Kiew: Schaut auf diese Stadt
In der zählebigsten Stadt der Ukraine entscheidet sich, ob Europa standhält oder fällt
Schreiben als Ersatzhandlung, Entlastung des schlechten Gewissens, Schweigen aus Verzweiflung, weil man keine Worte findet, wenigstens Reden, wenn man schon nicht bereit ist, selber etwas zu riskieren. Ich habe keine Ahnung vom Krieg, ich war nie im Krieg, es sind Fernsehbilder aus der Tagesschau oder von CNN. Ich bin kein Experte für urban warfare.
Was ich sagen kann, ist, was ukrainische Städte waren, bevor die russischen Truppen sie überfielen. Ich habe an Ostern 2014 das Hijacking des Verwaltungsgebäudes von Donezk mit angesehen. Buntes Volk, in lächerlicher Kosakenmontur, verbarrikadiert hinter malerisch aufgeschichteten Barrikaden. Die Drahtzieher aus Moskau haben inzwischen stolz und im Detail berichtet, wie professionell sie die Stadt überrumpelt und in ihre Gewalt gebracht haben – eine Millionenstadt mit Oper, Stadion, die Logos der Firmen aus aller Welt auf dem Hauptprospekt. Das war einmal.
Noch vor der Pandemie hatte ich vor, mit einer Gruppe von Architekten und Stadtplanern in die Ukraine zu fahren, genauer nach Charkiw. Auf dem Programm stand die Besichtigung der Bauten der Zwanzigerjahre, des Bauhauses und des sowjetischen Konstruktivismus.
Charkiw war für ein gutes Jahrzehnt die größte Stadtbaustelle Europas, hier sollte die moderne Stadt errichtet werden mit Verwaltungs-, Regierungs- und Zivilbauten, neuen Fabrikanlagen, Gemeinschaftshäusern und Wohnvierteln. Selbst für Architekten, die mit der Moderne gut vertraut sind, war diese Stadt trotz ihrer ikonischen Bauten ein weißer Fleck.
Wir wollten auch etwas über die Geschichte der Stadt erfahren: über die Hungersnot der Jahre 1932/33, deren Massengräber man allenthalben in und um die Stadt herum entdeckt hat, über die Exekutionsstätten des Großen Terrors, die Ermordung der polnischen Offiziere 1940 und dann: die deutsche Besetzung Charkiws, die Deportation von Millionen ins Reich, die Ermordung der 16 000 Charkiwer Juden draußen vor der Stadt in Drobnyzkyj Jar.
Was in Charkiw geschah, wiederholte sich in anderen Städten der Ukraine, diesem „unglücklichsten Land Europas“, wie Adam Michnik es gerade nannte. In den Jahren der Unabhängigkeit kam dieser Martyrolog zur Sprache, die Topographien des Terrors sind freigelegt worden, Massengräber mit den Opfern der stalinistischen wie nationalsozialistischen Herrschaft, oft in Sichtweite voneinander.
Die Städte waren in den drei Jahrzehnten der Freiheit und Unabhängigkeit aufgeblüht, zu sich gekommen – bei allen Schwierigkeiten. Neue Flughäfen, Hochgeschwindigkeitszüge südkoreanischer Bauart, Städte über Nacht aus der sowjetischen Provinz zurück in die Mitte Europas katapultiert, Kiew als international gewordene Hauptstadt, die Glastürme der Banken von Dnipro, millionenfache Pendelbewegungen von Arbeitsmigranten in die Länder der EU, Lemberg, Schönheit Habsburgs und Hightech-Boom in einem, die Schriftsteller Juri Andruchowytsch und Serhij Zhadan, unterwegs in Europa. Ein Modernitätsschub ohnegleichen.
Wenn das Leben einer Stadt abstirbt
Die Städte, die unsere Architektengruppe heute besuchen würde, sind nun im Ausnahmezustand. Man konnte schon 2014 in Donezk sehen, was es heißt, wenn das Leben einer Stadt abstirbt, als Abertausende die Stadt verließen, um anderswo ihr Leben fortzusetzen, als Universitäten, Fußballvereine, Unternehmen ins Exil in die freie Ukraine abwanderten. Am 24. Februar 2022 ist der Krieg über die Ukraine, ihre Städte und Dörfer hereingebrochen, mit Raketenbeschuss, Zerstörung der Infrastruktur, gezielten Angriffen auf Wohnviertel, Inbrandsetzung von Museen, Bombardierung von Flughäfen. Hungerblockade, Displaced Persons zu Millionen, Barrikaden dort, wo im Frühling die Menschen flanieren, Museen, die zu evakuieren keine Zeit mehr war, Metrostationen als Luftschutzkeller.
Was dort geschieht, verstehen am ehesten noch die Älteren mit ihren Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Wir kennen die Bilder von Rotterdam und Coventry, die Flammenwerfer-Kommandos im Warschauer Ghetto, die ausgeglühten Häuserskelette von Dresden.
Das ist Geschichte, in der wir uns auskennen. Aber jetzt sind es Bilder aus der Gegenwart. Was würden wir tun, wenn Bomben auf den Vatikan fielen – der Komplex des Kiewer Höhlenklosters hoch über dem Fluss ist der „Vatikan der östlichen Christenheit“. Wir haben so oft in Eisensteins „Panzerkreuzer Potjomkin“ die Treppe, die zum Hafen von Odessa hinabführt, gesehen, aber dass jetzt die russische Flotte die Stadt, die Bürgerkrieg und deutsche Besatzung überlebt hat, in Schutt und Asche legen könnte, war uns so wenig vorstellbar wie ein Angriff auf Odessas Schwesterstädte Venedig, Genua, Marseille, Barcelona. Wenn Europa nicht bloß eine schöne Metapher ist, dann gilt der Krieg gegen die ukrainischen Städte allem, was Europa je zuwege gebracht hat.
Kiew hat viele Zerstörungen erlebt
Kiew, das im Bürgerkrieg neunzehn Machtwechsel, die Sprengung seiner Straßenzüge und Kathedralen erlebt und den Kreschtschatik wieder aufgebaut hat, kämpft nun gegen den Einmarsch von Putins Truppen. Wie viele Baudenkmäler, Museen, Kirchen müssen in Flammen aufgehen, bis die internationale Gemeinschaft sich für das in Bewegung setzt, was man als „Weltkulturerbe“ bezeichnet. Wie viele Wohnhäuser, Krankenhäuser, Kindergärten müssen noch getroffen werden, wie viele Menschen werden von Scharfschützen und einer angesichts des unerwarteten Widerstands kopflos gewordenen Soldatenmasse noch getötet werden, bis die internationale Gemeinschaft – oder das, was man dafür zu halten gewohnt ist – „einschreitet“.
Putin hat in Grosny gezeigt, dass er eine Großstadt in eine Ruinenlandschaft verwandeln kann. Er hat gezeigt, dass ihm das Schicksal Aleppos und seiner Bewohner ganz gleichgültig ist. Mit dem Kampf um die Atomkraftwerke von Tschernobyl und Saporischschja hat Putin die Tür zum Ökozid geöffnet. Die menschengemachte Katastrophe braucht keine Atombombe.
Fast scheint es, als sei die archaische Sprache der biblischen Schrecken oder der alten Chroniken die einzige dem noch angemessene Sprache. In der im Kiewer Höhlenkloster im 12. Jahrhundert aufgezeichneten Nestor-Chronik wurde Kiew erstmals als „Mutter aller russischen Städte“ bezeichnet. Putin ist nicht der Erste, der zum Krieg gegen diese Mutter aller Städte aufgerufen hat.
Fürst Andrei Bogoljubski, der Herr von Wladimir-Susdal, dem neuen Zentrum im Nordosten der Rus, hatte seine Heere losgeschickt, um trotz heiliger Fastenzeit Kiew, die Hauptstadt der alten Rus, zu zerstören – Chroniken zufolge am 12. März 1169. „Zwei Tage lang brandschatzten sie die ganze Stadt, das Podole und die Burg, die Klöster, die Sophien-Kathedrale, die Zehntkirche, und für niemanden gab es Erbarmen.“
Mit der Zerstörung Kiews begann die Verlagerung des Zentrums der alten Rus in das spätere Großfürstentums Moskau, den Moskauer Staat und die Autokratie. Für viele Historiker, auch den Begründer der ukrainischen Nationalgeschichte, Mychajlo Hruschewskyj, gabeln sich hier die Wege zwischen der Entwicklung der östlichen Despotie und der Wendung der alten Rus nach Westen.
Seither hat Kiew viele Zerstörungen erlebt und ist immer wieder zu neuem Leben erwacht. Ossip Mandelstam hat Kiew die „zählebigste Stadt der Ukraine“ genannt. Kiew hat sich immer wieder erholt – von der Brandschatzung durch Mongolen und die Truppen des Krimchans, von den Zerstörungen des stalinschen Generalplans und der mörderischen deutschen Herrschaft. Die Stadt, die 1494 das Magdeburger Stadtrecht verliehen bekam, wurde 2014 zum Schauplatz der größten Volksbewegung in Europa seit 1989.
Dort entscheidet sich jetzt, ob Europa standhält oder fällt. Man traut sich nicht mehr, solch pathetische Worte zu gebrauchen. Aber für die Kämpfer in den Straßen von Kiew ist die Rede vom „Anbruch des postheroischen Zeitalters“ (Herfried Münkler) nur ein Zeichen von Ahnungslosigkeit, eine intellektuelle Pose.
Was für Berlin 1948 in der Zeit der Berlin-Blockade galt, gilt jetzt erst recht: „Völker der Welt, schaut auf diese Stadt“, Berlins Regierender Bürgermeister Ernst Reuter blieb damals nicht ungehört. Kiew braucht Waffen, es braucht die Schließung des Himmels für die russischen Angreifer, es wartet auf etwas wie eine Luftbrücke, die Berlin gerettet hat.
Karl Schlögel, Jahrgang 1948, ist Osteuropahistoriker und lebt in Berlin.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 12.3.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.