Finnlandisierung? In Finnland erfolgreich
Finnland hat sich 1939 zu Neutralität verpflichtet. Wirtschaftlich erwies sich das als klug
Die Zeichen mehren sich leider, dass der Kremlherr Wladimir Putin seine Vorstellungen von Machtpolitik wieder mit militärischer Gewalt durchsetzen zu können glaubt. Ukrainer und Russen seien untrennbar ein Volk, behauptet er. Die nach Westeuropa ausgerichtete Politik der ukrainischen Regierung sei nationalistisch und bedrohe zusammen mit der Nato die Sicherheit Russlands. Wer nicht hören wolle, müsse mit der russischen Armee rechnen, die entlang der Grenze zur Ukraine Stellung bezogen hat.
Der Westen sollte sich herausgefordert fühlen. Denn wenn Putin tatsächlich eine Invasion der Ukraine befiehlt, setzt er sich damit über die für eine zivilisierte Welt zentralen Prinzipien der territorialen Integrität und des Selbstbestimmungsrechts unabhängiger Staaten krude hinweg. Das ist eine Bedrohung nicht nur für die Ukraine. Doch wie ernsthaft wären Europa und die USA bereit, sich für ihre Prinzipien zu wehren?
Die zögerlichen Reaktionen der EU-Staaten zeigen, dass sich die Ukraine keine Illusionen machen sollte. Stattdessen könnte es sich für sie lohnen, finnische Erfahrungen etwas genauer zu studieren.
Finnland gehörte fünf Jahrhunderte lang zu Schweden, wobei Teile Finnisch-Kareliens unter russisch-orthodoxem Einfluss standen. 1808/09 gewannen die Russen einen Krieg gegen die Schweden. Daraufhin integrierten sie Finnland als Großherzogtum ins Russische Reich.
1918 nutzten die Finnen die Wirren der bolschewistischen Revolution, um sich für unabhängig zu erklären. Der Revolutionsführer Lenin war mit anderem beschäftigt und ließ sie gewähren.
Stalins Angriff gegen Finnland
Doch Ende der 1930er-Jahre argumentierte sein Nachfolger Stalin ganz ähnlich wie heute Putin: Er behauptete, Finnlands Nationalismus und die gegenüber den Kommunisten distanzierte Haltung der finnischen Regierung gefährdeten die Sicherheit Leningrads – des heutigen Sankt Petersburg – und damit Russlands.
Stalin forderte von den Finnen ultimativ die Abtretung Wyborgs und karelischer Gebiete sowie militärische Sicherheitsgarantien. Nachdem die finnische Regierung dies abgelehnt hatte, lancierten die Russen Ende November 1939 kurzerhand eine militärische Offensive. Finnland bat die Schweden um militärische Hilfe, erhielt aber bloß moralische Unterstützung.
Was als schnelle Invasion gedacht war, erwies sich trotz zahlenmäßig massiver Überlegenheit für die Rote Armee als schwieriger als gedacht. Der Angriff blieb in den finnischen Winterwäldern stecken und forderte große Opfer. Doch nachdem den Russen Ende Februar ein Durchbruch gelungen war, willigten die Finnen in den Friedensvertrag von Moskau ein.
Sie mussten große territoriale Zugeständnisse machen, doch es gelang ihnen, die Russen davon zu überzeugen, ihnen anders als den später ganz ins Sowjetreich integrierten baltischen Staaten die Unabhängigkeit zuzugestehen. Im Gegenzug verpflichtete sich Finnland auf eine strikte politische Neutralität.
Strikte Neutralität, wirtschaftliche Prosperität
Was heute mit dem Begriff der „Finnlandisierung“ verbunden wird, hat im Westen zu Unrecht eine negative Konnotation. Dank der strikten Neutralitäts- und Versöhnungspolitik der finnischen Präsidenten Juho Kusti Paasikivi und Urho Kekkonen gelang es den Finnen nämlich, weiterhin unabhängig und nach westlichen Vorstellungen freiheitlich zu leben und sich wirtschaftlich immer stärker mit dem übrigen Westen zu integrieren.
Die strikte Neutralitätspolitik erwies sich ökonomisch gesehen gar als ein regelrechtes Erfolgsmodell. Statt von Moskau gelenkt oder gar in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt zu werden, konnte sich Finnland auf eine wirtschaftliche Aufholjagd konzentrieren.
Während die Finnen am Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen mit den Russen, Polen, Portugiesen und Spaniern zu den Ärmsten Europas gehörten, entwickelten sie sich dank ihrer Neutralitätspolitik danach ähnlich dynamisch wie Deutschland. Ende der 1980er-Jahre hatte Finnland zu Schweden aufgeschlossen, dessen Bruttoinlandprodukt pro Kopf nach dem Zweiten Weltkrieg noch um mehr als ein Drittel höher war. Ähnlich erging es Österreich, das 1955 seine immerwährende politische und militärische Neutralität erklärte und damit seine territoriale Integrität und Unabhängigkeit erfolgreich absicherte.
Polen hingegen kam zusammen mit der übrigen Ex-Sowjetunion nur schleppend voran und vermochte sich erst nach der Loslösung vom Warschauer Pakt 1991 wirtschaftlich so dynamisch wie die westlichen Marktwirtschaften zu entwickeln. Den Rückstand auf die Finnen hat Polen bis heute bei weitem nicht aufgeholt.
Es kommt auf politischen Willen an
Alle vom Volk gewählten ukrainischen Regierungen der vergangenen Jahre haben sehr zum Ärger Putins die Zukunft ihres Landes primär in einer stärkeren Integration mit Europa und nicht mit Russland gesehen. Angesichts der drohenden russischen Invasion und der nur bedingten Unterstützung aus dem Westen könnte ihr Weg dorthin vielleicht über eine klar definierte Neutralität nach finnischem Vorbild führen.
Die Forderungen der Russen müsste das eigentlich zufriedenstellen. Und wenn es der noch immer vergleichsweise armen Ukraine damit gelänge, in einem politisch ruhigeren Umfeld verstärkt eine wirtschaftliche Brückenfunktion wahrzunehmen, müsste sich das rasch positiv auf dessen Entwicklung auswirken. Funktionieren wird eine solche „Finnlandisierung“ allerdings nur, wenn sie von innen getragen wird.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 22.1.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung