Mit Geduld und Härte gegen Russland
Russland wird an Europas Seite zurückkehren, bis dahin sind Regelverstöße strikt zu ahnden
Irritierend wenig beachtet worden ist in der europäischen Öffentlichkeit in den vergangenen Tagen eine reale Kriegsgefahr im Osten unseres Kontinents: die Verlegung russischer Truppen auf die Krim und Richtung ukrainischer Grenze. Seit 2014/15 hat es einen solchen Aufmarsch längs der Grenze des Nachbarlands nicht mehr gegeben.
Die Rhetorik ist die gleiche wie damals: Jede böse Absicht wird bestritten, aber natürlich werde man nicht tatenlos zusehen können, sollten russische Staatsbürger im Donbass in Not geraten – wo Moskau seit 2019 großzügig Pässe ausgegeben hat.
Russlands Machthaber hat die Situation eskaliert, weil er sich vom Vorgehen Präsident Selenskys gegen moskaunahe Oligarchen in der Ukraine provoziert fühlt, weil er sich von den Vereinigten Staaten einmal mehr herabgesetzt sieht, weil uns das Schicksal russischer Bürgerrechtler nicht gleichgültig ist, weil er in einem zunehmend schwierigen Umfeld im Herbst Wahlen hat, weil die Krim ohne Wasserversorgung vom ukrainischen Festland in großen Schwierigkeiten ist. Es ist ein solcher Mix, der ihn handeln lässt.
Was will Putin erreichen?
Worauf zielt Präsident Putin ab? Ist er bereit, einen großen Krieg zu riskieren, wie dies machtnahe Kommentatoren in Moskau suggerieren?
Wohl kaum. Die Folgen wären unabsehbar und die Kosten für Russland enorm. Auch weiß er, dass der Westen alles tun wird, eine solche Auseinandersetzung zu verhindern.
Aber genau dies ist natürlich Teil des russischen Kalküls. Wie würden die Europäer, die Vereinigten Staaten auf eine begrenzte militärische Aktion reagieren? Auf die Sicherung von Wasserressourcen auf dem ukrainischen Festland – aus „humanitären Erwägungen“? Oder auf Hilfe für die „bedrängten Landsleute“ im Donbass?
Wieder zeigt sich ein vertrautes Muster russischen außenpolitischen Handelns: Es folgt weniger einer großen Strategie als eher kurzfristigen taktischen Optionen. Die Gegenseite wird im Unklaren gelassen und ausgetestet, das eigene Vorgehen bestimmt sich nicht zuletzt dadurch, wie jene reagiert. Die entschlossene Reaktion des Westens, die Ankündigung noch schärferer Maßnahmen, hat 2014/15 manche Weiterung verhindert.
Was sich seit 2014 geändert hat, ist Moskaus internationale Lage. Aus der Ecke des Paria, der den Frieden gebrochen hat, hat man sich befreit. Doch die Konfrontation mit dem Westen hat sich verhärtet. Die Vereinigten Staaten treten wieder entschlossener auf – und richten ihren Blick mehr denn je auf China. Russland ist in Gefahr, an internationaler Bedeutung zu verlieren. In regionalen Konflikten wie in Syrien ist es erfolgreich, weil der Westen nicht entschlossen handelt, ja gar ein Vakuum zulässt.
Russlands Wirtschaftsmodell ist nicht zukunftsfähig, Reformen werden angekündigt und versinken in Korruption, überbordender Bürokratie und der Erstickung privater Initiative. Und Moskau ist sehr wohl bewusst, was es längerfristig bedeutet, ganz auf die chinesische Karte zu setzen. Mit einer Volkswirtschaft kleiner als jene Italiens lässt sich mit dem machtvoll aufstrebenden Reich der Mitte kein Bündnis auf Augenhöhe gestalten. Russland ist schon heute Objekt chinesischer Seidenstraßenpläne, nicht Mitgestalter.
Langfristig will Russland wieder Europas Nähe
Auch wenn Moskau dies nie zugeben wird: Langfristig wird Russland ein Interesse haben, sich in einer verschärfenden globalen Konkurrenzsituation auf Europa als Partner zu besinnen. Bis dahin braucht unsere Politik dreierlei: Erstens langen Atem und einen weiten Blick, denn Veränderungen wird es nicht morgen geben. Zweitens muss jedem russischen Regelverstoß entschieden entgegengetreten werden – in transatlantischer Geschlossenheit. Wenn der Kreml auf eine vage Art nicht ausschließen mag, wieder gegen die Ukraine auszugreifen, muss es hierfür ein Preisschild geben.
Optionen liegen auf dem Tisch. Unverändert profitiert Russland davon, dass im Westen gerne russische Staatsanleihen gekauft werden; die kleine Gruppe der russischen Superreichen, die ihre Milliardenvermögen der Nähe zur Macht verdanken, schmerzt es, wenn sie den Luxus des Westens nicht länger genießen können; ohne das globale Netz von SWIFT können russische Geldhäuser ihre internationalen Geschäfte nicht abwickeln.
Und dann ist da noch Nord Stream 2. Zuverlässig wird die Pipeline genannt, wenn es darum geht, Schritte gegen Russland zu erwägen. „Bitte sehr, wenn ihr unser Gas nicht durch die Röhre haben wollt, schicken wir es euch gerne verflüssigt, 25 Prozent teurer“, hat der Vorstandsvorsitzende von Gasprom dazu einmal süffisant angemerkt.
Mit anderen Worten: Wollte man Sanktionen gegen Russland im Energiebereich erwägen, dann sollte alles betrachtet werden, sämtliche Pipelines, Flüssiggas und die Interessen aller Abnehmer. Seit sechs Jahren haben die Vereinigten Staaten nicht so viel Öl aus Russland gekauft wie derzeit. Russlands Einnahmen aus seinen Energieverkäufen zu treffen wäre eine maximale Schädigung – mit dramatischen Folgen für Russland wie für uns und für die Weltwirtschaft. Das gilt es zu bedenken.
Drittes Element unserer Politik gegen Russland muss unbedingt die Bereitschaft sein, im Dialog zu bleiben. Angesichts der Entwicklung der zurückliegenden Jahre und der aktuellen Eskalation scheint eine solche Forderung manchem naiv. Doch die Tür zuzuschlagen beeindruckt am meisten die Tür.
Russland wird wieder ein Interesse an größerer Nähe zu uns haben. Darauf müssen wir vorbereitet sein – und bis dahin nach Kräften auch der geschundenen Zivilgesellschaft jenes großen Landes beistehen, das uns näher ist, als die Machthaber im Kreml uns aus vordergründigen Erwägungen gerne glauben lassen.