Putin und Erdoğan auf Kuschelkurs
Eine Hand wäscht die andere: Wie und weshalb Erdoğan Putin hilft, Sanktionen zu umgehen
Acht bis zehn Monate. Das ist die Zeitspanne, die dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan bleibt, um seine Macht zu sichern. Dann werden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden – für den türkischen Dauerherrscher der entscheidende Kampf seiner politischen Karriere. Er muss seine Wiederwahl sichern, da ihm bei einer Niederlage Korruptionsprozesse und womöglich das Gefängnis drohen.
Unübersehbar ist Erdoğan bereits im Wahlkampfmodus. Innenpolitisch verschärft der 68-jährige Autokrat den Kulturkampf im Land, um die konservativ-islamische Wählerschaft zu mobilisieren und gegen die säkulare, vorwiegend zur Mittel- und Oberschicht zählende Hälfte des Lands aufzuhetzen. Deshalb werden gerade angeblich „lasterhafte“ Rockfestivals verboten und werden Politiker der zweitstärksten, prokurdischen Oppositionspartei HDP zu Dutzenden unter „Terrorverdacht“ festgenommen und damit vermutlich ein Parteiverbot vorbereitet.
Doch der türkische Präsident kämpft diesmal mit noch nie gekannten Problemen. Seine Umfragewerte sind so schlecht wie kaum je zuvor. Noch mieser sind die Quoten seiner islamischen Regierungspartei AKP, die erstmals unter 30 Prozent rutschte. Laut einer neuen Umfrage sagen 60 Prozent der Bevölkerung, sie würden Erdoğan „auf keinen Fall“ wählen.
Mit dem Beginn des Wahlkampfs tritt die Türkei nun in eine Phase höchster Unsicherheit und Unberechenbarkeit ein. „Um die Wahlen zu gewinnen, ist Erdoğan absolut alles zuzutrauen, denn er weiß, wie eng es diesmal für ihn wird“, sagt Burak Copur, Politikwissenschaftler und Türkei-Experte aus Essen.
Inflation gefährdet Erdoğans Popularität
Um die Werte zu drehen, müsste Erdogan vor allem die hausgemachte Wirtschaftskrise eindämmen, die die Menschen in der Türkei beschäftigt wie kein anderes Thema. Die explodierende Inflation erreichte im August ein 24-Jahres-Hoch von offiziell 80,2 Prozent jährlich, doch schätzen unabhängige Experten die wahre Quote mehr als doppelt so hoch ein. Der Lira-Kurs ist auf einen neuen Tiefstand von mehr als 18 Lira für einen US-Dollar gefallen. Kürzlich stufte Moody’s die Bonität der Türkei auf das Kreditniveau B-3 („hochspekulativ“) hinunter.
„Ich mache mir große Sorgen um die Zukunft“, sagt Ismet Tarhan, Chef eines Restaurants im gehobenen Istanbuler Stadtteil Etiler. Der 42-jährige Selfmademan, Vater einer achtjährigen Tochter, möchte nicht mit seinem realen Namen zitiert werden. Er sagt: „Die Inflation treibt uns in den Ruin, und die Kaufkraft der Kunden nimmt jeden Tag ab.“ Viele Bekannte seien „gnadenlos verschuldet“ und im Begriff, in die Armut abzurutschen. „Jeder im Land weiß, wer für das Desaster verantwortlich ist. Bei fairen Wahlen hätte Erdogan keine Chance zu gewinnen.“
Faire Wahlen sind in der Türkei nicht die Regel. Auf halbwegs freie Wahlen zu verzichten, ist aber keine Option für Erdogan, denn sie sind seine wichtigste Herrschaftslegitimation. Zwar weiß der Staatspräsident aus Erfahrung, dass kulturelle Polarisierung, Repression gegen die Opposition und Manipulationen am Wahltag die Grundlage seiner Wahlsiege sind. Nur werden sie diesmal wohl nicht ausreichen. Die entscheidenden Prozentpunkte hängen jetzt an der Frage, ob es ihm noch einmal gelingt, die Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen. Und dafür braucht er – Geld.
Erdoğan hofft auf Geld aus Russland
Trotz eines exportgetriebenen Wirtschaftswachstums von derzeit 7,6 Prozent sind die Mittel aus eigener Kraft nicht aufzutreiben. Deshalb wirbt der Präsident geradezu verzweifelt um Investitionen und Milliardenkredite aus Saudi-Arabien, mit dem er noch vor kurzem verfeindet war. Den jahrelangen Streit mit Israel hat er beigelegt. Doch niemand kann ihm wirtschaftlich mehr helfen als ausgerechnet der geopolitische Rivale Russland, mit dem die Türkei in Syrien, in Libyen und im Kaukasus auf Kriegsfuß steht.
Vor drei Wochen traf Erdogan deshalb mit dem Kremlchef Wladimir Putin im russischen Sotschi am Schwarzen Meer persönlich zusammen und vereinbarte intensive wirtschaftliche Zusammenarbeit. Während Putin in den letzten Monaten andere Spitzenpolitiker an einem sechs Meter langen Tisch empfing, betrug die Gesprächsdistanz zu Erdoğan nur eine Armlänge. Die zwei Autokraten rücken so eng zueinander wie nie zuvor.
Obwohl das Nato-Mitglied Türkei innerhalb des Bündnisses die Südostflanke auch gegen Russland absichern soll, kuschelt Erdoğan mit dem Kreml-Chef, um Milliarden lockerzumachen. Putin seinerseits benötigt Verbündete gegen die westlichen Sanktionen. Beide Herrscher versuchen, sich jetzt gegenseitig zu stützen.
Erdoğan verfolgt dabei einen brisanten Schaukelkurs zwischen den geopolitischen Blöcken – er ist pro-Kiew, ohne anti-Moskau zu sein. Die Türkei lieferte den ukrainischen Streitkräften effektive Angriffsdrohnen und verweigert russischen Militärschiffen seit März die Durchfahrt durch den Bosporus ins Schwarze Meer.
Andererseits trägt die Türkei die westlichen Sanktionen gegen Moskau als einziges Nato-Land nicht mit. Sie lässt russisches Gas durch die Turkstream-Pipeline strömen und hat ihren Himmel für russische Handelsflugzeuge nicht geschlossen. Jede Vertiefung der wirtschaftlichen Bindungen zu Moskau verstärkt die Reibungen mit dem Westen, die Erdoğan bereits mit seiner Blockade des Nato-Beitritts von Schweden und Finnland verstärkte.
Noch gelingt es dem türkischen Präsidenten, seine Politik geschickt auszubalancieren. Ende Juli landete er einen diplomatischen Coup mit dem Abkommen zwischen Kiew und Moskau zur Ausfuhr ukrainischen Getreides.
„Damit hat Erdogan sein ramponiertes internationales Image aufpoliert und brachte sich außenpolitisch erneut als Vermittler ins Spiel, was sich in der Türkei sofort in positive Umfragewerte ummünzte“, sagt Professor Copur. „Aber seine Außenpolitik ist nicht wertebasiert, sondern opportunistisch machtorientiert und nach allen Seiten offen – wie’s gerade passt.“ Der permanente Spagat mache Erdoğan daher zu einem extrem unzuverlässigen Partner des Westens.
Mithilfe der Türkei Sanktionen umgehen
Bisher wurde nicht viel darüber bekannt, was genau die Autokraten in Sotschi aushandelten. Zwar betonen türkische Regierungsvertreter offiziell, man habe nur den Ausbau bestehender Handels- und Verkehrsbeziehungen gestärkt, nicht aber die Geldwirtschaft einbezogen. Doch tatsächlich bekommt Ankara dringend nötige Finanzinfusionen in die türkische Zentralbank von zunächst 6,1 Milliarden Dollarkrediten, weitere Milliardenkredite sollen folgen.
Zudem kann die Türkei russische Waren und Gasrechnungen teilweise in Rubel begleichen, um ihre schwindenden Devisenreserven zu schonen. Russland parkt damit von Sanktionen betroffenes Kapital in der türkischen Zentralbank.
Erdoğan selbst bestätigte, dass die Türkei künftig mit mindestens drei sanktionierten russischen Banken zusammenarbeiten und russische Touristen am Bosporus mit ihren heimischen Kreditkarten zahlen lassen werde. Damit unterläuft die Türkei offensichtlich die Sperren westlicher Kreditkartenunternehmen.
Und während der EU-Luftraum für russische Flugzeuge geschlossen wurde, hat die Türkei ihren zivilen Luftverkehr mit Russland mehr als verdreifacht. Vergangene Woche behauptete die Regierung der Republik Zypern, dass Russland auch Gold durch die Türkei schleuse – es wäre ein klarer Sanktionsbruch.
Gleichzeitig haben Tausende russischer Geschäftsleute ihren Firmensitz an den Bosporus verlegt, meldete die Nahost-Internetplattform Al-Monitor. Diese hätten in letzter Zeit Milliarden Dollar in Immobilien und Firmenbeteiligungen investiert und zugleich Waren aus Europa importiert, um sie nach Russland weiterzuschicken.
Türkische Oppositionsmedien berichteten über Umdeklarierungsmanöver für westliche Waren, die teils dem Embargo gegen Russland unterliegen. Sie würden etwa im türkischen Mittelmeerhafen Mersin angeliefert, türkisch etikettiert und anschließend nach Russland transportiert. Selbst wenn die Produkte nicht auf der Sanktionsliste stehen, hilft ihr Import der russischen Wirtschaft und unterminiert so die Sanktionen.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Erdoğan westliche Sanktionen ausbremst. Er tat das bereits Anfang der 2010er-Jahre, als unter mutmaßlicher Beteiligung staatlicher türkischer Banken große Mengen Gold in den Iran gebracht wurden, um auf diese Weise die amerikanischen Finanzsanktionen zu umgehen.
Jetzt hilft die Türkei dem Kreml, die Wirkung der westlichen Sanktionen abzuschwächen und konterkariert damit deren Ziel, die russische Wirtschaft zu schwächen. „Die Türkei ist damit zum strategischen Knotenpunkt für die Umgehung der westlichen Sanktionen geworden“, meint Professor Copur. „Putin pumpt massiv Geld in die Türkei, um die Sanktionen auszuhebeln, aber er will mit den Milliarden auch Erdoğan helfen, an der Macht zu bleiben.“
Erdoğan: „Pragmatiker der Macht“
Doch helfen Erdoğan Finanzierungstricks auch, die türkische Bevölkerung wieder von seiner Führungsstärke zu überzeugen? Vieles könne die staatliche Propagandamaschine schönreden – nicht aber den Lira-Kurs, der an jeder Wechselstube klar sichtbar sei, sagt dazu der in Istanbul lebende Türkei-Experte Gareth Jenkins von der Johns-Hopkins-Universität. „Es ist völlig unklar, ob es Erdoğan mit den Maßnahmen gelingt, den Lira-Kurs zu stabilisieren und den Kollaps der Wirtschaft im Winter zu verhindern.“ Doch begebe sich Erdogan zugleich in eine zunehmende, hoch riskante Abhängigkeit von Russland.
„Erdogan ist ein Pragmatiker der Macht, dem der Ukraine-Konflikt unverhofft neue Chancen beschert hat, innenpolitisch seinen Kopf zu retten – aber auf Kosten eines Bündnisses, das der Schlüssel für seine eigene Sicherheit ist“, sagt Jenkins. In diesem Kontext seien auch das beanspruchte Besitzrecht auf griechische Inseln vor der türkischen Küste oder die neuen Gasbohrungen im Mittelmeer zu sehen – Muskelspiele fürs heimische Publikum.
Doch müsse Erdogan aufpassen, dass er bei seinen Schaukelmanövern nicht überziehe. „Es ist unklar, ob die Türkei bereits rote Linien überschreitet, aber sie steht zumindest kurz davor.“
Schon hat das US-Außenministerium die Türkei unmissverständlich gemahnt, „kein sicherer Hafen für illegale russische Vermögenswerte oder Transaktionen zu werden“ und „ihre Energieabhängigkeit von Russland zu verringern“. Länder, die Russland bei der Umgehung der Sanktionen hülfen, liefen Gefahr, selbst sanktioniert zu werden. Von der Warnung abgesehen, ist aus Washington, Brüssel oder Berlin aber bisher kaum ein kritisches Wort zu Erdoğan möglichem Sanktionsbruch zu vernehmen.
„Das Problem ist die herausragende geopolitische Bedeutung der Türkei und ihre enge Verflechtung mit europäischen Banken und Industriefirmen“, sagt dazu Yavuz Baydar, Chefredakteur der exiltürkischen Nachrichtenplattform Ahvalnews. Womöglich hängt die auffällige diplomatische Zurückhaltung damit zusammen, dass die Nato-Norderweiterung erst durch das türkische Parlament ratifiziert sein soll, denn damit besitzt Erdoğan einen starken Hebel gegenüber der Allianz.
Baydar ist aber überzeugt, dass Putins Hilfe nicht ausreichen werde, um Erdoğan Wahlsieg zu sichern: „Deshalb müssen wir uns auf das Schlimmste gefasst machen. Er kann es sich einfach nicht leisten, zu verlieren.“ Andererseits: Wenn die Türken kein Fleisch mehr auf dem Tisch haben und für subventioniertes Brot anstehen müssen, könnten sie auf die Idee kommen, den Verantwortlichen für die Misere mit ihrem Wahlzettel in die Wüste zu schicken. Es wird spannend in der Türkei.
Frank Nordhausen ist Journalist und Buchautor in Nikosia, Zypern. Als freier Auslandskorrespondent arbeitet er für das Redaktionsnetzwerk Deutschland, die Frankfurter Rundschau, dieBerliner Zeitung und andere. Im vorigen Jahr ist sein Buch „111 Gründe, die Türkei zu lieben. Eine Liebeserklärung an das schönste Land der Welt“ erschienen (Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf).
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 9.9.2022 im Rahmen der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung erschienen. Wir danken dem Autor und der Berliner Zeitung für die Erlaubnis, diesen Text auf KARENINA zu veröffentlichen.