitergelebt. Aber das jetzt war schon ein bisschen was Anderes. Als ich an dem Morgen aufwachte, war mir schon klar, dass wir weggehen.

Mit dem Auto von Petersburg nach Berlin

Wir fuhren mit dem Auto von Petersburg los. Meine Mutter saß am Steuer, ich habe keinen Führerschein. Wir fuhren über die finnische Grenze nach Helsinki, dort blieben wir eine Nacht in einem Hotel. Am anderen Tag versuchten wir auf eine Fähre zu kommen, aber das klappte nicht, weil sie Barzahlung verlangten, und wir nicht genug Bargeld dabei hatten. Einen Tag später versuchten wir es nochmal, und da klappte es.

Unsere Wohnung haben wir vermietet. Unsere Verwandten sind in Russland geblieben, meine Großeltern. Sie gucken Fernsehen. Wir versuchten uns gegenseitig zu überzeugen, sie wollten mich auf ihre Seite ziehen, ich sie auf die adäquate Seite. Aber beides gelang nicht.

Deshalb zogen wir die Konsequenz, über das alles nicht mehr zu reden und nicht mit dem Finger aufeinander zu zeigen. Denn in diesen schwierigen Zeiten müssen alle anständig miteinander umgehen. Sie sagen, dort seien „Faschisten“ und man müsse sich vor ihnen schützen.

Wir kamen mit der Fähre bei irgendeiner Stadt an, ich weiß nicht mehr, welcher, von da aus sind wir noch 300 Kilometer mit dem Auto bis Berlin. In Berlin wohnen wir bei Freunden. Wie es mit den Papieren weitergeht, ist noch nicht klar, wir haben erstmal ein Touristenvisum, mit dem darf man sich hier 90 Tage aufhalten.

Jetzt geht die Politik alle an

Ich habe nicht vor, in Berlin zu bleiben. Ich plane zurückzukehren, sobald das Regime wechselt oder eine Revolution ausbricht. Ich glaube, sie wird ausbrechen. Früher konnten viele sagen, die Politik gehe sie nichts an, sie würden sich nicht dafür interessierten. Aber jetzt geht die Politik jede Familie an. Alle schickt man auf die Schlachtbank. Das geht schon jeden an. Deshalb glaube ich, dass es jetzt schneller gehen wird.

Von denen Leuten, mit denen ich kommuniziere, unterstützen das vielleicht fünf Prozent. Und die unterstützen es auch nicht direkt, sie haben auf „ahnungslos“ geschaltet, sie sagen: „Ich schaue keine Nachrichten, ich will mich da nicht reinziehen lassen.“

Für eine Revolution gibt es viele Gründe: die Mobilmachung, die steigenden Preise, die Wirtschaftskrise, dass die ganze korrekte Welt sich von Russland abwendet, und sowieso wird die Regierung nicht von so vielen Menschen unterstützt. Und viele Leute, die für die Mobilmachung sind, fangen jetzt an, unsere Staatsmacht so wüst zu beschimpfen, wie es sich nicht einmal die Opposition erlauben kann.

Weil die Front vor ihren Augen zusammenbricht, gehen alle ihre Träume und Märchen den Bach runter. In der Regierung machen sie sich auch schon gegenseitig verantwortlich. Im Fernsehen auch. Viele von denen, die mobilisiert wurden, unterstützen den Krieg nicht.

Es ist eine Sache, wenn jemand auf einem Meeting einen Plastikbecher nach einem Bereitschaftspolizisten wirft, etwas anderes ist es, wenn man den Leuten, die den Krieg nicht unterstützen, ein Sturmgewehr in die Hand gibt. Es gibt viele Faktoren, die da zusammenkommen.

Von meinen Freunden wurde keiner mobilisiert. Aber von den Freunden meiner Freunde wurden schon sehr viele eingezogen.

„Ich unterscheide zwischen Putin und Russland

Ich liebe mein Land, aber ich hasse die Regierung. Ich unterscheide zwischen Russland und Putin. Russland, das sind die Menschen, die Orte, die Freunde. Ich liebe Petersburg, das ist meine Lieblingsstadt.

Berlin hat ähnliche vibes wie Petersburg. In Helsinki würde ich es nicht aushalten. Es ist ganz nett da, aber es hat eine schwermütige Atmosphäre. Aber hier [in Berlin; Red.] ist es ganz ähnlich wie in Petersburg.

Alle anständigen Menschen bei uns lieben ihr Land, aber sie unterstützen diese ganze Situation nicht.

Ich habe angefangen, Deutsch zu lernen. Bisher verstehe ich noch nichts, aber es ist auf jeden Fall interessant. Warum auch nicht? Es ist eine Erfahrung.

Ich gehe zurück, entweder wenn das alles vorbei ist, oder, was ich mir sehr wünsche, wenn dort die Revolution ausbricht. Dann gehe ich zurück und mache mit. Ich gehe auf die Protestveranstaltungen. Das habe ich immer gemacht, aber das wird dann der finale Protest sein, und natürlich will ich dabei sein.

Mit Michail Nikanorow sprach Tatiana Firsova. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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