Finnland: Vorbild für die Ukraine?
Dauerhaft neutral oder dauerhaft geteilt: Finnlands Politik nach dem sowjetischen Überfall 1939/1940
Das historische Beispiel Finnlands begleitet die Ukraine ihre gesamte eigenstaatliche Existenz hindurch, wenn auch ab und an wie ein Alb. Abseits der offensichtlichen Grenzen einer zum Gemeinplatz gewordenen historischen Analogiebildung hält das finnische Exempel mehr bereit als das, was häufig mit pejorativem Unterton unter „Finnlandisierung“ subsumiert wird.
Oberflächlich betrachtet sind die Parallelen frappierend: Ein junges, aus einem zusammenbrechenden Imperium hervorgegangenes Land macht sich trotz weitgehender Isolierung daran, seine Existenz gegen einen übermächtig wirkenden (neo-)imperialistischen Aggressor mit Zähnen und Klauen zu verteidigen – und gewinnt nicht nur Sympathie und praktische Solidarität von Teilen der Weltöffentlichkeit, sondern findet auch im Inneren zu sich selbst. Die Republik Finnland sah sich im November 1939 nach gescheiterten diplomatischen Bemühungen einem nur schwach camouflierten sowjetischen Angriffskrieg ausgesetzt, den es bis in den März 1940 auf sich allein gestellt ausfechten musste. Der geschichtsmächtige, für die finnische Nation konstitutive Mythos vom „Winterkrieg“ war geboren.
Sowjetischen Geländegewinnen, die weit hinter den Erwartungen zurückblieben, setzten die Finnen einen Behauptungswillen entgegen, der sich nicht nur aus dem Durchhaltevermögen der Armee, sondern auch aus einer umfassend mobilisierten Gesellschaft speiste – ein Phänomen, für das man in der finnischen Sprache den überhöhenden Begriff vom vermeintlich genuin finnischen „Sisu“ bemühte. Der Begriff – auf Deutsch etwa Kraft, Zähigkeit, Ausdauer sowie Unnachgiebigkeit (und das alles in einem) – fand erst mit dem Winterkrieg wenn nicht zu seiner heutigen Konnotation, so doch zu internationaler Popularität als sinnbildliche Verdichtung des finnischen Wesens. Symbolisch spiegelte sich der „Geist des Winterkriegs“ (talvisodan henki) in Carl Gustaf Emil Mannerheim (1867 bis 1951), einem ehemaligen kaiserlich-russischen General der Kavallerie, der Anführer und Symbol der finnischen Abwehrbemühungen wurde.
Finnlands kollektives Heldenepos
Der Winterkrieg erfüllt bis heute eine erinnerungskulturelle Funktion als kollektives Heldenepos, getragen von einer Flut individueller autobiographischer Heldenepen. Damit verknüpft ist seine national-identitäre Dimension, in der sich die Überwindung des durch den Bürgerkrieg von 1918 verursachten innergesellschaftlichen Traumas und die Genese eines mit sich selbst ausgesöhnten Staatsvolks endgültig zu vollziehen schienen.
Auch dies ist eine weitere Parallele zur Ukraine: Die Solidarität anderer Staaten ließ nicht lange auf sich warten, brach aber immer dann ab, wenn eine aktive Teilnahme am Krieg gegen die UdSSR zu befürchten war. So lieferten ideologisch ganz verschieden ausgerichtete Staaten wie das faschistische Italien, die westalliierten Verbündeten Frankreich und Großbritannien und das formal neutrale Schweden schwere Waffen, moderne Kampfflugzeuge oder – im Falle Schwedens (sowie Dänemarks und Norwegens) – ein Kontingent von ungefähr 9000 Freiwilligen, die, zu einer eigenen nordischen Brigade zusammengefasst, von Ende Februar 1940 an im Norden der finnischen Ostfront zum Einsatz kamen. Hitler hingegen verhielt sich in Rücksichtnahme auf sein Bündnis mit Stalin so prosowjetisch neutral, dass die Finnen zunächst konsterniert und schließlich voller Entrüstung waren.
Während der im September 1939 mit dem deutschen Angriff auf Polen entfesselte Krieg auf dem Kontinent nach wenigen Wochen zu einem passiven Sitzkrieg geworden war, genoss der finnische Kriegsschauplatz die ungeteilte Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit und die Abwehrerfolge der finnischen Armee deren leidenschaftliche Anteilnahme. Vor diesem Hintergrund schloss der seit Jahren ohnmächtig vor sich hintreibende Völkerbund in seiner letzten öffentlich vernehmbaren Entscheidung am 14. Dezember 1939 die UdSSR aus seinen Reihen aus. Obgleich in der Öffentlichkeit bereits ein Begriff, markierte die Mobilisierung des globalen guten Willens vor dem Hintergrund des Winterkriegs einen Wendepunkt in der internationalen Wahrnehmung Finnlands.
Grenzen historischer Analogiebildung
Man mag diese historischen Erfahrungen als ermutigendes Beispiel eines sich erfolgreich gegen einen übermächtigen Aggressor erwehrendes Land auch auf die Ukraine übertragen. Doch damit enden die Parallelen – und dies hängt auch mit den Grenzen historischer Analogiebildung zusammen, also mit dem, was man als vermeintliche Lehren aus der Geschichte abzuleiten versucht. Denn Finnlands periphere geographische Lage, seine nachgeordnete Bedeutung im politisch-ideologischen, kulturellen und strategischen Wahrnehmungshorizont der UdSSR und auch des postsowjetischen Russlands, die bemerkenswerte Elitenkontinuität und konsolidierte Staatlichkeit seit dem neunzehnten Jahrhundert – all diese Spezifika machen das Land zu einem ebenso eigenen wie eigentümlichen Fall.
Dreieinhalb Monate hielt Finnland um den Jahreswechsel 1939/40 der Sowjetunion stand. Gerade aber, als sich die Westalliierten aus eigenen strategischen Erwägungen zu einer militärischen Intervention auf finnischer Seite bereitfanden, entschieden sich Mannerheim und die politische Führung in Helsinki für einen schmerzhaften Waffenstillstand mit der UdSSR, der als (erster) Moskauer Frieden vom März 1940 einen Großteil der sowjetischen Forderungen aus der Vorkriegszeit erfüllte: die Abtretung weiter Teile Westkareliens sowie der zweitgrößten Stadt des Landes Wiborg/Viipuri, mit der die Aussiedlung von 422 000 Einwohnern, gut zwölf Prozent der Landesbevölkerung, verbunden war; ferner die Abtretung militärstrategisch sensibler Küstengebiete und, nicht weniger belastend, die Stationierung sowjetischer Truppen auf finnischem Boden, in Hangö/Hanko, gut einhundert Kilometer südöstlich der Hauptstadt.
Mannerheim kam zu dieser Entscheidung nicht nur aufgrund erster und potenziell durchschlagender sowjetischer Erfolge, sondern auch, weil er zu Recht befürchtete, dass eine durch die Intervention der Westalliierten geschaffene neue Kriegskonstellation Finnland zu einem wesentlichen Schauplatz des eskalierenden Großmachtkriegs machen würde. Im Kriegsjahr 1941 suchte Helsinki bewusst die Nähe, ja die militärische Koalition mit dem nationalsozialistischen Deutschland, um als Flankenmacht in Hitlers „Unternehmen Barbarossa“ an der Vernichtung der UdSSR und der Austreibung eines als asiatisch dämonisierten Russlands bis hinter den Ural mitzuwirken.
Als Hitlers Operation indessen früh scheiterte, entschied sich Finnland spätestens seit dem Frühjahr 1943 für den einseitigen Austritt aus dem Krieg. In der Art, in der man im September 1944 schließlich erneut einen Frieden mit der UdSSR aushandelte, spiegelt sich eine ältere, bereits im neunzehnten Jahrhundert angelegte Tradition der finnischen Politik – die Erkenntnis, dass angesichts einer mehr als 1300 Kilometer langen Landgrenze die eigene staatliche Existenz nur mit und nicht gegen Russland gesichert werden könne. Anders gewendet: Die Souveränität Finnlands konnte und kann nicht losgelöst von der Lage des Lands betrachtet werden.
Neutralität für Eigenständigkeit
Auf dieser Grundlage entwickelte die finnische Staatsführung um die Präsidenten Juho K. Paasikivi und Urho Kekkonen in den Nachkriegsjahrzehnten ebenjene kompromissbereite, sowjetische Interessen gleichsam präemptiv in Rechnung stellende Politik der Selbstneutralisierung, die seit den Sechzigerjahren polemisch als „Finnlandisierung“ bezeichnet und der Ukraine insbesondere in den letzten Jahren vermehrt als vermeintliches Modell empfohlen wurde. Als ideologisches Kampfvehikel entstammt der Begriff der „Finnlandisierung“ dem Arsenal westdeutscher Kalter-Kriegs-Rhetorik und geht auf Richard Löwenthal und Franz Josef Strauß zurück. Mit dem Hinweis auf das vermeintlich sowjetisch gleichgeschaltete und seiner Souveränität beraubte Finnland versuchten dezidiert antikommunistische Transatlantiker wie Strauß die im linken Parteienspektrum erwogene Neutralisierung der Bundesrepublik – oder eines wiedervereinigten Deutschlands – zu skandalisieren.
Kekkonen hingegen wendete diese Stigmatisierungsversuche seinerzeit ins Positive und argumentierte, dass die Selbstneutralisierung und das gute Verhältnis Finnlands zur UdSSR nicht auf die vernachlässigbare Beschränkung eigener Souveränität zu reduzieren sei. Die selbst gewählte, aus den Erfahrungen des Weltkriegs erwachsene „Finnlandisierung“ komme vielmehr erst vor dem Hintergrund des damit verbundenen Beitrags zur Sicherung des Friedens in Europa und zu einer fortgesetzten Entspannungspolitik zur Geltung.
Insofern sei das finnische Beispiel im aufgeheizten Klima des Blockkonflikts eher als modellhaft denn als Inkarnation von staatlicher Selbstaufgabe und bolschewistischer Unterwanderung zu verstehen. Was diese Politik dem Land in jedem Fall bewahrte, war in erster Linie seine Fortexistenz als nicht sowjetisierter Staat, übrigens das einzige Beispiel eines solchen Modus Vivendi in der gesamten sowjetischen Einflusssphäre nach dem Zweiten Weltkrieg.
Je feiner dieser Modus zwischen Helsinki und Moskau im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte austariert wurde, je mehr das Vertrauen der Sowjetführung in die Beständigkeit des guten Verhältnisses zu Finnland wuchs, desto nachhaltiger erweiterte sich der finnische Handlungsspielraum. Dies galt zweifelsohne im Inneren, wo das Land – bei aller strukturellen Abhängigkeit vom sowjetischen Markt und Tendenzen zur vorauseilenden Selbstzensur – den Wohlfahrtsstaat schwedischer Prägung zu übernehmen verstand und sich seine nationale und gesellschaftspolitische Eigenständigkeit bewahrte. Mehr noch ließ sich dies auch in den Außenbeziehungen und im Hinblick auf die Rolle des Lands im internationalen System beobachten.
Auf Grundlage der finnischen Integration in den nordischen Raum wurde insbesondere Kekkonen zu einer zentralen Figur der Entspannungspolitik im Kalten Krieg, nicht zuletzt über den KSZE-Prozess der Siebziger, dessen lange nachwirkende Ergebnisse gegenwärtig durch die russische Invasion der Ukraine obsolet zu werden drohen. In dieser Hinsicht wurde das „finnlandisierte“ Finnland der Nachkriegszeit zu einem jener fruchtbaren „intermediary bodies“, die der amerikanische Historiker Paul W. Schroeder als unabdingbares Regulativ einer funktionstüchtigen internationalen Ordnung beschrieben hat.
Im Gegensatz zum alten geopolitischen Puffer kommt diesem eine kreative, auf Entwicklung internationaler Beziehungen aktiv einwirkende Funktion zu. Der Schroeder‘sche „Intermediär“ hebt Geist und Gestalt des internationalen Systems auf ein neues Niveau, das ohne dessen Existenz und Wirken nicht vorstellbar wäre.
In dieser selbstbewussten Neuerschließung einer Selbstneutralisierung dürfte ein gangbarer Weg angelegt sein, um der Ukraine in ihrem Verhältnis zu Russland die Eigenstaatlichkeit sowie ein Höchstmaß an Eigenständigkeit zu bewahren und gegebenenfalls sogar eine Orientierung hin zur Europäischen Union zu ermöglichen. Dies setzt einen politischen Pragmatismus und Realismus voraus, der für den Augenblick aus naheliegenden Gründen verschüttet scheint. Trotz der derzeitigen Priorität des Waffengangs dürfte perspektivisch indessen wenig an der Erkenntnis vorbeiführen, dass die Ukraine sich auf territoriale und verfassungspolitische Konzessionen ebenso einzustellen hat wie auf eine Form dauernder Neutralität – dann aber vorzugsweise als Spielart einer bewussten Selbstneutralisierung, wie sie das finnische Beispiel nahelegt.
Die Alternativen, insbesondere jene eines sich hinziehenden, in jeder Hinsicht katastrophalen Kriegs und einer sich zunehmend brutalisierenden russischen Besetzung wenigstens von Teilen des Lands, dürften dabei die von ukrainischer Seite zu Recht erhobenen Forderungen nach territorialer Integrität und staatlicher Souveränität weit eher infrage stellen. Pointiert hat dies kürzlich der Schweizer Neutralitätsforscher Pascal Lottaz erfasst, als er davon sprach, dass die Ukraine entweder dauerhaft neutral oder dauerhaft geteilt sein wird. In der Erkenntnis dieses Dilemmas liegt indessen – abseits der Tragik – eine Chance, für die das historische Beispiel Finnlands Orientierung geben kann.
Michael Jonas lehrt und forscht an der Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg, und am German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der internationalen Beziehungen und die Nordische Geschichte.
Der Beitrag ist zuvor in der FAZ erschienen. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, seinen Text auf KARENINA zu veröffentlichen.