Der Permafrost taut unaufhaltsam
Ein militärischer Tunnel in Alaska führt ins Innere des Permafrosts, dort geschieht Erschreckendes
Im Inneren Alaskas gibt es einen Tunnel, der Jahrmillionen in die Vergangenheit zurückführt. Er liegt etwa zwanzig Kilometer nördlich des Städtchens Fairbanks, in einem militärischen Sperrgebiet, und heißt Permafrost-Tunnel, weil er durch gefrorenen Boden führt. Je tiefer man in den Stollen hinabsteigt, umso weiter zurück geht man in der Zeit, bis ins Pleistozän.
Das funktioniert, weil bei diesen unter der Erde herrschenden Minustemperaturen alles konserviert wird. Nicht ganz alles allerdings. Deshalb stinkt es im Stollen, als ob man sich im Innern eines riesigen Limburger Käses befände. Oder neben einem angetauten Kadaver.
Damit nicht zu viel auftaut, wird beständig kalte Luft in den Tunnel gepumpt, so dass die Temperatur nicht über minus 7 Grad steigt. Alles andere würde zerstören, was den Tunnel einmalig macht auf der Welt.
Gary Larsen von der Armeeabteilung Cold Regions Research and Engineering Laboratory, die den Tunnel kontrolliert, führt durch den Stollen. Er sagt es so: „Wenn ich in Ohio einen Apfel wegwerfe, verrottet er. Hier hingegen wird er tiefgekühlt und bleibt während Jahrtausenden unverändert.“
Michael Jacksons Traum: Totes zum Leben erwecken
Die Zeit steht still. So kommt es, dass aus den Stollenwänden gelegentlich ein Mammutzahn oder ein urzeitlicher Knochen herausragt. Auch sieht man urzeitliche Vegetation, Käfer, Mücken, Schmetterlinge, Muschelschalen und versteinerte Kleintiere.
Noch unheimlicher: Längst Totes kann wieder zum Leben erweckt werden, zum Beispiel Bakterien. „Vor Jahren nahmen Wissenschafter hier Proben von Eis, tauten es auf, betrachteten das geschmolzene Wasser unter dem Mikroskop und entdeckten lebende Bakterien.“
Zum Glück waren es harmlose, die überall in Alaska vorkommen und an die sich der Mensch längst gewöhnt hat. „Man wusste, dass Bakterien überwintern können. Aber dass sie nach Jahrtausenden im Eis wieder zum Leben erwachen können, das war neu“, sagt Gary Larsen.
Im Prinzip wäre es möglich, dass auch hochgefährliche Bakterien wie zum Beispiel Anthrax aus dem geschmolzenen Eis entweichen und immer noch tödlich sein können. Vor fünf Jahren kam es in Sibirien zu einem Anthrax-Ausbruch, nachdem ein Rentier, das vermutlich vor 75 Jahren am Anthrax-Bazillus gestorben war, wieder aufgetaut worden war. 200 000 Rentiere und ein Kind kamen ums Leben. Larsen sagt, dass so etwas auch hier passieren könne.
Der Tunnel ist ein Relikt des Kalten Kriegs
Der Permafrost-Tunnel wurde 1963 gebaut, aus militärischen Gründen. Es war die Zeit des Kalten Kriegs, und bekanntlich berühren sich Amerika und Russland fast in Alaska. Deshalb ist Alaska bis heute hoch militarisiert. Hinter dem Bau des Tunnels stand die Frage, ob der gefrorene Boden Schutz vor Bomben bieten würde, ob so ein Tunnel also als natürlicher Bunker dienen könnte. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass der Permafrost in Alaska recht uneinheitlich ist, und der Tunnel wurde vom militärischen zum wissenschaftlichen Projekt. Der Armee untersteht er allerdings immer noch.
Mit der globalen Erwärmung hat die Instabilität des Permafrosts weiter zugenommen. Er bietet keinen Schutz mehr, sondern ist zum Risikofaktor geworden. Das merkt man schon, wenn man von Fairbanks zum Tunnel hinausfährt. Die Straße ist in gutem Zustand, doch wegen des teilweise aufgetauten und abgesunkenen Permafrosts ist sie ganz bucklig geworden.
Die Folgen der Klimaerwärmung sieht man nicht nur, man riecht sie auch, nicht nur im Inneren des Tunnels. In diesen Tagen wütet ein Waldbrand nördlich von Fairbanks, auch am Eingang des Tunnels nimmt man den Rauch wahr. Die Feuerwehr versucht erst gar nicht, das Feuer zu löschen, das wäre ein hoffnungsloses Unterfangen. Sie begnügt sich damit, es einzugrenzen.
Glücklicherweise weht der Wind Richtung Norden. Vor zwei Jahren hingegen drang ein Waldbrand bis zur Stadtgrenze vor. Larsen erzählt, dass seine Familie evakuiert werden musste.
Im Moment ist es tagsüber 26 Grad warm, das sind Spitzentemperaturen. Aufgrund der generellen Temperaturerhöhung wird der Torfboden, nicht nur in Alaska, sondern in der gesamten arktischen Region, trockener und gerät leichter in Brand.
Mit einem Permafrostexperten im Wald
Wladimir Romanowsky ist eine internationale Koryphäe für Permafrost. Er ist Professor für Geophysik an der Universität von Alaska in Fairbanks. Zum Gespräch empfängt er nicht im Büro, er zieht es vor, in den Wald zu gehen, um die Thematik anschaulich zu machen. „Nicht überall in Alaska gibt es Permafrost, und nicht überall ist er gleich tief“, sagt er. Dort, wo es Permafrost gibt, ist die Oberfläche jetzt im Sommer aufgetaut, im Winter wird sie wieder gefrieren. Anhand der Vegetation erkennt er, wie der Boden beschaffen ist und wie er sich verändert.
Birken und Schwarzfichten deuten auf einen gefrorenen Untergrund. Romanowsky weist auf Bäume, die schief in der Landschaft stehen, weil der Frost taut. „Das gibt es erst etwa seit zehn Jahren hier“, sagt er. Er zeigt auch auf Absenkungen, Gräben und tiefe, kreisrunde Löcher im Waldboden. Thermokarst nennt man diese Verformungen im Gefolge des Auftauens.
Das wirklich Gefährliche an diesem Prozess seien die Teufelskreise, die in Gang gesetzt würden, sagt er. So wird der Boden durch die Waldbrände zusätzlich aufgeheizt und aufgetaut, Treibhausgase werden freigesetzt, und die Schneegebiete werden durch den Ruß dunkel, was die Rückstrahlung vermindert. All dies erhöht das Risiko weiterer Brände.
Dieser sich selbst verstärkende Mechanismus wirkt auch dort, wo Biomasse aufgetaut wird. Im Permafrost-Tunnel sieht man dicke Schichten von gefrorenem Holz und Gras, das sogar zum Teil noch grünlich ist. Beim Auftauen wird CO2 freigesetzt. Verschwände der ganze Permafrost, würden nach Schätzungen der Experten etwa noch einmal halb so viele Gase entweichen, wie sich bereits in der Atmosphäre befinden. Eine Katastrophe, die den Klimawandel erst recht anheizen würde.
Der Permafrost taut auf, unumkehrbar
Manche Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von einem Tipping Point, also dem Moment, in dem das ganze System kippt. „Das ist mir etwas zu alarmistisch“, sagt Romanovsky. „Ich spreche lieber von Schwellen und von Irreversibilität.“ Kurz gesagt: Von einer gewissen Temperatur an schmilzt der Permafrost, und ist dieser Prozess erst einmal in Gang, lässt er sich nicht mehr umkehren. „Selbst wenn es dann wieder massiv kälter würde, ginge es Jahrtausende, bis der aufgetaute Boden wieder gefrieren würde“, sagt er.
Ist es nicht deprimierend, seit vierzig Jahren zu beobachten, wie es immer schlimmer wird, unwiederbringlich? „Ich bin Optimist“, sagt er. „Tatsächlich können wir wenig ausrichten. Der Permafrost schwindet wegen der globalen Erwärmung, und die internationalen Maßnahmen dagegen sind viel zu langsam. Auf lange Sicht werden sich die Menschen aber an die neuen Umstände anpassen, das war schon immer so in der Evolution. Allerdings werden die Menschen, die ohnehin schon in schwierigen Umständen leben, also in den kältesten und in den heißesten Regionen der Erde, am härtesten getroffen.“
Könnte die Erwärmung auch positive Effekte haben, indem zum Beispiel Seewege eisfrei und schiffbar werden, der Abbau von Bodenschätzen einfacher oder Landwirtschaft in vorher unwirtlichen Gebieten möglich wird? „Vielleicht in ein paar Jahrhunderten“, sagt Romanovsky, „wenn alles aufgetaut sein wird. Zuerst aber wird es eine chaotische Übergangszeit geben. Die Öffnung der Seewege und die Möglichkeit der Ausbeutung von Bodenschätzen führen wahrscheinlich zu einer neuen geopolitischen und militärischen Instabilität. Das Auftauen ist unberechenbar und birgt Risiken wie zum Beispiel das Bersten des Dieseltanks im nordsibirischen Norilsk vor einem Jahr.“ Das Leck war eine direkte Folge der Deformationen des Bodens aufgrund des Tauprozesses. „Solche Katastrophen werden sich in den nächsten Jahren häufen“, sagt er.
Der optimistische Romanowsky erschrickt
Romanowsky kommt aus Russland. „Ich lehrte an der Universität von Moskau, als alle meine Kollegen in die Ölindustrie abwanderten, weil die Regierung für Forschung in Geophysik kaum noch Geld versprach“, sagt er. „Erst jetzt, da auch die Ölindustrie betroffen ist, interessiert sich die Regierung in Moskau wieder für uns. Ich wollte aber nicht in die Rohstoffbranche. Da merkte ich, dass es für mich mit meinem Fach in Russland keine Zukunft mehr gab.“ Also ging er nach Fairbanks, wo er bereits früher ein paar Monate geforscht hatte. Dort musste er allerdings im Alter von 38 Jahren noch einmal von vorn anfangen und wurde vom Professor wieder zum Studenten.
Später wurde er vor allem bekannt durch seine systematischen Bohrungen im ganzen arktischen Gebiet, die es ermöglichen, genaue Aussagen über die Geschichte des Eises im Laufe der Jahrtausende zu machen. „An der Oberfläche gibt es viele kurzzeitige Temperaturausschläge“, sagt er. „Aber in zwanzig Metern Tiefe erkennt man die wirklich langfristigen Trends. Wir konnten mit unseren Bohrungen zeigen, dass die Temperatur dort seit den achtziger Jahren um etwa drei Grad gestiegen ist. Offen gestanden hat uns das erschreckt. Das ist mehr, als die meisten Szenarien voraussagten. Das Klima war in den letzten 5000 Jahren noch nie so warm wie heute.“
Inzwischen ist Romanowsky 68 Jahre alt, forscht aber noch immer weiter. Dieses Jahr wird er nach China gehen. Ist ihm das Leben in Alaska mit der Kälte, der Dunkelheit und den langen Wintern nie verleidet? „Wissen Sie“, sagt er, „ich habe zum Glück Freunde in Hawaii, die ich jederzeit besuchen kann.“
Zum Schluss lädt er zu einer Tour in einen Vorort von Fairbanks ein. Dort sieht man bedenklich schief stehende Häuser. „Ich beobachte die Gebäude seit zwanzig Jahren“, sagt er. „Es ist ein langsamer Prozess, aber wenn ich ein Bewohner wäre, würde ich jetzt allmählich ausziehen.“
Andere Häuser sind bereits eingestürzt. Neubauten werden inzwischen auf Pfeilern erstellt. „Das hat den Vorteil, dass der Erdboden nicht aufgeheizt und weich wird. Die Luft kann unter dem Haus zirkulieren und den Boden kühlen“, sagt er. „Aber das ist oberflächliche Kosmetik. Die längerfristige Zerstörung des Permafrosts geht trotzdem weiter.“
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 7.7.2021 erschienen in Neue Zürcher Zeitung.