Afghanistan: Nach dem Desaster
Welche sicherheitspolitischen Schlüsse Berlin, Brüssel und Moskau aus dem US-Rückzug ziehen können
Entwickelt sich aus dem Komplex Afghanistan wie nach 2001 ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt für die Neuvermessung der Region, gar für sicherheitspolitische Neuorientierungen im transatlantischen Verhältnis? Ein potenzieller „Geopolitical Pivot of History“ hängt auch davon ab, welche Staaten die Talibanführung außenpolitisch künftig bevorzugen, mit welcher Regimequalität sie regieren werden.
Die Viet Minh/Vietcong kämpften jahrzehntelang gegen die Franzosen und dann gegen die USA unbeirrt für ein nationalkommunistisches Vietnam. Der weltkommunistische Pfad von Peking oder Moskau war nicht ihre Sache. Ist das auch die Wegbeschreibung der Taliban, deren Herrschaftslegitimation sich bislang einzig aus ihren Kalaschnikows schöpft? Streben sie ein ultrakonservatives islamisches Emirat Afghanistan an, aber kein transnational agierendes dschihadistisches Kalifat? Ein Cocktail von Ungewissheiten.
Die Szenen am Kabuler Flughafen wurden parteiübergreifend in den USA als moralisch demütigend, logistisch desaströs und führungspolitisch verheerend kritisiert. Die Weltmacht, wie schon die vormaligen Imperien Großbritannien und UdSSR, stieß in Afghanistan an ihre Grenzen der politischen Kunst des Machbaren. Sie bewies auch wenig Gespür für das politisch Mögliche, für das Durchsetzen einer landesweiten militärischen Befriedung – von der Akzeptanz einer von außen installierten politischen Gestaltung ganz zu schweigen.
Amerikas Kehraus: Schwächung und Befreiung
Der Zweifrontenkrieg am Hindukusch und im Irak hatte Washingtons finanzielle Ressourcen und politische Geduld überdehnt. Und militärisch besitzt die NATO kein durchgängiges strategisches Konzept gegen jahrelange asymmetrische Kriegsführung, mit Kämpfern, die freudig das Paradies vor Augen den Tod wählen.
Dass Donald Trump das Rückzug-Chaos zum willkommenen Anlass nahm, um Joe Biden der „Kapitulation“ zu bezichtigen, überraschte nicht. Für Trumps ehemaligen zweiten Nationaler Sicherheitsberater Herbert R. McMaster war jedoch bereits das Doha-Abkommen mit den Taliban von strategischer Ahnungslosigkeit gezeichnet: „Die Taliban besiegten uns nicht“, sagte er. „Wir brachten uns selbst die Niederlage bei.
Nachdem der französische Präsident François Hollande sein Wahlversprechen konsequent umgesetzt hatte und im Juli 2012 der französische Truppenabzug begann – die letzten Soldaten verließen Kabul am 31. Dezember 2014 –, gab es auch kein europäisches Gewicht mehr, von der Trump-Regierung eine Beteiligung an den Abzugsverhandlungen seit 2018 in Doha einzufordern.
Vor den Präsidentschaftswahlen versprach Biden, das gestörte transatlantische Vertrauen wieder herzustellen und zum Multilateralismus zurückzukehren. Seine Prioritäten der neuen Washingtoner Realpolitik hatte er damals bereits gesetzt: Russland sei die größte Bedrohung für die Sicherheit der USA und ihre Alliierten, China der größte (systemische) Rivale. Diesem Drehbuch ordnet seine Administration alles unter.
Aus verantwortungsethischer Sicht gegenüber all jenen Menschen, die nach 2001 in Afghanistan ein Leben in Selbst-, zumindest aber Mitbestimmung führen konnten, markiert der Einmarsch der Taliban in Kabul am 15. August 2021 die Niederlage des Westens. Für den Präsidenten bedeutet dies eine Dornenhecke an der innenpolitischen Front. Global sicherheitspolitisch jedoch befreit er seiner Überzeugung nach die USA aus den Irrungen und Sackgassen dauerhafter, sinnloser Kriege. Der geplante Abschluss des Kampfeinsatzes auch im Irak bis Ende 2021 ist nur konsequent.
Lasten der Verbündeten
Bidens klare Vorgabe der militärischen Selbstbeschränkung haben die US-Verbündeten weltweit sorgsam politisch gewogen. Einigen ist der Schreck in die Glieder gefahren, als er sagte: „Amerikanische Soldaten können und sollten nicht in einem Krieg kämpfen und sterben, den die afghanischen Streitkräfte selbst nicht zu führen gewillt sind.“ Der Weckruf aus Washington heißt übersetzt: Nur wenn Bündnispartner fortan eigene militärische Kampfkraft stärken und ins Feld bringen, ist US-Beistand zu erwarten. Ein Unterschied zu Trumps Philippiken ist kaum erkennbar.
Andererseits weckt das rigorose unilaterale Abzugsmanagement Sorge. Werden die USA bei einer ernsthaften sicherheitspolitischen Krise umso mehr solo handeln, mit lediglich kurzfristiger Vorab-Informierung, aber ohne vorherige Konsultationen und ohne Partizipation?
Die Europäer kaschieren ihr latentes Misstrauen hinsichtlich der (uneingeschränkten) Verlässlichkeit der USA mit dem Ruf, endlich den europäischen Pfeiler in der Nato zu stärken. Diese Stimmen können aber auch umschlagen in eine Stimmung der Forderung nach mehr Eigenständigkeit – losgelöst von den USA. Starker politischer Druck Bidens, sich in die US-Gegnerschaft zu Russland und China vorbehaltlos einzureihen, würde das befeuern, wie auch eine erneute republikanische Präsidentschaft im Stil von Donald Trump nach den Wahlen 2024.
Russlands Perzeptionen und Schwachpunkte
In Moskau wird der US-Rückzug ambivalent bewertet. Dass Biden nun nation building als programmatischem Interventionsziel der USA in Afghanistan bestreitet, ließe sich als Einstieg in eine Revision der US-Außenpolitik wahrnehmen, als Abkehr vom Ziel, Werte durchzusetzen. Die russischen Analytiker werden jedoch Bidens Werben für eine Revitalisierung des Multilateralismus unter US-Führung als Machtinstrument gegen chinesisches Dominanzstreben verstehen, das sich – wie sich auf seiner Europareise im Juni zeigte – auch gegen ihr Land richtet.
Die russischen Sicherheitsapparate begutachteten aufmerksam die Konzepte der US-Militärs zur Aufstandsbekämpfung sowie die Methoden, mit denen es die Herzen und Köpfe der Bevölkerung erreichen wollte, hinsichtlich der potenziellen Eignung ihrer Anti-Terrormaßnahmen. Der US-Abzug als strategischer Akteur aus dem geopolitisch bedeutsamen zentralasiatischen Land löste einerseits Genugtuung aus. Andererseits blicken die russischen Entscheidungsberater mit Sorge auf die damit freiwerdenden Ressourcen, die nun zur Einhegung ihres Lands und Chinas eingesetzt werden könnten.
Die Taliban als Feind des russischen Feindes USA sind nicht automatisch Russlands Freund. Moskau muss nämlich einkalkulieren, dass Hardliner der Taliban oder nicht beherrschbare dschihadistische Terrorgruppierungen aus Afghanistan Anschläge in den sicherheitspolitisch verbundenen muslimischen Anrainerstaaten Tadschikistan, Kirgistan und Usbekistan verüben oder dort erheblich stärker als bislang Kämpfer rekrutieren, die in den russischen Nordkaukasus einsickern.
Die Diskrepanz zwischen Bidens Vorstellung von Zusammenarbeit und dem eigenen Verständnis von Multilateralismus verschafft im deutschen politischen Raum mehr Platz für Einsichten, sich nicht in die antagonistisch anmutende US-Russlandpolitik einspannen zu lassen. Dass man sich gegen die USA bei Nord Stream 2 durchsetzen konnte, sollte jedoch nicht zur Selbstüberschätzung führen. Washington wird für sein Nachgeben noch einen politischen Preis einfordern. Mit den USA geht es stets um ein Ausbalancieren von Erwartungsverlässlichkeit in der Partnerschaft. Mit Russland geht es stets um die Sicherheitskultur in der Nachbarschaft.
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