Verhärtung ohne Aussicht auf Besserung

Das Herz des Dialogs besteht darin, vom Sockel der Überlegenheit herabzusteigen und sich in den Anderen hineinzuversetzen

Russland ist wieder unser Gegenüber geworden, ein identitätsstiftendes Anderes. Wir sind dabei die Guten, sie die Bösen.

Für Dialogbereite ist das ein Problem, denn sie werden zerrieben zwischen der kollektiven Mehrheitsidentität, die uns immer noch wacker auf dem Weg nach Westen sieht, auch wenn es den so nicht mehr gibt, und illiberalen Russland-Verstehern. Wer einen Schritt auf Russland zugehen will, gefährdet sich selbst, setzt sich möglicherweise sozialer Ächtung aus. Je ängstlicher die sich als liberal verstehende Mitte ist – und heute ist sie sehr ängstlich –, desto weniger wird sie verzeihen, wenn jemand dem real bestehenden Russland ein Gesprächsangebot „ohne Voraussetzungen“ macht.

In diesen Rahmen eingespannt knüpfen wir schon seit Jahren Dialogangebote an Forderungskataloge. Dabei müssen wir erleben, wie unsere „Waffen“ immer stumpfer werden. Denn die andere Seite reagiert auf unseren Druck niemals so, wie wir es gerne hätten, häufig ist das Gegenteil der Fall.

Wir befinden uns also in einer langen Spirale wechselseitiger Verhärtung ohne Aussicht auf Besserung. Und wir haben keine Ideen, wie wir aus der Situation wieder herauskommen.

Über eigene Unzulänglichkeiten sprechen

Dabei gibt es ungeahnte, noch kaum gehobene Ressourcen für den Dialog. Um diese nutzen zu können, sollten wir ohne Selbsthass und Moralkeulen über unsere eigenen Unzulänglichkeiten sprechen. So werden wir vielleicht auf russischer Seite – die russische Gesellschaft, nicht den Staat – eine überraschte Antwort finden: Oh, so kennen wir euch noch gar nicht!

Was könnte nach dieser Lockerungsübung kommen? Warum nicht mit einem Bonmot des russischen Satirikers Michail Jewgrafowitsch Saltykow-Schtschedrin (1826 – 1889) beginnen, der im 19. Jahrhundert verschmitzt über das zaristische Russland bemerkte: „Die Strenge der russischen Gesetze wird erträglich gemacht durch ihre Nichteinhaltung.“

Unschwer erkennen wir in dieser Aussage das heutige Russland, wo gesetzgeberische Drakonik und massenhafte Regelübertretungen immer noch Hand in Hand gehen, wo strenge Bestimmungen nicht dazu da sind, flächendeckend durchgesetzt zu werden, sondern man sie umgeht, weil es sonst „einfach nicht auszuhalten“ ist. Wer die extreme Observanz russischer Autofahrer vor der Kurve (wo die Polizeistation steht) und den Wildwestfahrstil danach (wo niemand mehr kontrolliert) erlebt hat, weiß was ich meine.

Die „russische Erfahrung“ der Deutschen

Das gibt es bei uns nicht? Doch doch! Auch die strengen deutschen Infektionsschutzregeln, so würde sich Saltykow-Schtschedrin vielleicht selbst paraphrasieren, werden erträglicher gemacht durch Nichteinhaltung. Wie wären die steigenden Ansteckungszahlen sonst zu erklären?

Nehmen wir Bayern, wo die Regeln rigoros sind und im öffentlichen Raum auch streng durchgesetzt werden, wo sich die Menschen aber dennoch anstecken, wie die Corona-Statistik zeigt. Irgendwo, wenn niemand schaut, unterlaufen auch die Deutschen die Regeln.

Die deutsche Gesellschaft macht zurzeit eine sehr russische Erfahrung, nämlich dass staatliche Regeln tief in den Alltag einschneiden können. Viele von uns ertappen sich bei Strategien, diesem Druck auszuweichen. Zu unserem Grundvertrauen in die Institutionen gesellt sich nun auch Misstrauen gegen sie; übrigens auch die Angst vor der Denunziation beim Versuch, die Anwesenheit eines „dritten Haushalts“ zu kaschieren. Und Doppelzüngigkeit: Wir schimpfen auf den Lockdown, der als grobes Instrument unsere Pläne zunichte macht, aber bei Meinungsumfragen plädieren wir für die Maßnahmen und „machen mit“.

Den Nimbus moralischer Überlegenheit ablegen

Ein in der Sowjetunion sozialisierter Mensch versteht diese Strategie: ein Gesicht für die Öffentlichkeit, ein anderes für die private Sphäre. Merken wir uns diese Gemeinsamkeit und hören wir auf, so zu tun, als könnten nur hehre Ideale völkerverbindend wirken; auch gemeinsam erlebte Grauzonen bringen Menschen zusammen, als geteilte Erfahrungen.

Um in den Dialog einzutreten, müssen wir auch eigene Schwächen eingestehen. Wir werden von russischer Seite nur gehört, wenn wir den Nimbus moralischer Überlegenheit ablegen. Wir zeigen damit, dass wir für einen Perspektivwechsel offen sind. Das heißt keineswegs, Unterschiede zwischen Deutschland und Russland zu verneinen. Ein Dialog zwischen Gesellschaften hat ja nicht den Anspruch, hieb- und stichfeste „Wahrheiten“ zu produzieren.

Lernen, mit der Polarisierung zu leben

Wer in Russland lebt, muss seit eh und je mit enormen Kontrasten zurechtkommen – zwischen Stadt und Land, liberal und illiberal, nationalistisch und kosmopolitisch. Die Deutschen lernen gesellschaftliche Polarisierung gerade erst kennen, und viele befürchten den Verlust des gesellschaftlichen Grundkonsenses.

Niemand will behaupten, dass Polarisierung eine angenehme Erfahrung ist, aber Menschen lernen, damit zu leben, und sie wissen, dass ihr ungeliebtes Gegenüber auch morgen noch da ist, und dass man in bestimmten Situationen aufeinander angewiesen ist. Oppositionsbewegungen, die sich im östlichen Europa zusammentun, vereinen seit den Tagen der Solidarność regelmäßig liberale und illiberale Kräfte, und manchmal erreichen sie gemeinsam tatsächlich etwas für das Gemeinwohl.

Politik von oben verursacht Widerstand

Es lohnt sich auch, darüber nachzudenken, welche Folgen es hat, wenn der Staat versucht, der Gesellschaft etwas als fremd Empfundenes aufzuzwingen. Seit Peter dem Großen hat Russland etliche Anläufe gemacht, ausländische Institutionen, Techniken und Kultur zu importieren, und in aller Regel wurden diese Modelle den Menschen als fortschrittlich und alternativlos vorgesetzt. Die sich entmündigt fühlende Gesellschaft reagierte oft mit stillem Widerstand (etwa durch das Nichtbefolgen von Regeln, siehe Saltykow-Schtschedrin). Umso schlimmer, wenn die importierten Institutionen nicht wie geplant funktionieren.

Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus setzten Politik und deren Berater hierzulande auf abstrakte Ratschläge und Modelle, die weitgehend an den Vorstellungen der Menschen vom lebenswerten Leben vorbeigingen. So wurde „1989“ zum Auftakt einer Serie immer kürzer aufeinander folgender und von der Politik immer als „alternativlos“ erklärter Krisenbewältigungen. Diese Politik „von oben“ – wie etwa die Abwicklung der DDR, die Bankenrettungen seit 2008, die Flüchtlingskrise oder jetzt auch die Corona-Krise – hat in vielen europäischen Gesellschaften zu Entfremdungserscheinungen beigetragen.

In Russland hat man historisch Verwerfung auf Verwerfung geschichtet und musste dann mit den Ergebnissen leben – so wie wir heute auch. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass das Durchregieren von oben nach unten in Russland normativ durchaus gewollt ist, wogegen sich unser Gemeinwesen ganz anders versteht, wir also viel zu verlieren haben, wenn ein Teil der Bevölkerung die demokratische Legitimation einer bestimmten Politik anzweifelt.

Andersdenkende nicht entwürdigen

Den Teufelskreis von Top-Down-Politik, Politikmisstrauen und Autoritarismus, der sich in Russland beobachten lässt, könnte uns Mahnung sein, alle Meinungen im politischen Prozess zu berücksichtigen und Andersdenkenden nicht ihre Würde abzusprechen. Dieser selbstkritische Ansatz kann auch dabei helfen, mit der russischen Seite wieder ins Gespräch zu kommen. Wir werden ihn übrigens auch brauchen, wenn es um die eigentliche Mammutaufgabe geht – den Klimawandel. Sicher kann auch klimaschonendes Verhalten von oben erzwungen werden, aber wohl um den Preis des Verlusts an demokratischem Grundvertrauen. Die Einsicht sollte von unten wachsen.

Am Ende besteht das Herz des Dialogs immer darin, sich zumindest temporär in den anderen hineinzuversetzen. Wir müssen lernen, wie es in der Wissenschaft jetzt häufig heißt, unseren Blick zu „dezentrieren“.

Das ist leichter gesagt als getan: Wer in einem alten Zentrum von Macht und Reichtum lebt, nimmt automatisch eine Zentralperspektive ein. Wir sehen uns als Mittelpunkt der Welt. In unserem Kosmos ist Russland seit jeher eine Peripherie, allerdings eine, die selbst keine sein will, sondern sich als (werdendes) Zentrum sieht.

Auch deshalb fordert uns dieses Land so sehr heraus. In einer Situation, in der uns allen – durch den Aufstieg Chinas – wohl eine neue Form der Peripherisierung bevorsteht, können wir in Deutschland den Dialog mit der russischen Gesellschaft als Übung nutzen, uns nicht mehr als Nabel der Welt zu sehen, sondern dieselbe Welt einmal mit den Augen des anderen zu betrachten. Das schlimmste, was wir dabei entdecken könnten, ist unsere unfreiwillige Komik. Und damit unsere Menschlichkeit.

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