Osteuropas Geschichte dekolonisieren, aber wie?
Die Osteuropäische Geschichte muss neu ansetzen, Historiker sollten sich nicht als anti-imperialer Aktivist verstehen
Auch wenn es in Vergessenheit geraten sein mag, im deutschen Blick auf Osteuropa hatte das Konzept der „Dekolonisierung“ einen seiner Ursprünge. Aus der Beobachtung der erodierenden kontinentalen Imperien nach dem Ersten Weltkrieg heraus prognostizierte der Nationalökonom Moritz Julius Bonn in den 1930er-Jahren eine globale Fortsetzung solcher Zerfallsprozesse. Nach seiner Emigration aus Nazideutschland popularisierte er dafür im angelsächsischen Sprachraum den Begriff der „decolonization“.
Als Aufruf, unser Denken zu „dekolonisieren“, ist das Konzept in den vergangenen Jahren in die deutsche Wissenschaft re-importiert worden – auch in die historische Osteuropaforschung. Die Debatte hat angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine an Fahrt gewonnen. Sie verbindet sich mit der internationalen Kritik am zu zögerlichen oder zu russlandfreundlichen Deutschland, dessen Politikern und Intellektuellen etwa vom amerikanischen Historiker Timothy Snyder teils eine koloniale Haltung gegenüber Osteuropa vorgeworfen wird.
Dass Russland und die Sowjetunion Imperien waren, ist Konsens unter Historikern. In Bezug auf die durchaus bedenkenswerte Forderung, dass Russland und die russländische Geschichte „dekolonisiert” werden sollten, gilt es jedoch scharf zu trennen zwischen politischen Aufrufen einerseits und einem Überdenken des wissenschaftlichen Programms andererseits. Denn eine in Kriegszeiten politisierte und methodisch unreflektierte „Dekolonisierung“ birgt auch die Gefahr der Rückkehr zu einer disziplinären Sonderstellung, die die Osteuropäische Geschichte in den letzten drei Jahrzehnten zu überwinden suchte.
In seiner Forschungsagenda hat sich das Fach bereits seit längerem innovativen Zugängen geöffnet, denen nun das Label „Dekolonisierung“ vielleicht den Anschluss an internationale Debatten erleichtert. Dabei ist die Frage, ob es sich beim russländischen Imperium oder der Sowjetunion um „Kolonial“-reiche handelte, nicht entscheidend. Auch für Bonn war „Dekolonisierung“ ein Begriff für den Zerfall jedweder Art von Imperien.
Zu den nun noch relevanter gewordenen Themen gehören etwa die stärkere Fokussierung auf Peripherien oder die Überwindung des Eurozentrismus. Indem man solche Perspektiven einnimmt, werden nicht zuletzt die imperialen Hierarchien und Differenzen im sehr heterogenen postsowjetischen Raum verständlicher – und die mit dem neo-imperialen Phantomschmerz einhergehenden Gefahren.
Dekolonisierung als methodische, nicht politische Agenda
In Bezug auf explizit politische Forderungen nach einer Dekolonisierung Russlands ist gerade deshalb Vorsicht geboten: Ein Ende der imperialen Renaissance innerhalb der russischen Gesellschaft und im Kreml wäre sicher wünschenswert, eine solche Entwicklung liegt aber nicht in der Hand ausländischer Historiker. Die Forderung nach der politischen Zerschlagung Russlands, wie sie etwa unlängst in einem viel beachteten Beitrag im Magazin The Atlantic postuliert wurde, ist moralisch wohlfeil und für die verbliebene demokratische Opposition in Russland wenig hilfreich.
Politische Bekenntnisse sind ebenso kein guter Ratgeber für die Wissenschaft. Würde die Osteuropäische Geschichte etwa der von postkolonialen Aktivisten oft erhobenen Forderung folgen und einseitig zugunsten der Marginalisierten oder der Opfer imperialer Aggression Partei ergreifen, riskierte sie den Rückfall in einen längst überwunden geglaubten Normativismus – und dieser ist gerade in der gegenwärtigen Lage vollkommen unnötig.
So wird derzeit viel diskutiert, ob die Ukraine aus einer Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts hervorging oder ein Kind der sowjetischen Nationalitätenpolitik war. Überhaupt verdichten sich am Beispiel der Ukraine die Probleme imperialer Geschichte wie unter einem Brennglas: insbesondere heikle Fragen danach, ob die Ukraine eher eine „Kolonie“ oder die Wiege der russischen Zivilisation war, werden geschichtspolitisch instrumentalisiert und machen die ukrainische Vergangenheit zum Gegenstand erbitterter Kontroversen.
Für die politische Frage nach der Souveränität des ukrainischen Staats sind diese Debatten jedoch vollkommen irrelevant. Wie etwa die Historikerin Martina Winkler bereits Ende Februar 2022 unterstrich, ist der Sachverhalt völkerrechtlich eindeutig geklärt und bedarf weder einer historischen noch der moralischen Rechtfertigung.
Die Peripherien in den Blick nehmen
Eine zentrale Forderung postkolonialer Geschichtsschreibung besteht darin, Akteure an den imperialen „Peripherien“ stärker als bisher in den Blick zu nehmen. Dies sollte indes nicht dazu verleiten, solche Narrative zu bedienen, die auf eine Affirmation dezidiert „antirussischer“ Nationalgeschichten hinauslaufen. Denn die einseitige Betonung nationaler Bewegungen verkennt, dass in protonationalen Kontexten Stand und Religion oft wichtiger waren als Sprache oder Ethnie.
Im multiethnischen Imperium musste man nicht zwingend ein Russe sein, um in der zarischen Bürokratie Karriere zu machen oder in die sowjetische Nomenklatura aufzusteigen. Die alte These vom Imperium als „Völkergefängnis“ ist längst widerlegt.
Teilweise besteht die Polyethnizität der Eliten innerhalb Russlands bis heute fort: Es sind nicht nur ethnisch russische Großmachtphantasten, die das Regime stützen und das Morden in der Ukraine vorantreiben, sondern auch ein Verteidigungsminister mit tuwinischen und ukrainischen Wurzeln, ein usbekischer Oligarch sowie armenisch- und jüdischstämmige Einpeitscher im Staatsfernsehen.
Eine zweite Prämisse besteht in der „Überwindung eurozentristischer Perspektiven“. In der Tat sollte der einseitige analytische Fokus auf die imperialen Zentren der Vergangenheit angehören, so wie die Forschung zum Russländischen Imperium sich nicht vorrangig auf dessen westliche – europäische – Peripherien konzentrieren darf.
Zugleich aber war und ist Europa der wichtigste Referenzpunkt der demokratischen Ukraine. Und wie schon für die sowjetischen Dissidenten bleibt auch für die verbliebenen kritischen Russen ein positiver Westbezug wichtig. Den aktuellen Aufrufen kremltreuer Intellektueller zur „Entwestlichung“ und „De-Europäisierung“ Osteuropas sollte man deshalb nicht noch unbewusst Vorschub leisten.
Konzeptionelle und praktische Herausforderungen
Es sollte bei der Dekolonisierung der Osteuropäischen Geschichte also um ein Überdenken des eigenen Standpunkts, der methodischen Herangehensweisen und nicht zuletzt auch der Forschungsthemen selbst gehen. Für die meisten Historiker in Ost wie West führten bislang alle Wege nach Moskau oder Sankt Petersburg.
Deshalb ist es richtig, dass bislang vernachlässigte Regionen und Nationen aus der Konkursmasse des sowjetischen Imperiums künftig noch größere Aufmerksamkeit erfahren. In diesem Kontext korrigiert nicht zuletzt der vorhersehbare Boom von Arbeiten zur ukrainischen Geschichte bisherige Unwuchten.
Dabei steht die Forschung vor erheblichen Herausforderungen: Die russische Armee hat in der Ukraine auch Archive, Museen und Universitäten zerstört. Auf historisches Arbeiten in Russland selbst hat der Krieg ebenfalls unmittelbare Auswirkungen. Der Zugang zu Archiven bleibt ausländischen Historikern gegenwärtig praktisch verwehrt. Etablierte Netzwerke mit russischen Kollegen sind auf absehbare Zeit beschädigt.
In dieser Situation reicht es nicht aus, Forschungsthemen an leicht zugänglichen Quellen auszurichten, ohne zugleich die Prämissen des eigenen wissenschaftlichen Schreibens zu überdenken. Denn die Arbeit mit digitalisierten Quellen aus den Zentralarchiven birgt die Gefahr, die von Andreas Kappeler bereits Anfang der 1990er-Jahre kritisierte „russozentrische Optik“ zu verstärken. Der Drang in die Archive der übrigen 14 ehemaligen Sowjetrepubliken kann hingegen ein Weg zur Verinselung der Forschung sein.
Dem Fach droht das subdisziplinäre Selbstgespräch: Was werden Georgien- und Lettlandspezialisten einander zu sagen haben? Und wichtiger noch: Können sie einer breiteren Öffentlichkeit historisch informierte Antworten auf die drängenden Fragen der Gegenwart liefern?
Das Imperium bleibt als Analysekategorie wichtig. Denn wie, wenn nicht im imperialen Kontext, lässt sich Russlands Krieg gegen die Ukraine aus einer historischen Perspektive erklären?
Schließlich richtet sich das allgemeine Interesse eher darauf, das politische und militärische Handeln Russlands zu verstehen, als kleinteilige Spezialprobleme zu durchdringen. Eine zeitgemäße Geschichte Osteuropas muss auf diese Fragen angemessene Antworten finden, ohne dabei zur historischen Kremlastrologie des Kalten Kriegs zurückzukehren.
Überdies spricht nur eine Minderzahl der deutschen Osteuropahistoriker neben Russisch auch Ukrainisch, Estnisch oder Armenisch. Selbst wer die linguistischen Hürden meistert, steht im Kontext des postsowjetischen Raums vor weiteren Problemen: Was ist mit jenen Völkern, die 1991 nicht die Unabhängigkeit erlangten und stattdessen zu föderalen Subjekten Russlands wurden? Gehören die Jakuten und Tataren bald zu den vergessenen Kapiteln der Geschichte dieses Imperiums, die zukünftig – falls überhaupt – nur in systemkonformen Annalen auftauchen?
Ja Russland überhaupt, von Wjasma bis Wladiwostok, könnte schon bald hinter einer historiographischen Milchglasscheibe verschwinden. Und wenn die Forscher weiterziehen nach Jerewan, Tallinn oder Kischinau, werden sie dort eines oft vergeblich in den Findbüchern suchen: den Einfluss der Peripherien auf das Zentrum. Die Historiographie an den imperialen Rändern muss ohne deren rückwirkendes Verhältnis zur Metropole auskommen – womit ihr eine der produktivsten Perspektiven der neueren Dekolonisierungsgeschichte fehlt.
Die Geschichte des Russländischen Imperiums und der Sowjetunion sollte nicht erneut als exotische Ausnahme der europäischen Geschichte begriffen werden. Vielmehr muss sie noch konsequenter als bisher in die globale Geschichte der Imperien eingebettet werden. Entstehung des Russischen Reichs und Zerfall der Sowjetunion können auch als historischer „Normalfall“ gedeutet werden, der gleichwohl spezifische Formen annahm: So lebte nach dem Ende der Sowjetunion das imperiale Erbe fort – sowohl als Sehnsuchtsort als auch als Bedrohung.
Aktuelle Forschungen zu imperialen Desintegrationsprozessen verdeutlichen die Komplexität derartiger Zerfallsdynamiken und die Resilienz imperialer Strukturen. Das gilt etwa im Hinblick auf Elitenkontinuitäten oder ökonomische Abhängigkeiten, die auch nach politischen Trennungsprozessen fortbestehen – unter anderem in der Rohstoff- und Energieversorgung.
In diesen Themen liegt enormes Potenzial für vergleichende Untersuchungen der vielfältigen post-imperialen Entwicklungspfade in den ehemaligen Sowjetrepubliken und darüber hinaus. Auch als geopolitischer Faktor gewinnen Vorstellungen imperialer Weltordnung im 21. Jahrhundert wieder an Relevanz: Das zeigen nicht nur das Beispiel Russland, sondern auch die Bezüge auf das Osmanische Reich in der türkischen Außenpolitik oder Chinas erneutes Weltmachtstreben.
Keine Rückkehr zum Tunnelblick
Die Osteuropäische Geschichte kann das russländische wie sowjetische Imperium aus der historischen Analyse nicht ausklammern. Auch in diesem Kontext gilt: Alle Nationalgeschichte ist die Geschichte von Verflechtungen in komplexen imperialen Bezügen. Und Nationalstaaten sind nicht per se menschenfreundlichere politische Formationen als Imperien.
„Dekolonisierung“, verstanden als eine politisch wertneutrale analytische Dezentrierung der historischen Forschung, bietet aber durchaus Chancen, das Fach stärker in internationale Debatten zu integrieren, und Ansätze weiterzuentwickeln, die nicht die imperialen Machtzentren privilegieren, sondern sich auch vergleichend für Transfers und Dynamiken lokaler Selbstbehauptung interessieren.
Die „postkoloniale Perspektive“ sollte dabei aber weder zur Rückkehr zum nationalen Tunnelblick noch zu einer Repolitisierung oder Moralisierung der Vergangenheit führen. Selbstverständlich muss das Historiker keineswegs davon abhalten, sich auch politisch zu äußern.
Auch Moritz Julius Bonn, der den Begriff der „Dekolonisierung“ einst prägte, war ein öffentlicher Verfechter von Demokratie und Internationalismus in einer Zeit des wirtschaftlichen und politischen Isolationismus. In seiner wissenschaftlichen Arbeit aber verstand er sich als Analyst des Zerfalls von Kolonialreichen, nicht als am tagespolitischen Geschehen orientierter anti-imperialer Aktivist.
Robert Kindler ist Gastprofessor für Geschichte Osteuropas an der Freien Universität Berlin. Tobias Rupprecht ist Leiter der Forschungsgruppe „Peripheral Liberalism“ am Berliner Exzellenzcluster „Contestations of the Liberal Script“. Sören Urbansky leitet das Pazifikbüro des Deutschen Historischen Instituts Washington im kalifornischen Berkeley. Dieser Beitrag ist in gekürzter Form auch in der FAZ erschienen.