Putins ‚russische Welt‘
Russlands Präsident will ‚historisches Unrecht‘ korrigieren und die Ukraine in die Rus zurückzwingen
Russland und die Ukraine haben eine lange und verschlungene Geschichte. Sie haben ihre Ursprünge in der Kiewer Rus, einem lockeren mittelalterlichen Staat von Fürstentümern, der mit Byzanz verbunden war und von dem sie ihr Christentum ableiten. Aber diese gemeinsame Abstammung ist selbst eine Quelle dieses Konflikts.
Putin behauptet nämlich, dass die Kiewer Rus die Gründung einer trinationalen Nation war – die er als „russische Welt“ bezeichnet –, in der die Russen, die Ukrainer und die Weißrussen als „ein Volk“ vereint waren, während die Ukrainer glauben, dass der alte Kiewer Staat ihren Eintritt in Europa als unabhängiger Staat markiert. Die Geschichte ist vielschichtiger.
Die Kiewer Rus wurde im Jahr 1240 von den Mongolen überrannt. In den folgenden vier Jahrhunderten wurde die westliche Hälfte der heutigen Ukraine in den Orbit Polens und Litauens gezogen, das sich zu einer konstitutionellen Monarchie entwickelte, während die östliche Hälfte den russischen Fürsten, Vasallen des Mongolenkhans, unterworfen und dann von Iwan dem Schrecklichen, dessen Despotismus von den Mongolen abgeleitet war, als Moskowien vereinigt wurde.
Diese Spaltung ist wichtig für die ukrainischen Nationalisten, deren Unterstützung in der westlichen Hälfte des Lands am stärksten ist. Ihrer Ansicht nach waren die Ukrainer immer viel freiheitsliebender und „europäischer“ als die Russen, weil sie nicht den Mongolen unterworfen waren, die Russland von Europa und den kulturellen Fortschritten der Renaissance isoliert hatten. Auch wenn an dieser Unterscheidung etwas Wahres dran ist, nährt sie doch die nationalistische Mythenbildung, die die beiden Seiten in diesem Krieg trennt.
Der freiheitsliebende Geist der Ukrainer hat weniger mit ihrer westlichen Orientierung zu tun als mit der sozialen Geschichte des „wilden Lands“ der Ukraine. Jahrhundertelang waren die Steppengebiete die Heimat turksprachiger Nomadenstämme, die vom Khanat der Krim, einem Ableger des Mongolenreichs, locker beherrscht wurden, dessen Raubzüge gegen die Russen und die Polen bis ins 18. Jahrhundert andauerten. Die freien Gebiete der Steppe zogen Bauern an, die vor der Leibeigenschaft in Russland flohen. Sie wurden von Kosaken bevölkert, die in Freiheit als Banditen in der Steppe lebten.
Die Kosaken und die Zaren
Der Name Kosaken leitet sich von dem türkischen Wort „qazaqi“ ab, was so viel wie „vagabundierende Soldaten“ oder „Abenteurer“ bedeutet. Für die Kosaken gab es keine ethnischen Barrieren – eine Lebensweise, die Russen, Türken und die Bergstämme des Kaukasus gleichermaßen anzog.
Die Kosaken bildeten militärische Bruderschaften, die von einem Hetman und seiner Kriegerelite regiert wurden. Sie wurden von den Zaren rekrutiert, um ihre südlichen Grenzen gegen die Steppenstämme zu verteidigen. Für ihre Dienste erhielten sie Geld, Landzuweisungen, Steuerbefreiungen und andere Privilegien, die sie als Symbole ihrer Freiheit und Überlegenheit gegenüber der bäuerlichen Bevölkerung hüteten. Sie waren streng orthodox und träumten von einem Kosakenstaat auf den von den Polen befreiten Gebieten.
Im Jahr 1654 unterzeichneten sie einen Vertrag mit den Russen, um sie in diesem Kampf zu unterstützen. Ihr Hetman Bohdan Chmelnyzkyj leistete einen einseitigen Treueeid auf den Zaren, der versprach, die Autonomie des Hetmanats zu respektieren. Der Vertrag wird von ukrainischen Nationalisten als die Gründung eines unabhängigen Hetmans oder „ukrainischen Staats“ angesehen.
Es stimmt, dass die Kosaken das Wort „Ukraina“ benutzten, wenn auch im Sinne von Grenzland (der slawischen Bedeutung des Worts). Aber sie betrachteten sich nicht als ukrainisch, und ihre Verbindungen zur ukrainischen Bauernschaft waren zu schwach, um eine nationale Identität zu bilden.
Diese entwickelte sich im 19. Jahrhundert, als das Russische Reich seine repressive Kontrolle über die ukrainische nationalistische Intelligenz verschärfte und den Gebrauch der ukrainischen Sprache in Publikationen, öffentlichen Ämtern und Schulen verbot. Diese Russifizierungspolitik wurde auch in anderen Teilen des Reichs durchgesetzt, hatte aber eine besondere Bedeutung im russisch kontrollierten Polen und in der Ukraine, die gleichzeitig Pufferstaaten gegen den Westen und ein Kanal für europäische Ideen in Russland waren. Wie Putin fürchteten auch die Zaren die Ausbreitung der Demokratie von der Ukraine aus nach Russland.
Putins verdrehtes Geschichtsbild
Hier kommt das Putin-Narrativ ins Spiel. Sein Krieg gegen die Ukraine hat seine Wurzeln in seiner verdrehten Sicht der Geschichte. Im Juli 2021 schrieb er einen langen historischen Essay, in dem er einmal mehr die Unabhängigkeit der Ukraine als Nation leugnete und behauptete, sie habe immer „historisches russisches Land“ besetzt. Er wies auf die Momente in den vergangenen 400 Jahren hin, in denen ausländische Mächte – die Schweden, die Polen, die Österreicher, die Deutschen, die Alliierten im Russischen Bürgerkrieg – versucht hätten, die Ukraine gegen Russland aufzubringen. Der Westen tue heute genau dasselbe, argumentierte er.
Der Kreml betrachtete die Maidan-Revolution von 2014 – als die prorussische Regierung von Viktor Janukowitsch in Kiew gestürzt wurde – als einen illegalen Staatsstreich, der vom Westen unterstützt und gefördert wurde. Putins Propaganda bezeichnete die neue ukrainische Regierung als „Junta“, die von „Nazis“ und „Faschisten“ unterstützt wurde – eine offensichtliche Taktik, um an russische nationalistische Gefühle zu appellieren, die in der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wurzeln, als einige ukrainische Nationalisten tatsächlich mit den deutschen Invasoren kollaboriert hatten.
Das sollte die Annexion der Krim und den Krieg im Donbass mit der Verteidigung ethnischer Russen gegen einen „Völkermord“ rechtfertigten. Eine falsche Behauptung, die auf einer unbedachten Entscheidung des Parlaments in Kiew beruht, ein Gesetz zum Schutz des Russischen und anderer Minderheitensprachen aufzuheben.
Ein weniger beachtetes Argument in Putins Essay, das jetzt wie eine Blaupause für diesen Krieg wirkt, betraf die Grenzen der sowjetischen Ukraine. Bei der Gründung der Sowjetunion im Jahr 1922 wurde die zaristische Provinz Neurussland (Noworossija), die die Schwarzmeerküstengebiete von Odessa bis zum Donbass umfasste, der Ukrainischen Sowjetrepublik zugesprochen. (Die Krim wurde 1954 ebenfalls der Ukraine zugesprochen.)
Nach 1991 forderten russische Nationalisten, darunter Alexander Solschenizyn, die Rückgabe dieser russischsprachigen Gebiete an Russland. Putin schloss sich ihren irredentistischen Forderungen an und behauptete zu Beginn des Donbass-Kriegs im April 2014, Noworossija sei nie Teil der Ukraine gewesen und hätte nicht an die ukrainische Sowjetrepublik abgetreten werden dürfen. Es handele sich um ein historisches Unrecht, das von den Bolschewiken an Russland begangen worden sei.
Die Wiederherstellung Neurusslands scheint eines von Putins Hauptzielen in diesem Krieg zu sein. Seine Armeen sind auf dem besten Weg, die Küstenregionen einzunehmen, der Ukraine den Zugang zum Meer zu nehmen und die Krim, auf der die russische Flotte stationiert ist, über die im Südosten der Ukraine eroberten Gebiete mit Russland zu verbinden. Um sein Ziel zu erreichen, muss er möglicherweise die Juwelen der russischen Schwarzmeergeschichte aus dem 18. Jahrhundert, Städte wie Odessa, zerstören.
Nur die Russen können den Krieg beenden
Weiter nördlich scheint es Putins Ziel gewesen zu sein, Kiew einzukesseln, es auszuhungern und dann Gespräche aufzunehmen, um die Grenzen einer bündnisfreien Ukraine neu auszuhandeln, die schriftlich garantiert, dass sie niemals der Nato beitreten wird. Auch hier vermittelt er seinem Volk die Botschaft, dass seine militärischen Aktionen notwendig sind, um ein historisches Unrecht gegenüber Russland zu korrigieren – nämlich den Bruch eines mündlichen Versprechens, das der Westen dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow nach dem Fall der Berliner Mauer gegeben hatte, dass die Nato sich „nicht auch nur einen Zoll nach Osten“ ausdehnen würde. Worin dieses Versprechen bestand, ist nach wie vor heftig umstritten.
Die Osterweiterung der Nato hat zweifellos zu den Ursachen dieses Kriegs beigetragen. Sie hat uralte russische Ängste vor einer Einkreisung durch ausländische Mächte geschürt, die Russland schwächen wollen. Doch bei Putins Krieg geht es nicht um die Nato. Es geht um die Ukraine, deren Existenz als Nation und als Staat in diesem Konflikt auf dem Spiel steht.
Wie die bisherigen Kämpfe zeigen, ist Russland zu schwach, um diesen Krieg zu gewinnen. Seine Streitkräfte sind demoralisiert und schlecht auf einen langen Krieg vorbereitet, der wahrscheinlich zu einem solchen werden wird, weil sie mit einem schnellen Sieg gerechnet haben, der nicht eingetreten ist.
Der Kreml hat die Entschlossenheit der westlichen Mächte falsch eingeschätzt, Russland mit weitreichenden Sanktionen zu bestrafen, die in den nächsten Monaten greifen und die Regierung Putin unter Druck setzen werden. Er hat die Ukrainer unterschätzt, die mit außerordentlichem Mut gekämpft und den Propagandakrieg haushoch gewonnen haben. Wir müssen hoffen, dass diese beiden Faktoren die Russen überzeugen können, denn nur sie können diesen Krieg beenden, indem sie Putin zu Fall bringen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen im Rotary Magazin.