Was können Putin und Biden erreichen?
Maximalziel vor Genf: Wiederaufnahme der ständigen Gespräche über die strategische Stabilität
Bis zum Gipfeltreffen der Präsidenten Russlands und der USA sind es nur noch wenige Tage, aber lange hatten die Diplomaten noch nicht einmal den Ort des Treffens geklärt. In den Medien kursierten Spekulationen, die Gespräche könnten möglicherweise im Hotel InterContinental stattfinden, wo sich vor 36 Jahren Michail Gorbatschow und Ronald Reagan trafen.
Dann erschien in der Schweizer Presse eine Meldung, derzufolge Moskau das InterContinental abgelehnt habe, weil der Kreml jede Assoziation mit jenem Gipfeltreffen vermeiden wolle. Denn der oberste Chef reflektiert von Zeit zu Zeit gern über die für die UdSSR nachteiligen Verträge, die der letzte sowjetische Generalsekretär damals entweder aus Naivität oder aus Eigennutz mit den USA abschloss. Und den Anfang dieses für die sowjetische Militärmacht letztlich zerstörerischen Prozesses legte eben jenes Treffen in Genf.
Wenn man sich im Kreml diesbezüglich tatsächlich beunruhigt, dann ganz überflüssigerweise. Gegenwärtig ist es vollkommen ausgeschlossen, dass das Treffen von Biden und Putin der Beginn einer „Perestroika“, einer Umgestaltung der russischen Beziehungen zur übrigen Welt werden könnte.
Was 1985 anders war
Gorbatschow war 1985 ein Neuling in der internationalen Arena, der eine prinzipiell andere Herangehensweise sowohl in der Außen- als auch in der Innenpolitik für notwendig hielt. Und Reagan, aufgewachsen mit den damaligen Hollywood-Stereotypen darüber, wie ein kommunistischer Führer aussieht und sich verhält, war ehrlich überrascht, einem lebendigen, aufrichtigen und offenherzigen Menschen zu begegnen.
Die „Chemie“, die sich daraus zwischen dem amerikanischen Präsidenten und dem sowjetischen Generalsekretär entwickelte, wurde in den darauffolgenden äußerst turbulenten Jahren zum bestimmenden Faktor. Und bereits diesem ersten Treffen folgte eine für jene Zeiten geradezu revolutionäre gemeinsame Erklärung:
„Ein atomarer Krieg darf niemals entfesselt werden, es kann darin keinen Sieger geben. In Anerkennung der Tatsache, dass jeder Konflikt zwischen der UdSSR und den USA katastrophale Folgen haben könnte, betonen sie auch die Wichtigkeit der Verhinderung eines Kriegs zwischen den beiden Supermächten, gleich ob nuklear oder konventionell. Sie werden keine militärische Überlegenheit anstreben.“
Was heute anders ist
Heute bietet sich ein grundsätzlich anderes Bild. Nach zwei Jahrzehnten seiner Regierung stellt niemand mehr die Frage "Who is Mr. Putin?". Jeder weiß inzwischen, dass es sich um einen autoritären Führer handelt, wie sie auf diesem Planeten die Mehrheit bilden. Sie alle führen ihre Völker und Länder mehr oder weniger geschickt und grausam, ihr wichtiges Ziel ist aber immer, ihre Herrschaft zu verewigen.
Der einzige Unterschied zwischen Putin und anderen Autokraten besteht darin, dass er über ein gigantisches Atomwaffenarsenal verfügt, das jede Art von militärischem Druck unmöglich macht, selbst dann, wenn Moskau offensichtlich gegen internationales Recht verstößt. Joe Biden ist zum Präsidenten des mächtigsten Landes der Erde geworden zu einem Zeitpunkt, da es sich in einer tiefen inneren Krise befindet.
Zudem steht das Land am Rand einer direkten Konfrontation mit China, das ihm in wirtschaftlich, ideologisch und fortschreitend militärisch herausfordert. Gerade China ist es, nicht etwa Russland, das in dieser Hinsicht an die Stelle der Sowjetunion getreten ist.
Insofern unterscheiden sich die Ziele Putins und Bidens radikal von denen Reagans und Gorbatschows. Der amerikanische Präsident und der sowjetische Generalsekretär konzentrierten sich tatsächlich darauf, das gigantische Atomwaffenarsenal zu reduzieren und auf diese Weise die Voraussetzung für eine friedliche Koexistenz der beiden konkurrierenden Systeme zu schaffen.
Was erreichbar scheint
Heute aber, da diese Werte nicht mehr gelten, stehen die Atomwaffen im Zentrum der Verhandlungen, die man inzwischen Verhandlungen über strategische Stabilität nennt. Und das nicht zufällig. Strategische Stabilität ist ein Zustand, bei dem jede Seite weiß, dass die andere ihr einen nicht hinnehmbaren Schaden zufügen kann und deshalb auf Aggressionen verzichtet. Weil ihm keine anderen außenpolitische Mittel mehr zur Verfügung stehen, erinnert Putin nunmehr bei jeder Gelegenheit daran, dass er jederzeit in der Lage wäre, den Planeten in Flammen aufgehen zu lassen.
Es liegt jetzt an Biden, ein Beziehungsmodell zu finden, das den nuklearen Ambitionen des Kremls Grenzen setzt. Dies wäre machbar auf der Grundlage einer strategischen Sicherheitsformel, die nukleare und nicht-nukleare Waffen gleichermaßen einschließt.
Es ist an der Zeit, zu den Ursprüngen der sowjetisch-amerikanischen Verhandlungen zurückzukehren, als man alle Arten militärischer Rüstung als zusammenhängenden Komplex betrachtete. Die SALT-1-Verträge zum Beispiel erlaubten der Sowjetunion, zum Ausgleich für die Beibehaltung amerikanischer vorwärtsgerichteter Nuklearwaffen, taktischer Bomber und Kurzstreckenraketen (die analogen Systeme der UdSSR konnten amerikanisches Territorium nicht erreichen) eine größere Anzahl von Abschussvorrichtungen für strategische Raketen. Heute wird es darauf ankommen, einen gemeinsamen Nenner für Hyperschallwaffen, Raketenabwehrsysteme, taktische Atomwaffen und Cyberwaffen zu finden.
Die Ausarbeitung einer solchen Formel kann Jahre dauern. Aber allein die Tatsache, dass man daran arbeitet, macht die Situation berechenbarer. Insofern wäre das ideale Ergebnis der Verhandlungen zwischen Biden und Putin die Wiederaufnahme der ständigen amerikanisch-russischen Gespräche über die strategische Stabilität.
Das Ziel – die Verhinderung einer nuklearen Katastrophe – rechtfertigt die Kontakte zwischen Washington und Moskau in jeder denkbaren Krise. Sollte es jedoch nicht zu einer solchen Vereinbarung kommen, dann reduziert sich dieses Gipfeltreffen auf den Austausch wechselseitig nicht akzeptabler Standpunkte.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in russischer Sprache am 8.6.2021 im Jeschednjewni Schurnal (Tägliches Magazin) erschienen. Wir danken dem Autor und Chefredakteur des russischen Onlinemediums für die Erlaubnis, den Text auf KARENINA zu veröffentlichen. Übersetzung: Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.