Krieg in der Ukraine

Die Ukraine entnazifizieren?

Wie Wladimir Putin alte sowjetische Ressentiments gegen die Ukraine instrumentalisiert

von Kai Struve
Eines von Putins Feindbildern: Feier zu Stepan Banderas 113. Geburtstag am 1. Januar 2022 in Lwiw

Anders als von dem russischen Präsidenten Wladimir Putin erwartet stößt der russische Angriff auf die Ukraine seit mehr als einem Monat auf starken militärischen Widerstand. Die Mobilisierung der Bevölkerung im Kampf für die Freiheit und Selbstbestimmung der eigenen Nation tut ihr Übriges, um die Erwartungen des russischen Präsidenten Lügen zu strafen. Der Plan, die ukrainische Hauptstadt Kiew innerhalb von wenigen Tagen zu besetzen und einen neuen ukrainischen Präsidenten einzusetzen, ist katastrophal gescheitert.

Woher stammt die Fehleinschätzung, dass die Ukraine ihre Souveränität mehr oder weniger kampflos preisgeben würde? Putins Ansprachen in der letzten Februarwoche und frühere Äußerungen über die Ukraine lassen, wie schon verschiedene Beiträge hervorgehoben haben, einen russischen Nationalismus und ein Ressentiment wegen des Zusammenbruchs der Sowjetunion als Motive erkennen.

Diese Ansprachen sowie die Forderung nach einer „Entnazifizierung“ der Ukraine, die Russland nach dem Beginn des Überfalls als ein zentrales Kriegsziel genannt hatte, zeigen aber auch die Quelle dieser Fehleinschätzung, nämlich ein Feindbild, das aus der Zeit der Sowjetunion stammt, aber bis heute weiterwirkt: den ukrainischen Nationalismus.

Zu den zentralen Elementen dieses Feindbilds gehört, dass die Bevölkerung die ukrainischen Nationalisten nicht unterstützt und diese im Dienst äußerer feindlicher Mächte in die Ukraine eindringen. Dort manipulieren sie das Volk, beuten es zu ihrem eigenen Vorteil aus oder unterdrücken es, wie während der deutschen Okkupation im Zweiten Weltkrieg.

Alte sowjetische Feindbilder

Entsprechende Topoi durchziehen nicht nur Putins Äußerungen über die gegenwärtige Situation in der Ukraine. Aus ihnen speiste sich auch die Erwartung, dass die russischen Invasoren auf nur schwachen Widerstand stoßen und sie von einem großen Teil der Ukrainer als Befreier begrüßt würden.

Die Forderung nach „Entnazifizierung“ der Ukraine ist daher mehr als die propagandistische Zuspitzung des Ziels, eine andere, russlandfreundliche Regierung einzusetzen. Sie bringt zugleich eine Vorstellung über die Ukraine zum Ausdruck, die nicht einer wirklichkeitsnahen Analyse der aktuellen politischen Verhältnisse und Stimmungen entstammt, sondern dem sowjetischen Feindbild über den ukrainischen Nationalismus. Politische Entscheidungen des ehemaligen KGB-Offiziers Wladimir Putin werden offenbar auch dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion noch von sowjetischen Feindbildern beeinflusst.

Dieses Feindbild entstand bereits in den 1920er-Jahren, wurde aber verstärkt in den 1930er-Jahren propagiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg trat darin der Vorwurf in den Mittelpunkt, dass die ukrainischen Nationalisten Helfershelfer beim deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 gewesen seien. Während der folgenden deutschen Okkupation waren sie demnach ihre Henkersknechte.

1917: Unabhängige Ukrainische Volksrepublik

Anders als von Putin in seiner langen Fernsehansprache am Abend des 21. Februar behauptet geht die heutige Ukraine nicht auf eine, wie er meinte, verhängnisvolle politische Entscheidung Lenins zurück. Die Gründung von Sowjetrepubliken im Jahr 1921, auf die Putin anspielte, war eine Reaktion der Bolschewisten auf die Nationalbewegungen, die in verschiedenen Teilen des Zarenreichs, vor allem in der Ukraine, während der Revolution erstarkt waren. Nach dem militärischen Sieg der Roten Armee, so die Absicht Lenins, sollte die föderale Staatsorganisation die nicht russischen Nationalitäten mit der Sowjetunion versöhnen.

Im Zuge der Februarrevolution 1917 hatte sich in Kiew eine nationalukrainische Vertretung, die Central'na Rada, gebildet, die zunächst für die Ukraine einen autonomen Status forderte. Als nach der Oktoberrevolution die Bolschewiki auch in der Ukraine die Macht zu übernehmen versuchten, erklärte die Central'na Rada im Dezember 1917 die Gründung einer unabhängigen Ukrainischen Volksrepublik.

Kurz zuvor, im November 1917, hatten ukrainisch orientierte Parteien bei der Wahl zu einer Verfassungsgebenden Versammlung für Russland in den ukrainischen Territorien eine deutliche Mehrheit erhalten, allerdings nicht in den überwiegend russischsprachigen Städten der Ukraine. Auf Dauer konnte sich die Ukrainische Volksrepublik jedoch nicht gegen die bolschewistische Rote Armee halten. Ende 1919 verließen ihre verbliebenen Truppen unter Führung von Symon Petljura das Land.

Die ukrainische Nationalbewegung

Ihrerseits wurzelte die ukrainische Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts, aus der die Staatsgründungsbestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen waren, in der älteren Geschichte dieser Regionen. Diese Geschichte begann mit der Kiewer Rus und der von Byzanz ausgehenden, orthodoxen Christianisierung am Ende des 10. Jahrhunderts. Aus der Kiewer Rus ging später auch das Großfürstentum Moskau hervor, das zum Ursprung des modernen Russlands wurde. Andere Teile der Kiewer Rus, darunter auch die Stadt Kiew, gerieten seit dem späten Mittelalter nach und nach unter die Oberhoheit Litauens und Polens und damit unter den Einfluss der politischen und kulturellen Traditionen der frühneuzeitlichen polnisch-litauischen Republik, die sich deutlich von denen der Moskauer Autokratie unterschieden.

Von zentraler Bedeutung für die weitere ukrainische Geschichte war das Kosakenhetmanat, das in der Mitte des 17. Jahrhunderts aus einem Konflikt der Zaporoher Kosaken mit Polen-Litauen entstanden war. Zwar verlor es seine Unabhängigkeit schon bald wieder. Erst unter Katharina II. und damit am Ende des 18. Jahrhunderts wurden die letzten Reste der Autonomie beseitigt.

Mit den Teilungen Polens kam ein großer Teil der übrigen ukrainischen Territorien unter die Herrschaft der Zaren. Ein kleinerer Teil wurde von Österreich annektiert und bildete den östlichen Teil des Kronlands Galizien.

Obwohl das weitgehende Verbot von ukrainischen Druckerzeugnissen und fehlende gesellschaftliche und politische Organisationsmöglichkeiten dazu führten, dass die ukrainische Nationalbewegung ausgangs des 19. Jahrhunderts im Zarenreich schwächer als in der Habsburgermonarchie in der Bevölkerung verankert war, erwies sie sich während der „ukrainischen Revolution“ 1917 und in den folgenden Jahren des Bürgerkriegs als stärkster Gegner der Bolschewiki in den ukrainischen Gebieten. Die Nationalbewegung trug damit maßgeblich dazu bei, dass die Bolschewiki nach ihrem militärischen Sieg ihr ursprüngliches Ziel eines Einheitsstaats mit einem Vorrang der russischen Sprache aufgaben und ihren Staat als Union von Sowjetrepubliken gestalteten, in denen die verschiedenen nicht russischen Sprachen und Nationalitäten gefördert werden sollten.

Die sowjetische Politik der „korenizacija“ („Einwurzelung“) führte in den 1920er-Jahren zu einer beträchtlichen Stärkung der ukrainischen Sprache. Sie wurde in den meisten Schulen unterrichtet und herrschte nun auch in vielen Bereichen der Öffentlichkeit vor. Eine neue Blüte der ukrainischen Literatur und Kultur war die Folge.

Schon Anfang der 1930er-Jahre wurde die „korenizacija“ allerdings brutal abgebrochen. Im Zuge der forcierten Industrialisierung, der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und der damit einhergehenden Durchsetzung von Stalins Herrschaft setzten massive Repressionen in der Ukraine gegen alle ein, die auch nur entfernt den Verdacht erweckten, mehr Selbständigkeit der Ukraine anzustreben.

Vor allem aber fielen in der Ukraine fast vier Millionen Menschen dem „Holodomor“, dem „Großen Hunger“ der Jahre 1932/33, zum Opfer. Nur ein kleiner Teil dieser Hungertoten ging auf den Mangel an Grundnahrungsmitteln zurück, der seinerseits eine Folge der geringeren Produktivität in Zuge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft war.

Der Hunger, der die Zahl der Toten in die Millionen steigen ließ, war vielmehr die Folge des gezielten Entzugs von Nahrungsmitteln, um Widerstand der Ukrainer zu brechen. Stalin fürchtete eine Verbindung zwischen dem bäuerlichen Protest gegen die Kollektivierung und dem ukrainischen Nationalismus. Suchbrigaden transportieren in vielen Regionen alle Nahrungsmittel ab und verurteilten die Menschen damit zum Hungertod.

Zur selben Zeit verstärkten die Sowjets die propagandistischen Angriffe auf die „Petljurowcy“, die Petljura-Anhänger. Mit dem Begriff des „ukrainischen bürgerlichen Nationalismus“ wurden alle Unabhängigkeitsbestrebungen belegt ohne Rücksicht darauf, ob sie von rechts oder von links kamen.

Der Begriff des „ukrainischen bürgerlichen Nationalismus“ wies keine klare Trennung zu dem sowjetischen Faschismusbegriff auf, unter dem in dieser Zeit so gut wie alle antisowjetischen Kräfte subsumiert wurden. Gleichzeitig wurden die „bürgerlichen Nationalisten“ jedoch als Agenten feindlicher Mächte präsentiert, vor allem Polens und später auch des nationalsozialistischen Deutschlands, die die Sowjetunion zu unterwandern versuchten. Ein zentrales Element dieser Propaganda war, dass die Nationalisten keinen Rückhalt im ukrainischen Volk besäßen.

Bandera und die Deutschen

Seit den 1940er-Jahren stand die Unterstützung des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion durch ukrainische politische Gruppierungen im Exil und im deutsch besetzten Generalgouvernement im Zentrum des sowjetischen Feindbilds. Die ukrainischen Nationalisten erschienen hier nicht nur als Verräter, sondern auch als Kollaborateure der Deutschen, die zahllose Verbrechen gegen das ukrainische und sowjetische Volk während der deutschen Besatzung verübt hätten.

Gemünzt war diese Propaganda vor allem auf die „Organisation ukrainischer Nationalisten“ (OUN), die lange vor 1939 von Polen aus für einen ukrainischen Staat gekämpft hatte. Die Zusammenarbeit zwischen den Deutschen und der von Stepan Bandera geführten Organisation endete zwar schon bald nach dem Angriff auf die Sowjetunion – Hitler hatte Mitte Juli 1941 entschieden, dass es keinen ukrainischen Staat geben werde. Allerdings nahm die von der OUN gegründete „Ukrainische Aufstands-Armee“ (UPA) erst im Frühjahr 1943 den bewaffneten Kampf gegen die deutsche Besatzung auf. Als größter Feind der Unabhängigkeit der Ukraine galt ihr nach wie vor die Sowjetunion.

Der eigentliche Kampf der UPA, in dessen Verlauf sie sich zunächst auch beträchtlich vergrößerte, begann daher erst 1944, nachdem die Rote Armee die Westukraine zurückerobert hatte. Der bewaffnete Widerstand hielt bis Anfang der 1950er-Jahre an. In diesem Krieg zwischen der UPA und den sowjetischen Sicherheitsorganen fielen auf beiden Seiten mehrere Zehntausend Kämpfer, Hunderttausende Westukrainer wurden in das Innere der Sowjetunion deportiert. Gleichzeitig intensivierte sich die sowjetische Propaganda gegen die „Banderowcy“. Sie wurden als „ukrainisch-deutsche Nationalisten“ und faschistische Kollaborateure der deutschen Okkupanten dargestellt.

Das Verhältnis nationalukrainischer Gruppierungen und Akteure zu den Deutschen während des Zweiten Weltkriegs war vielschichtig und widersprüchlich. Die Zusammenarbeit war nicht auf die radikalnationalistische Bandera-OUN beschränkt. Andere, weniger bedeutende Gruppen und Akteure unterstützten die deutsche Okkupation länger und ausdauernder. Darüber hinaus gab es, wie in allen deutsch besetzten Ländern, lokale Verwaltungen und Polizeieinheiten, deren Angehörige oft keine politischen Bindungen hatten.

Die sowjetischen Massenverbrechen der 1930er Jahre, vor allem der Holodomor, gehörten zu den Gründen, warum viele Ukrainer mit dem deutschen Einmarsch 1941 zunächst auch Hoffnungen verbunden hatten. Sie wurden allerdings durch die brutale deutsche Unterdrückungs- und Ausbeutungspolitik schnell enttäuscht.

Sowjetische Veröffentlichungen dienten niemals der historischen Aufklärung und der differenzierten Diskussion des komplizierten Verhältnisses der nationalukrainischen Kräfte zum NS-Regime und deren Rolle während der deutschen Okkupation. Das Ziel der sowjetischen Propaganda war die Erzeugung eines Feindbilds, das gegen den ukrainischen Nationalismus in Stellung gebracht werden konnte.

Bei alldem durfte allerdings das Bild eines einheitlichen, heroischen Widerstands des sowjetischen Volkes gegen die deutschen Okkupanten nicht infrage gestellt werden. In sowjetischen Publikationen gab es nur wenige Kollaborateure der Deutschen, die aus der sowjetischen Bevölkerung stammten. Sie wurden als moralisch heruntergekommene, verbrecherische Charaktere gezeichnet.

Die eigentlichen Drahtzieher der Kollaboration aus den Reihen der ukrainischen Nationalisten seien hingegen mit den Deutschen ins Land gekommen und mit diesen zusammen wieder vertrieben worden. Sie wurden faktisch als nicht ukrainische, antinationale Kräfte dargestellt, die das Land im Dienst der Feinde der Sowjetunion übernehmen und das ukrainische Volk unterdrücken sollten. Wenn Putin immer wieder von einem beklagenswerten Zustand des ukrainischen Staates spricht, den dessen Führung aus „Radikalen“ und „Neonazis“ zu verantworten habe, dann knüpft der Präsident an Elemente des Feindbilds an, wie es während der Sowjetunion gezeichnet worden war.

Sowjetische Publikationen ignorierten nicht nur den Bruch zwischen der OUN und den Deutschen in den ersten Wochen der Okkupation sowie den späteren Widerstand der UPA. Bezeichnenderweise verschwiegen oder verfälschten sie auch die Massenverbrechen, die von den ukrainischen Nationalisten begangen wurden, nämlich Massaker der UPA an mehreren Zehntausend Polen in Wolhynien und Galizien in den Jahren 1943/44 sowie die Ermordung mehrerer Tausend Juden, vorwiegend im Sommer 1941, durch OUN-Milizen.

Der „jüdische bürgerliche Nationalismus“

Diese Verbrechen geschahen im Fall der Polen nicht und im Fall der Juden nur teilweise in Verbindung mit den Deutschen. Sie waren eigenständige Verbrechen der OUN und der UPA, die einer radikalnationalistischen Ideologie entsprangen und Ziele verfolgten, die von den Deutschen abgelehnt wurden.

Dies entschuldigt diese Verbrechen nicht. Jedoch ging es in sowjetischen Publikationen auch diesmal nicht um historische Aufklärung. Wurden Verbrechen überhaupt erwähnt, dann geschah dies, um den Beitrag der ukrainischen Nationalisten zu den Verbrechen am ukrainischen und sowjetischen Volk während der deutschen Besatzung herauszustellen. Die Opfer wurden in diesem Kontext zumeist nicht mehr als Polen oder Juden identifiziert, sondern „sowjetisiert“. Der Zusammenhang der Taten wurde so verfälscht und verschwiegen.

Einer der entscheidenden Gründe, warum die Verbrechen an Juden zu Sowjetzeiten nicht herausgestellt wurden, war der, dass sich die Emigrations- und Dissidentenbewegung unter den sowjetischen Juden seit Mitte der 1960er-Jahre verstärkte und zunehmend internationale Aufmerksamkeit erhielt. Den sowjetischen Sicherheitsorganen galt der „jüdische bürgerliche Nationalismus“ – damit war in erster Linie der Zionismus gemeint – als ebenso gefährlich wie der „ukrainische bürgerliche Nationalismus“.

Auch der „jüdische bürgerliche Nationalismus“ wurde nicht klar vom Faschismus abgegrenzt. Sowjetische Autoren, die ukrainischen Nationalisten Antisemitismus vorwarfen, um ihre ideologische Nähe zum NS-Regime zu belegen, taten dies in der Regel nicht, ohne gleichzeitig auf die Gefahren hinzuweisen, die vom Zionismus ausgingen. Vor dem Hintergrund ist es kein Widerspruch, dass sich Putins Forderung nach „Entnazifizierung“ gegen einen jüdischen Präsidenten richtet.

Die ukrainische Diaspora in den USA

Mit dem Beginn des Kalten Kriegs wurde das Bild ukrainisch-nationalistischer Kollaboration gegen die Sowjetunion um die Vereinigten Staaten und andere westliche Staaten erweitert. Im Zentrum der kommunistischen Propaganda stand nun die ukrainische Diaspora mit ihren Zentren in den USA und Kanada. Die meisten Diaspora-Organisationen waren antikommunistisch ausgerichtet und unterstützten das Ziel einer selbständigen, von der Sowjetunion unabhängigen Ukraine.

In den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren versuchten sie das Bewusstsein für den verbrecherischen Charakter des sowjetischen Regimes zu erhalten und griffen Moskau wegen der zunehmenden sprachlichen Russifizierung der Ukraine an. Vor allem aber unterstützten sie die Dissidentenbewegung in der Ukraine und der Sowjetunion, indem sie in der westlichen Öffentlichkeit auf deren Verfolgung aufmerksam machten.

Dass die ukrainischen Organisationen im Westen am Ziel der Unabhängigkeit festhielten, war für die sowjetische Seite ein willkommener Vorwand, um sie als Kriegstreiber darzustellen, die auch vor der Vorbereitung eines Atomkriegs nicht zurückschreckten. Auch auf dieses Motiv greift Putin zurück, indem er behauptet, die Ukraine würde Atomwaffen entwickeln.

Das sowjetische Feindbild „ukrainischer Nationalismus“ hatte auch schon den Versuchen zugrunde gelegen, den Euromaidan 2013/14 und den anschließenden Regierungswechsel in Kiew als „faschistischen Putsch“ zu diskreditieren. Damals stieß die Moskauer Propaganda auch in der Ukraine noch auf eine gewisse Resonanz. Der damalige moskautreue Präsidenten Wiktor Janukowitsch und seine Anhänger, die vor allem im russischsprachigen Osten der Ukraine ihre Basis hatten, nutzten sie, um Widerstand gegen den Euromaidan zu provozieren.

Russland wiederum nutzte das Feindbild dazu, einen Aufstand zu entfachen. Dazu wurden Waffen und Offiziere aus den Nachrichtendiensten in die ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk geschickt. Als flankierende Maßnahme stellten russische Medien den Euromaidan als ein ähnliches Geschehen dar wie den deutschen Einmarsch im Jahr 1941: Abermals wollten feindliche Kräfte aus dem Westen, in diesem Fall die USA und die EU, mithilfe der „ukrainischen Faschisten“, der „Banderowcy“, aus dem Westen der Ukraine die Macht in Kiew übernehmen.

Gegen deren Versuch, ihr brutales Regime auf den Osten der Ukraine auszuweiten, sollte sich das Volk erheben wie einst während der deutschen Okkupation. Mit dieser Propaganda wurden auch Kämpfer in Russland mobilisiert, die sich den bewaffneten Kräften im Donbass anschlossen, bevor dann seit Sommer 2014 verdeckt russische Soldaten in größerer Zahl in diese Region geschickt wurden.

Wenn Putin in seinen Reden von einem „Genozid“ an den Bewohnern des Donbass spricht, die ukrainische Regierung zu einem „Marionettenregime“ des Westens erklärt und die „Entnazifizierung“ der Ukraine als zentrales Ziel der „Spezialoperation“ anführt, dann gehen die darin enthaltenen Vorstellungen auf das sowjetische Feindbild des ukrainischen Nationalismus zurück. Überdeutlich erscheinen solche Motive in seiner Fernsehansprache am frühen Morgen des 24. Februars, als die russischen Truppen den Angriff begonnen hatten:

„Sie [die extremen Nationalisten und Neonazis in der Ukraine] werden natürlich die Hand nach der Krim ausstrecken, und natürlich werden sie, wie schon im Donbass, einen Krieg anfangen. Sie werden morden, so wie seinerzeit auch die nationalistischen ukrainischen Banden und ihre Strafkommandos, Hitlers Handlanger im Großen Vaterländischen Krieg, unschuldige Menschen ermordet haben.“

Als Reaktion auf die Entscheidung der Bundesregierung, der Ukraine doch noch Waffen zu liefern, warf die Sprecherin des russischen Außenministeriums Berlin vor, die Nachfolger des nationalsozialistischen Handlangers Bandera zu unterstützen, und stellte infrage, dass nach dem Zweiten Weltkrieg eine Entnazifizierung Deutschlands stattgefunden habe. Zwar haben solche Vorwürfe anders als diejenigen gegen den Euromaidan 2013/14 außerhalb Russlands keine Wirkung mehr. Vonseiten der russischen Regierung und in den russischen Medien häufen sie sich hingegen, seitdem erkennbar wurde, dass der Krieg nicht schnell beendet sein würde.

So wird ohne jeden Beleg behauptet, dass die „ukrainischen Nationalisten“ friedliche Bürger einschüchterten, Kriegsverbrechen begingen oder gar den Einsatz biologischer oder chemischer Waffen vorbereiteten. Ein weiteres Mal dient das alte Feindbild zur Mobilisierung für den Krieg. Damit gehört auch eine unzureichende Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte und der sowjetischen Verbrechen zu den Faktoren, die den russischen Krieg gegen die Ukraine ermöglicht haben.

Kai Struve lehrt Osteuropäische Geschichte an der Universität Halle-Wittenberg.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 28.3.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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