Wasserstoff: Für Allianz mit Russland
Sanktionen hinterfragen, Wachstumspotenziale erkennen, Energieversorgung sichern, auf Wasserstoff setzen
Der wirtschaftliche Aufschwung in Europa ist ein zartes Pflänzchen. Damit der Erholung nicht die Energie ausgeht, brauchen wir sichere Lieferketten. Das gilt insbesondere bei der Versorgung mit Rohstoffen. Denn die schnell steigende Nachfrage nach Rohstoffen führt derzeit zu einem Engpass und damit zu Preissteigerungen.
Neben der schwer vorhersehbaren Entwicklung der Covid-Pandemie gefährden vor allem drei Faktoren den Aufschwung: Inflation, Steuererhöhungen und angekündigte CO2-Abgaben. Ich sehe umgekehrt drei strategische Antworten, um die Konjunkturerholung abzusichern: erstens eine weitere Marktöffnung, zweitens eine größere Versorgungssicherheit und drittens mehr Nachhaltigkeit im Energiesektor.
Deutschland als Europas größte Exportnation sollte die Wachstumspotenziale erkennen, die sich aus einer Zusammenarbeit mit Russland ergeben. Als Präsident der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer (AHK), dem mit mehr als tausend Mitgliedern größten ausländischen Wirtschaftsverband in Russland, setze ich mich dafür ein, die Sanktionen gegenüber Russland zu hinterfragen.
Mit dieser Meinung stehe ich nicht allein. Dafür plädieren auch 92 Prozent der Mitgliedsunternehmen der AHK. Die Sanktionen sollten daher Schritt für Schritt oder am besten vollständig zurückgenommen werden.
Für Wiederannäherung braucht es aber zwei Partner. Russland muss sehr deutlich zeigen, dass es eine Entspannung im Konflikt in der Ostukraine einleitet. Erst dann kann endlich die Sanktionsschraube zurückgedreht werden.
Versorgungssicherheit: Meilenstein Nord Stream 2
In der Frage der Versorgungssicherheit plädiere ich vor dem Hintergrund der klimapolitischen Ziele der EU dafür, sich auf die eigene Kraft in Europa zu konzentrieren. Auch wenn von der EU-Kommission Investitionen in die Öl- und Gasförderung ständig benachteiligt werden, sind Unternehmen und Bürger in den kommenden Jahren weiter stark auf fossile Rohstoffe angewiesen. Die bestehende Fahrzeugflotte in Europa fährt nun mal zum großen Teil mit Benzin und Diesel. Auch die europäische Industrie ist auf eine sichere Energieversorgung mit Öl und Gas angewiesen.
Die Fertigstellung der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland ist daher ein Meilenstein für die Versorgungssicherheit in Europa. Es geht keineswegs darum, künftige Transitmonopole zu schaffen. Im Gegenteil, Nord Stream 2 trägt zur Diversifizierung der Energieversorgung bei. Selbstverständlich muss auch die Pipeline durch die Ukraine nach Westeuropa erhalten und erneuert werden.
Derzeit sehen wir im Gasmarkt hohe Preise und leere Speicher. Die niedrigen Speichermengen kommen nicht allein durch den strengen Winter zustande. Dafür sind vielmehr die geringeren Mengen von Flüssiggas (LNG) und reduzierte Importmengen aus Russland verantwortlich, da es technische Schwierigkeiten in einer Kondensat-Anlage in Nordsibirien gab. Wäre Nord Stream 2 schon in Betrieb und nicht aus politischen Gründen verzögert worden, hätte es diese Lieferprobleme nicht gegeben.
Auf Wasserstoff setzen – aber nicht engstirnig
Europa setzt zu Recht auf erneuerbare Energien wie Wasserstoff. Doch warne ich vor einem engstirnigen Denken, dass allein grüner Wasserstoff aus erneuerbaren Energien umweltfreundlich sei. Wenn wir weiter eine sichere und nachhaltige Energieversorgung erreichen wollen, sind wir auf Wasserstoff aus Erdgas mit unterirdischer Speicherung von CO2 angewiesen.
Leider setzt sich die EU selbst künstliche Grenzen, indem sie die unterirdische Speicherung von Kohlendioxid in fast allen Mitgliedsländern – darunter auch Deutschland und Österreich – verbietet. Wie sagte der russische Schriftsteller Nikolai Gogol: „Die einfältige Menge lässt sich ohne großes Überlegen vom Blendenden gefangen nehmen.“
Die CO2-Speicherung kann schnell und vergleichsweise kostengünstig unsere Emissionen durch die Einlagerung in unterirdische Lagerstätten reduzieren. Diese Chance sollten wir nutzen.
Europa kann sich keine ideologische Ablehnung von Wasserstoff aus fossilen Quellen leisten, wenn wir den Aufschwung nicht gefährden und unsere klimapolitischen Ziele erreichen wollen. Ich schlage daher eine Wasserstoff-Allianz mit Russland vor. Wir haben das Know-how und Russland die Gas-Lagerstätten.
Diese Arbeitsteilung hat sich bereits in der Vergangenheit als ein Erfolgskonzept erwiesen. Die AHK ist bereit, einen Beitrag zu leisten. Wir haben bereits Vorarbeiten gemacht.
Eine AHK-Initiativgruppe bringt deutsche und russische Unternehmen bei der Suche nach Wasserstoffpilotprojekten zusammen. Sollte uns die Realisierung solcher Projekte zeitnah gelingen, haben wir die Chance, die strategische Energiepartnerschaft unserer beiden Länder für Jahrzehnte fortzusetzen.
Auch politisch bewegt sich etwas – im April dieses Jahres wurde durch eine gemeinsame Absichtserklärung zwischen dem Bundeswirtschaftsministerium und dem russischen Energieministerium eine deutsch-russische Arbeitsgruppe für nachhaltige Energien ins Leben gerufen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Brückentechnologie: Blauer Wasserstoff
Der Fokus auf grünen Wasserstoff allein, so wünschenswert das auch sein mag, wird dennoch mittelfristig nicht realisierbar sein. Wir brauchen Wasserstoff aus Rohstoffen gleich jeder Couleur. Und so begrüße ich die Aussage des Bundeswirtschaftsministers Peter Altmaier auf der Deutsch-Russischen Rohstoffkonferenz, blauen Wasserstoff als Brückentechnologie für eine Übergangszeit zu nutzen.
Wir benötigen eine Rohstoff-Partnerschaft zwischen der EU und Russland, damit das von der Industrie getriebene Wachstum nachhaltig ausfällt. Gaukeln wir uns nichts vor: Der Strom aus erneuerbarer Energie wird nicht ausreichen, um in absehbarer Zeit genügend grünen Wasserstoff für die Industrie in der EU zu wettbewerbsfähigen Preisen zu produzieren.
Deshalb führt an einer Allianz mit Gasländern wie Russland kein Weg vorbei. Denn die russischen Lagerstätten befinden sich in unmittelbarer Nähe zu den europäischen Absatzmärkten. Diesen großen Vorteil sollten wir für unseren weiteren wirtschaftlichen Aufschwung nutzen.
Rainer Seele ist Präsident der Russischen Auslandshandelskammer (AHK) und Chef der OMV AG. / Der Beitrag ist zuvor erschienen in: Frankfurter Allgemeine, 24.8.2021. Wir danken dem Autor für die Genehmigung, den Text auf KARENINA zu veröffentlichen.