Putins Macht, Putins Kontrollverlust
Putin führt Russland auf den Weg seiner Selbstzerstörung. Weshalb tut er das?
Der Punkt, an dem die russische Gesellschaft um ihres eigenen Schicksals willen aufwachen und sich zu Wort melden müsste, ist jetzt erreicht. Und sie meldet sich: Zehntausende, Überlebende des vergangenen Jahrhunderts und Digital Natives der Jetztzeit, haben in Dutzenden Städten ihre Stimme erhoben und barbarisch schwere Strafen auf sich genommen.
Angehörige verschiedener Professionen haben mit vollem sozialem Risiko ihren Protest artikuliert. Und dazu kommt der Strom begabter, weltläufiger, erfolgreicher Menschen, die in Scharen das Land verlassen, ihre Wohnungstüren abschließen, ihre Autos stehen lassen, ihre Devisen zusammenkratzen, um ein Ticket nach Tiflis, Jerewan oder Istanbul zu bekommen und weiter in den Westen zu fliegen.
Sie alle haben eine Entscheidung getroffen, deren existenzielle Schwere wir uns kaum vorstellen können. Das summiert sich schon jetzt zu einer zivilisatorischen Katastrophe, die an die früheren Wellen eines geistigen, künstlerischen, unternehmerischen Exodus und an die lange Geschichte einer immer neuen, gewaltsamen Verstümmelung der eigenen reichen humanen Potenziale Russlands anschließt.
Die Mehrheit aber schweigt wie eh und je, mürrisch oder fatalistisch, betäubt vom medialen Trommelfeuer, dessen lügenhafte Raffinesse die der einstigen sowjetischen Propaganda bei Weitem übertrifft. Und das, obwohl die Schleier, die vor der verleugneten Wirklichkeit dieser „Spezialoperation“ liegen, immer dünner und die Widersprüche in den Erklärungen des Führers und seiner Mundstücke immer schreiender werden.
Russen und „Kleinrussen“ (Ukrainer) sind ein Volk? Dann bombardiert Putin also sein eigenes Volk. Kiew soll die „Mutter der russischen Städte“ sein? Putin vergewaltigt sie demnach, wie es mit einem Kindervers aus ihm herausgesprudelt ist: „Du wirst dich fügen müssen, meine Schöne.“
Putin entscheidet, alle schweigen
In den „Korridoren der Macht“, sagen Eingeweihte (die es noch gibt), habe ein großes Kopfschütteln über diesen ohne jede Not vom Zaum gebrochenen Eroberungs- und Versklavungskrieg begonnen. Unter den Oligarchen und Neureichen herrscht latente Panik und Unzufriedenheit. Aber alle verdanken ihre Monopole und ihr Vermögen nun einmal der Nähe zur Macht, mit der sie in korrupter Symbiose leben, und so bleibt es bei düsteren Andeutungen im engeren Kreis.
Die wohlbestallten Inhaber öffentlicher Positionen verharren dagegen in eingeübtem Gehorsam, so zum Beispiel die über 700 Rektoren der wichtigsten Bildungseinrichtungen Russlands (deutsche Parallelen aus den Jahren 1933/34 fallen einem leicht ein), die ihre Unterstützung für die „unter Schmerzen errungene, aber notwendige Entscheidung“ des Präsidenten, „eine Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine durchzusetzen“, erklärt und sich feierlich verpflichtet haben, „die Jugend zum Patriotismus zu erziehen“. Dabei dürften sie sich schon ein wenig vor dem raub- und mordlüsternen Fanatismus derer fürchten, die sich im Netz an den Bildern der Brände von Charkiw oder Kiew delektieren („die Party des Jahrhunderts“) und vielleicht schon von einer Karriere als Kapo oder Kolonist auf den fruchtbaren Schwarzerdeböden oder in den verlassenen Städten „Neurusslands“ träumen.
Es ist eine archaische Situation inmitten einer hochmodernen und noch immer vernetzten Welt: Putin allein spricht und entscheidet, in wachsender Einsamkeit wie Godunow oder Macbeth, umwittert von Verrat und getrieben von den Furien des Verschwindens. Die Kommandeure des Militärs und der Geheimdienste und die Leiter der Regierungsapparate, die er vor aller Augen zu Lakaien degradiert hat, sind ihm auf Bildschirmen zugeschaltet oder rapportieren gute Nachrichten vom Ende jener überlangen Schleiflacktische, die zum Spott der Welt geworden sind.
Nur dass uns jedes Lachen vergangen sein sollte, seit klar wird, dass wir im Westen schon durch unsere zaghaften Unterstützungsleistungen für die in verzweifelter Verlassenheit kämpfenden Ukrainerinnen und Ukrainer sowie durch unsere sorgsam kalkulierten wirtschaftlichen Sanktionen und Boykotte in den Augen Putins längst zu aktiven Teilnehmern dieses Kriegs geworden sind, aus dem wir uns doch unbedingt heraushalten möchten.
Man mag es hassen (ich jedenfalls tue es), die Kassandra zu spielen: Aber wenn nicht sehr schnell eine Wende eintritt, und nicht nur eine Atempause, die zur Remunitionierung und Neugruppierung genutzt wird, dann könnte dies alles auf ein Endgame hinauslaufen – und das auch und gerade für Russland selbst.
Dieser Feldzug, der täglich mehr die Züge eines Vernichtungskriegs annimmt, kann der Logik des Handelns und Redens Putins folgend nur noch durch einen Sieg beendet werden, den er mit aller Gewalt aber nicht erringen wird.
Selbst wenn er alle ukrainischen Städte nach dem Muster von Grosny oder Aleppo in Schutt und Asche gelegt und einen Großteil ihrer Bevölkerung nach Europa getrieben hätte, oder wenn es ihm gelänge, die Ukraine wenigstens zu zerteilen – selbst dann würde er das in frischer Feindschaft gegen ihn vereinte Land nicht kontrollieren können. Man sieht keinen für Putin gesichtswahrenden und für alle anderen noch halbwegs guten oder wenigstens akzeptablen Ausgang – und hofft umso mehr, dass man sich irrt.
Hitler, Stalin, Putin
Wie konnte es aber überhaupt so weit kommen? Weder die Charakterologie Putins, an der alle Welt jetzt herumrätselt, liefert dafür eine zureichende Erklärung, noch das historiosophische Gebräu, das er in den vergangenen Jahren immer dichter angerührt hat und dessen Quintessenz er zwei Tage vor der Invasion in einem weithin unverständlichen, einstündigen Monolog aus dem Führerbunker seinem Volk dargelegt hat.
Was für ein Anachronismus ist es, dass ein einzelner Mensch (und alles andere als ein Übermensch) in eine derart von allen sozialen Bindungen und Hemmungen, von warnenden Rückmeldungen und politischen Kontrollen befreite Position gelangt, in der er solch einsame und katastrophale Entschlüsse treffen kann? Außer Xi Jinping, der vermutlich doch noch in einen gewissen kollegialen Zusammenhang seines Politbüros und Führungskreises eingebunden ist, und neben Kim Jong-un, der in den Augen seines hermetisch abgeschlossenen Volks die Stellung eines reinkarnierten Halbgotts einnimmt, fallen einem nur noch die allerbedrückendsten historischen Parallelen ein: Stalin und Hitler.
Aber über deren totalitär-charismatische Machtvollkommenheit verfügt Putin dann auch wieder nicht. Über die wundersame Karriere seines Gegenspielers, des jüdischen Comedians Wolodymyr Selensky, der nun in einer ganz neuartigen zivil-heroischen Art und Weise zum charismatischen Zentrum des Widerstands seiner Bürgerinnen und Bürger geworden ist – über diese großartige, bewegende Geschichte werden noch viele Feuilletons und Bücher geschrieben werden.
Aber wie erklärt sich die Parallelgeschichte des Wladimir Putin, der vor mehr als dreißig Jahren ebenfalls (scheinbar) aus dem Nichts kam? Damals im Jahr 1999, als der kranke und senile Boris Jelzin den blassen, schmächtigen KGB-Oberst der Reserve aus der Mitte der Kreml-Administration heraus als designierten Nachfolger neben sich auf die Bühne stellte, hatten kaum zwei Prozent der Bevölkerung den Namen Putin jemals gehört.
Aber an der Schwelle des neuen Jahrtausends, noch bevor er zu den Präsidentschaftswahlen antrat, verzeichnete dieser gesichtslose Apparatschik binnen weniger Wochen und Monate einen Popularitätsgewinn, der als demoskopisches Phänomen fast beispiellos war. Mehr noch: einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Russlands erschien er als eine vom Schicksal oder von Gott gesandte Rettergestalt, bevor irgendjemand wusste, wer er eigentlich war und was er vorhatte.
Brutal in Tschetschenien
Zu sehen war vorerst nur eins: dass er mit außergewöhnlicher Brutalität einen weiteren, dritten Tschetschenienkrieg eröffnete, der die unabhängig gewordene Republik in die Föderation zurückbombte und sie mit Mord- und Folterlagern überzog, wofür er eine Kerngruppe seiner islamistischen Gegner um den Mufti-Sohn Kadyrow herauskaufte und in eine hemmungslos grausame, mit viel Devisen und strafloser Macht ausgestattete Prätorianergarde umwandelte. Das war das eigentliche Geheimnis dieses Siegs (dessen Szenario Putin jetzt offenbar in der Ukraine wiederholen möchte).
Inwieweit seinem Geheimdienst und ihm selbst die vorausgegangenen, nebelhaften Geschehnisse anzulasten sind – die sinn- und ziellos wirkenden Explosionen in Moskau und anderen Städten im September 1999, die Hunderte ahnungslose Menschen in den Tod rissen und Putin zwei Jahre vor 9/11 als Vorwand für seinen eigenen „Krieg gegen den Terror“ dienten –, ist ein Gedanke, den man kaum gewagt hat zu denken. Auch nicht, als er mit jedem Auftragsmord gegen Kritiker und Opponenten, mit jedem Giftanschlag gegen „Verräter“ und mit jeder mit Splittern oder Giftgas gefüllten Fassbombe auf Krankenhäuser und Kindergärten in Syrien sein Gesicht deutlicher gezeigt hatte.
Abgesehen von solchen dunklen, kriminellen Energien und abgesehen auch vom zynischen Geschick der illustren Polittechnologen, die ihn von Beginn an umschwärmt und aus der formell existierenden Demokratie Russlands eine Charade mit künstlich kreierten Parteien, servil gleichgeschalteten Staatsdienern sowie üppig dotierten Medienapparaten gemacht haben – bleibt aber die Frage nach den tieferen Gründen und nach den Ermöglichungsbedingungen dieser Machtfülle, die noch immer auch plebiszitäre Züge trägt. Schließlich ist das Russland Putins kein derart totalitär abgeschottetes und durchherrschtes Gebilde wie das Nordkorea Kims, und auch keine so kompakte, kraftstrotzende, verdichtete Sozialformation wie das Reich Xis, der über eine einzigartige, in alle Winkel dringende, das gesamte soziale Leben neototalitär überwachende und steuernde Machtapparatur verfügt.
Dagegen dürfte die Machtfülle Putins sich, gerade umgekehrt, einer sozialen und mentalen, historisch und sogar geophysisch begründeten Leere verdanken, die einen latenten Horror Vacui erzeugt, der Sinnstiftungen anzieht und nach politischer Ausfüllung verlangt. Putin hat diese Rolle entschlossen angenommen, getragen von einer sozialen Panik, in die viele sozialpsychologische und realgeschichtliche Komponenten eingeflossen sein dürften.
Wie in einem fehlerhaften Zirkel
Das lässt sich hier nur in wenigen Facetten und Schlaglichtern andeuten. Sie helfen vielleicht, besser zu verstehen, warum die russische Gesellschaft, so differenziert, vergleichsweise gebildet und vielseitig begabt sie ist, sich kaum je hat demokratisch konstituieren können. Und umgekehrt: Warum sie sich immer wieder in einer Situation hilfloser Auslieferung gegenüber autokratischen Herrschern befunden hat, wie gerade jetzt wieder – einer Situation, auf die ein Großteil mit einer habituellen Bereitschaft zur autoritären Verehrung und einem diensteifrigen Gehorsam reagiert, während eine Minderheit sich mit umso größerer Charakterstärke als „Nichteinverstandene“ (Dissidenten) deklariert und Verfolgungen ausgesetzt hat, ins innere oder äußere Exil gegangen oder sich in Subsphären reiner Kunst und tiefer Spiritualität geflüchtet hat.
Wieder andere haben dagegen in fanatischen Oppositionen und revolutionären Aktivitäten Halt gesucht, aus denen – in Gestalten wie Lenin oder Stalin prototypisch verkörpert – am Ende mörderischer Bürgerkriege und Terrorkampagnen Diktatoren und Autokraten neuen Typs mit noch größerem Machtwillen hervorgegangen sind.
Dieses wiederkehrende Muster der Geschichte Russlands – hier als der staatsbildende Kern eines neuzeitlichen Imperiums verstanden – ist schwerlich ein Zufall. Es gibt vielmehr eine Reihe handgreiflicher, materieller Gründe, für die es nur bedingt des Rekurses auf eine mystische „russische Seele“ oder der Beschwörung eines Landes, welches „mit dem Verstand nicht zu erfassen“ sei, bedarf. Und auch das Wort vom „homo sovieticus“, der sich noch in dritter Generation fortzeuge, ist nur von begrenztem Erklärungswert.
Dasselbe gilt auch für die den Russen angeblich ureigene, tiefe Liebe zum Imperium, von dem so schwer Abschied zu nehmen sei – als wäre das für die Briten oder die Türken (zum Beispiel) leichter gewesen. Umgekehrt vielmehr: Gerade die hypnotischen Selbstüberschätzungen Russlands als größtes Land der Erde und designierte Supermacht, als geopolitisches „Herzland“ der Welt oder als „einzigartige eurasische Zivilisation“, wie sie von den nationalreligiösen Kreml-Ideologen beschworen wird, sind der Hauptgrund, warum seine Geschichte sich wie in einem fehlerhaften Zirkel bewegt. Auf Zeiten imperialer Überspannung und vermeintlicher Ultrastabilität folgten, und jedes Mal aus scheinbar heiterem Himmel, Phasen der chaotischen Selbstauflösung.
Moskau zieht alle Ressourcen an sich
Das galt für das im 18. und 19. Jahrhundert, parallel zu den westlichen Kolonialreichen, zusammengeraubte Vielvölkerreich der Zaren, das in der großen Volkserhebung von 1905 und dann in der noch größeren, radikaleren Revolution vom Frühjahr 1917 mitten im Weltkrieg binnen weniger Tage auseinanderfiel und sich in seine historischen Teile auflöste, darunter auch die für unabhängig erklärte Ukraine. Und das galt, nachdem die Bolschewiki dieses alte Imperium mit exzessiver terroristischer Gewalt noch einmal in einen neuen, pro forma föderativen, de facto zentralistischen Machtstaat überführt hatten, der sich dank Hitler nach 1939 und erst recht nach 1945 über alle historischen Grenzen hinaus bis nach Mitteleuropa ausdehnen konnte, auch für die UdSSR, die mitten im Frieden nach 1989 ihrerseits jäh kollabierte.
Die damals Seite an Seite mit der Ukraine und den anderen postsowjetischen Republiken begründete „Russländische Föderation“ ist in Wirklichkeit auch ein frisch zusammengezimmerter Staat, der sich (angefangen mit der Adaption der älteren Trikolore) ganz neu erfinden musste. Und zugleich ist sie ein fragiles Gebilde, das trotz aller Versuche Putins zur Errichtung einer neuen, strikten „Machtvertikale“ von zentrifugalen Kräften durchwoben und in untergründiger Gärung ist. Moskau zieht rund 70 Prozent aller Einkünfte und Ressourcen an sich, nicht zuletzt aus Westsibirien, während den Regionen kaum Spielräume und Einkünfte bleiben.
Auf dem Weg in die kulturelle Selbstisolation
Dabei wäre eine großzügige Föderalisierung der Schlüssel zur Entwicklung und Erschließung des Lands im Ganzen, das stattdessen über weite Flächen verödet und ausstirbt und das aus Mangel an Menschen und Kapital nicht einmal in der Lage ist, viele seiner wertvollen Vorkommen an Metallen, seltenen Erden und so weiter zu erschließen. Geschweige dass es in der Lage wäre, der sich beschleunigenden ökologischen Katastrophe mit auftauenden Permafrostböden und absterbenden Wäldern irgendwie zu begegnen – Prozesse, die ihrem globalen Rang nach mit dem Raubbau der Amazonas-Regenwälder gleichzusetzen sind. Gleichzeitig ergibt die noch immer skandalös niedrige Lebenserwartung, kombiniert mit einer ebenso niedrigen Geburtenrate, einen demographischen Verfall, der von einer kaum ergründeten psychosozialen Dramatik ist.
Genau dieses Szenario einer inneren Selbstauflösung hat Putin seit 2012 als das unaufhaltsame Schicksal Russlands beschworen, wenn es seinem Weg in die kulturelle Selbstisolation und geopolitische Expansion nicht folge. Obsessiv spricht er von den „23 Millionen russischen Menschen“ jenseits der Grenzen, die es offenbar heim in ein großrussisches Reich zu führen gelte – eine völkische Siedlungsplanung, deren archaische Primitivität erstaunt, zumal die Eingeschlossenen von Mariupol und anderen ostukrainischen Städten, die offenbar zu dieser strategischen Menschenreserve gezählt werden, zum geringsten Teil die „Korridore“ und eifrig offerierten Staatsbürgerschaften Russlands annehmen wollen; und jetzt schon erst recht nicht mehr.
Putins „Raum ohne Volk“
Wollte Hitler bei seinen großdeutsch-großgermanischen Siedlungsplanungen sein angeblich eingeengtes „Volk ohne Raum“ in vermeintlich unterentwickelte, von Untermenschen bevölkerte Räume lenken, so haben wir es in Putins Prospekten mit einem „Raum ohne Volk“ zu tun, der immer noch weiter ausgedehnt werden soll. Und wenn dieses Land und sein Führer sich in hypochondrischer Weise von allen Seiten bedroht fühlen, dann nicht zuletzt, weil Putin es mit seinen starren, fossilen Exportstrategien von der weltwirtschaftlichen Dynamik abgekoppelt hat, die sich in den vergangenen dreißig Jahren zwischen Asien, Europa und den USA auf maritimen Wegen entfaltet hat und an Russland weitgehend vorbeigegangen ist.
Jenseits all dieser ökonomischen, demographischen, sozialstrukturellen Faktoren gibt es allerdings noch eine mentale Disposition, die Putin auf diffuse Weise mit einem Großteil seines Volks verbindet und die er als Ressource für seine Politik der militärischen Aggression und Expansion ausbeutet. Im Dokumentarfilm des russischen Regisseurs Dmitri Bogoljubow über „Jelnja – Stadt des Ruhmes“ von 2019 bekommt man eine Vorstellung von der Art und Weise, in der es dem Regime gelingt, die Jugend dieses herabgewirtschafteten Monostädtchens nahe Smolensk in einer unendlichen Reihe patriotischer Inszenierungen wie in einen Kokon einzuspinnen.
„Dafür haben die nicht gekämpft“
Jelnja war der Ort einer ersten, siegreichen, aber letztlich vergeblichen Schlacht der Roten Armee gegen die im Sommer 1941 auf Moskau vorrückenden, auf Weisung Hitlers aber zunächst nach Norden (Leningrad) und nach Süden (Stalingrad) abschwenkenden deutschen Armeen. Knochen, Abzeichen, Uniformreste von 40 000 Toten liegen hier in den Wäldern und werden in einer geradezu besessenen Grabungsbewegung gesammelt und in feierlichen, von Priestern und Stadtvorderen begleiteten Ritualen von einer „Jugendarmee“ in Massengräbern beigesetzt.
„Die braune Pest hat ihr Gesicht nicht versteckt – aber die neue, schwarze Pest aus Europa und Amerika tut es und ist deshalb noch gefährlicher!“, erklären die Redner, und die Kinder schwören, der neuen Pest zu widerstehen, und singen Kampflieder. Eine alte Frau trägt ein eigenes Gedicht vor, das von Barbaren handelt, „die das Blut unserer Kinder trinken“. Eine Mutter, die ihren Sohn im Afghanistankrieg als Helden der Sowjetunion verloren hat, psalmodiert: „Euer Leben ist mit Sinn erfüllt!“ Und dann ziehen die Jungen und Mädchen, von Offizieren begleitet, zurück in die Schule, wo sie lernen, wie man Gewehre zerlegt und sich auf den Gaskrieg vorbereitet.
Jelnja war einer der Aufmarschplätze der Ukraineinvasion, und vielleicht waren einige der ältesten Jungen aus dieser verfallenen Industriestadt, in der es sonst wenig Spannendes gibt, unter den blutjungen Soldaten, die nach Wochen endloser Manöver ohne jede Erklärung nachts über die Grenze und in Gefechte geschickt worden sind, die sie zu Tausenden nicht überlebt haben. Aber wie in einem Shakespeare-Drama sagt Sergej, ein Waldläufer und Arbeitsloser, der manisch auf eigene Rechnung in den Wäldern um Jelnja nach Knochen und Überresten sucht, über den Schädel eines Rotarmisten, der „noch gute Zähne“ hatte und deshalb ganz jung gewesen sein musste, als Epilog zum Regisseur: „Dafür haben die nicht gekämpft, damit wir so leben.“ Und bricht unvermittelt in Tränen aus.
Ein kleines Fünkchen Hoffnung
Er ähnelt auf bestürzende Weise Juri Dmitriev, der als Aktivist der Geschichts- und Menschenrechtsorganisation Memorial in einer ähnlich obsessiven Weise jahrelang nach den Überresten der im Großen Terror erschossenen, in Massengräbern beerdigten Häftlinge gesucht und ihnen Denkmäler gesetzt hat – bevor man ihn 2017 unter fadenscheinigen Vorwänden verhaftet und zu einer fast lebenslangen Haft verurteilt hat; und bevor Memorial am Vorabend des Ukrainefeldzugs als „ausländischer Agent“ endgültig aufgelöst und zerschlagen worden ist.
Die moralisch kaum ertragbaren und intellektuell kaum auslotbaren Abgründe der eigenen Geschichte, vor denen viele Bürger Russlands wie vor einem Medusenantlitz geflohen sind, hat Wladimir Putin, seit Jahren der oberste Historiker seines Lands, in einem einzigen großen, vaterländischen Narrativ einzuebnen und zu beerdigen versucht. Alles, was Russland sich selbst angetan hat, ist demnach von fremden Kräften oder Einflussagenten ins Land getragen worden.
Und so ist es auch verboten, über die heikle Verknüpfung des stalinistischen Terrors mit den Anfangserfolgen der Wehrmacht und mit den gigantischen Opfern des deutschen Eroberungs- und Vernichtungskriegs zu sprechen, über die zu Zehntausenden erschossenen Offiziere zum Beispiel, die in Jelnja gefehlt haben, oder über die Teilung Europas im Hitler-Stalin-Pakt. Dessen vorderste Linien im Baltikum und Weißrussland, der Ukraine oder Moldau sollen jetzt als eine vorgeschobene, natürliche „Sicherheitszone“ Russlands reklamiert werden.
Das kleine Fünkchen Hoffnung, das wir in dieser über Europa und die Welt hereingebrochenen Nacht noch hegen können, wäre ein eklatantes Scheitern dieses mörderischen Feldzugs, begleitet von einem moralischen Erwachen und einem politischen Umbruch in Russland selbst. Dann wäre die Atmosphäre plötzlich gereinigt, und eine neue Lage wäre eingetreten.
Russland würde vom Paria zu einem hoch erwünschten internationalen Partner mit großen Aufgaben, aber auch Perspektiven, Seite an Seite mit der Ukraine. Und der Sieger dieser ganzen sinnlosen Schlächterei hieße nicht Xi, der für China ähnliche, noch weiter ausgreifende hegemoniale und territoriale Ansprüche angemeldet hat, die die Welt ebenso wenig hinnehmen kann wie die, die Putin jetzt mit mörderischer und selbstzerstörerischer Verbissenheit verfolgt.
Der Historiker Gerd Koenen veröffentlichte zuletzt „Die Farbe Rot – Ursprünge und Geschichte des Kommunismus“. Dieser Beitrag ist ursprünglich am 21.3.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.