Ukraine: Das andauernde Scheitern
Welche Friedensbemühungen für die Ukraine gibt es? Und warum sind die bisherigen gescheitert?
Auch nach fast einem Jahr des sinnlosen Kriegs in der Ukraine bekenne ich mich erneut zu meiner Unterstützung für die Anstrengungen der Ärzteorganisation IPPNW, schnellstmöglich eine Friedens- und Verhandlungslösung zu suchen. Ich fühle mich solidarisch mit all denen, die sich nicht von dieser Vorstellung abbringen lassen. An einen Gedanken von Erasmus von Rotterdam (1517 geschrieben) wurde am Rande eines IPPNW-Treffens erinnert: „Kaum ein Friede ist jemals so ungerecht, dass er nicht auch dem gerechten Kriege vorzuziehen wäre.“
Aber das Töten und Zerstören wird fortgesetzt. Sowohl die russische als auch die ukrainische Seite legen sich mit ihrer Verweigerung von Verhandlungen (bei gegenseitigen nicht erfüllbaren Vorbedingungen) selbst unsinnigerweise Ketten an. Nach allem Sachverstand wird es hier einen militärischen Sieg weder der einen oder der anderen Seite geben, ein andauernder Krieg zerstört aber mit jedem Tag nicht nur die Lebensgrundlagen, sondern vergiftet auch die internationale Atmosphäre.
Die IPPNW formuliert in ihrer Erklärung vom Januar 2023 nach der Verurteilung des russischen Angriffskriegs, der mit jedem Tag die Kriegslogik weiter entfessele und zudem das Risiko des Einsatzes von Atomwaffen verschärfe: „Die ärztliche Friedensorganisation IPPNW sieht die Gefahr einer Eskalation zum Atomkrieg oder auch eines jahrelangen Zermürbungskrieges […]. Sie fordert verstärkte internationale Bemühungen für sofortige Verhandlungen und eine diplomatische Lösung. […] Dabei wird berücksichtigt, dass die Staaten der Nato durch die Osterweiterung eine Mitverantwortung für die seit den 90er-Jahren zunehmenden Spannungen zwischen Russland und der Nato tragen. Bedacht wird außerdem, dass die Verantwortung für die Zahl weiterer Opfer und die Gefahr einer atomaren Eskalation nicht allein einer Partei zufällt.“
Lauter gescheiterte Friedenspläne
Dazu legt die IPPNW inzwischen auch eine Übersicht über die Konzepte einer friedlichen Konfliktlösung vor. Komprimiert werden die Initiativen der Uno, einzelner Staaten und Organisationen, von Friedensforschern bis hin auch zur Situation in Russland erläutert, über die man in der Öffentlichkeit im Unterschied zu Waffendetails wenig erfährt.
Diese Verhandlungsinitiativen sind: Die Inhalte des Minsk-II-Abkommens und des sogenannten Normandie-Formats, der Zehn-Punkte-Plan von Istanbul, der Friedensplan Italiens, die Internationalen Arbeitsgruppe des Vatikans vom Juni 2022, die Forderung der Afrikanischen Union zur Einsetzung einer Mediationsmission, der mexikanische Vorschlag vor der Uno vom September 2022 wie auch die jüngste Initiative des brasilianischen Präsidenten Lula da Silva.
Sie zeigen auch, dass Staaten in Afrika, in Südamerika und in Asien zu eigenständigen, sich von USA und Nato unterscheidenden Positionen und Initiativen finden. Für die IPPNW ist die Forderung an die Atommächte Russland und die USA sowie die Nato, in einer verbindlichen Erklärung auf einen Einsatz von Atomwaffen im Ukraine-Krieg zu verzichten, ein zentrales Element.
Dass in diesen Tagen, als einerseits der Antikriegsfilm „Im Westen nichts Neues“ gewürdigt wird – bedrückendes Zeugnis der Sinnlosigkeit der Schlachten im Ersten Weltkrieg – oder an die von der deutschen Wehrmacht ebenfalls fehleingeschätzten Schlacht um Stalingrad mit ungeheurem Blutzoll auf beiden Seiten erinnert wird, zur gleichen Zeit nun auch die Debatte um Luftwaffen angefacht wird, offenbart für mich eine schizophrene politische Stimmung in Deutschland.
Mich erschreckt das allmähliche Hinnehmen, ein Hineinschlittern und ein Sich-daran-Gewöhnen an einen Kriegsalltag, der zwar militärisch „weit hinten in der Ukraine“ stattfindet, jedoch mit den Geflüchteten, den wieder ins Rampenlicht gerückten deutschen Rüstungsfirmen, mit fast nur noch mit dem Krieg gerechtfertigten Krisenerscheinungen und mit einer „live“-geschalteten medialen Kriegsberichterstattung immer stärker das Leben der Menschen bestimmt. Es taucht das Wort von einer „Kriegswirtschaft“ auf. „Das Militärische sickert in den Alltag ein“, stellte der Tagesspiegel fest.
Kriegsziel: Russland ausschalten?
Die Formel der „Zeitenwende“ entpuppt sich zu einer grundsätzlichen Strategiewende des sogenannten Westens, also der USA und der Nato, die davon ausgehen und als Ziel erklären, den Krieg nicht nur militärisch entscheiden zu wollen, sondern darüber hinaus Russland als Ganzes als zu akzeptierenden weltpolitischen Akteur oder gar Partner bei der Lösung der globalen Konflikte und Herausforderungen auszuschalten. Ein wahnwitziger Gedanke allein schon, wenn man auf den Globus schaut.
Was soll zum Beispiel die Formel in dem neuen Programmpapier der SPD „Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch“ bedeuten, wonach die Sicherheit in Europa vor Russland zu organisieren sei, nicht aber mit Russland, solange sich in Russland nichts fundamental ändere? Ich hätte schon genauer gewusst, welche Änderungen das konkret sein müssten, um ein nachprüfbares Maß dafür zu haben. Da ist kein Wort zu Verhandlungslösungen mit Russland, für die sich die Bundesrepublik einsetzen möge, zu lesen. Auch nicht zu einem Kernwaffen-Verzicht, geschweige denn, dass die Bundesrepublik endlich dem vor zwei Jahren in Kraft getretenen, von 91 Staaten unterzeichneten Atomwaffenverbotsvertrag beitreten möge.
Militär für Zurückhaltung
Ehemalige verantwortliche Militärs oder Diplomaten plädieren dahingegen für ein große Zurückhaltung der militärischen Sichtweise. Der Brigadegeneral a. D. Helmut W. Ganser schätzte in dieser Zeitung nachdenklich ein, dass sich die Nato-Staaten mit der fortgesetzten Steigerung ihres Waffensystemtransfers auf eine Grauzone zubewegen, in der die Grenzen, jenseits derer letztlich die Nato Kriegspartei wird, verschwimmen. „Umso mehr“, setzt er fort, „wächst mit den jetzt aufwachsenden Panzerlieferungen die Mitverantwortung Deutschlands für den weiteren Kriegsverlauf und dessen Folgen für die europäische Sicherheit“.
Die umfangreichen und sicher auch unterschiedlichen Dokumente des IPPNW-Materials stimmen in folgenden Elementen überein:
- Staaten beziehungsweise Organisationen sollen auf Russland und die Ukraine Einfluss nehmen, um deren Bereitschaft zu Waffenstillstand und Verhandlungen zu erreichen und sollen diesen Prozess moderieren.
- Militärische Neutralität der Ukraine bei Sicherung ihrer nationalen Souveränität (kein Mitglied der Nato)
- Regelung der Situation der russischen Minderheiten in der Ukraine (Donbass)
- Klärung der Krim in einem gesonderten Prozess
- Internationale Garantiemechanismen
Übrigens haben schon die zwei Uno-Beschlüsse vom 2. März und vom 12. Oktober 2022 nicht nur mit großer Mehrheit den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands verurteilt, sondern die friedliche Konfliktlösung gefordert. Im Punkt 14 verlangt die Uno „nachdrücklich die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel“. Das heißt in der Sprache der Diplomatie, dass Zwangsmittel wie Sanktionen oder auch Waffenlieferungen laut UN-Charta nicht zu den friedlichen Mitteln gehören. Dafür gab es also – so Friedensforscher – in der Generalversammlung keine Mehrheit.
Russlands Versagen und der Istanbul-Plan
Dass das heutige Russland – immerhin ständiges Mitglied des Uno-Sicherheitsrats und große Nuklearmacht – nicht im Stande scheint, sich aus dem mörderischen Irrlauf seiner „militärischen Spezialoperation“ zu lösen, ist eine mich auch mit Zorn erfüllende Last. Der Beweis, dass andererseits die USA, aber auch andere große Mächte nicht im Stande wären, auf Russland beziehungsweise die Ukraine in Richtung einer Verhandlungslösung einzuwirken, wenn man es ernsthaft will, ist bisher noch nicht erbracht.
Lässt man das nicht realisierte Minsker Abkommen einmal beiseite, so bleibt auch der Inhalt des Istanbul-Plans aktuell. Hier wird anschaulich das große Spektrum der Verhandlungslösungen erkennbar. Auch sein Schicksal ist beklemmend.
Die IPPNW schreibt: „Im Rahmen der russisch-ukrainischen Gespräche vom 29. März 2022 in Istanbul legte die ukrainische Delegation einen neuen schriftlichen Vorschlag für ein Sicherheitsgarantieabkommen vor.
Medienberichten zufolge sei man in den Verhandlungen „nahe an eine (…) Einigung über Sicherheitsgarantien“ gekommen. Die zehn Punkte des ukrainischen Vorschlags lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Punkt 1: Die Ukraine akzeptiert politische Neutralität. Im Gegenzug erhält sie eine völkerrechtliche Garantie zur Umsetzung des blockfreien und atomwaffenfreien Status. Mögliche Garantie-Staaten könnten Russland, Großbritannien, China, USA, Frankreich, Türkei, Deutschland, Kanada, Italien, Polen und Israel sein.
Punkt 2: Die internationalen Sicherheitsgarantien der Ukraine im Rahmen des Vertrags gelten nicht für die Krim, Sewastopol und einzelne Gebiete des Donbass. Die Parteien müssen die Grenzen dieser Gebiete festlegen oder sich darauf einigen, dass jede Seite sie auf ihre eigene Weise versteht.
Punkt 3: Die Ukraine verpflichtet sich dazu, keinem Militärbündnis beizutreten, keine ausländischen Militärstützpunkte oder -kontingente zu stationieren und internationale Militärübungen nur mit Zustimmung der Garantenstaaten durchzuführen. Die Garantenstaaten sollen dabei ihre Absicht bekräftigen, die Mitgliedschaft der Ukraine in der EU zu fördern.
Punkt 4–6: Hier wird skizziert, wie die Garantenstaaten im Fall eines bewaffneten Angriffs gegen die Ukraine vorzugehen haben, ähnlich wie es der Artikel 5 für die Beistandsverpflichtung der Nato vorsieht.
Punkt 7: Inkrafttreten des Vertrags nach einem gesamtukrainischen Referendum und der Verankerung in der ukrainischen Verfassung.
Die Punkte 8 bis 10 behandeln die Klärung der Krim und Sewastopol, Modalitäten des Waffenstillstands und humanitäre Fragen sowie persönliche Treffen beider Präsidenten.
Weshalb wenige Tage nach dem Besuch des britischen Premierministers Boris Johnson am 9. April 2022 in Kiew diese Verhandlungen abgebrochen worden, mag auch mit dem Kriegsverlauf in diesen Tagen zu tun gehabt haben, eine hinreichende Erklärung würde jedoch nur eine Offenlegung des Inhalts dieses so folgenschweren Besuchs erbringen.
Keine Zugeständnisse an Putin
Der britische Guardian schrieb am 28. April 2022, Boris Johnson habe vom ukrainischen Präsidenten verlangt, „keine Zugeständnisse an Putin zu machen“. Der israelische Ex-Premier Naftali Bennett bestätigte jüngst, wie seine offenbar nicht erfolglosen Vermittlungsversuche in jenen Tagen zwischen den beiden Präsidenten blockiert wurden, mit den Worten: „Ich behaupte, dass es eine gute Chance auf einen Waffenstillstand gab, wenn sie (die Westmächte) ihn nicht verhindert hätten.“
Wäre es nicht endlich notwendig, im politischen Deutschland wenigstens mit einer ebensolchen Intensität in den Parteien und in der Gesellschaft über Wege zum Kriegsende und Verhandlungen zu diskutieren wie über Waffen und deren Tötungseigenschaften? Wo sind neben den so agilen teils selbsternannten Rüstungs- und Militärexperten eigentlich die Verhandlungsexperten, was schlagen sie vor und was tut die Bundesregierung?
Der Mediziner Heinrich Niemann war Geschäftsführer der DDR-Sektion der Ärztebewegung gegen den Nuklearkrieg an der Seite von Mitja Rapoport und von 1992 bis 2006 Gesundheitsstadtrat in Berlin-Hellersdorf. 2021 erhielt er das Bundesverdienstkreuz.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 23.2.2023 im Rahmen der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung erschienen. Wir danken der Zeitung für die Erlaubnis, diesen Text auch auf KARENINA zu veröffentlichen.