Putins Neuordnung in Europa

Politik als Fortsetzung des Kriegs: Putin will die Nachkriegsordnung entscheidend mitgestalten

Putins neue Weltordnung
Putins schöne neue Welt: "Um Russland als macht- und ideologiepolitisches Zentrum sollen die Ukraine, Belarus und soweit möglich auch Kasachstan wie beim Saturn den Kreisring bilden." (Wulf Lapins)

Wer Dialog, Kompromisse, Win-Win-Streben und argumentativ beeinflussbare Interessen von Konfliktgegnern zu Pfadabhängigkeiten der politischen Moderne in Europa erhebt, steht bei der Frage nach dem Cui bono des russischen Kriegs in der Ukraine ziemlich ratlos da. Denn Präsident Putin lehnt diese liberalen kriegshemmenden Politikinstrumente kategorisch ab und folgt seiner eigenen Kriegsführungslogik.

Während für den politischen Westen Krieg in Europa das Scheitern von Politik bedeutet, versteht der Kreml-Chef nicht nur den Krieg als Fortsetzung der Politik, sondern auch die Politik als Fortsetzung des Kriegs. Bei ihm vermengen sich willkürlich herausgenommene Kernelemente des kriegspolitischen Theorems von Clausewitz mit denen aus der staatspolitischen Freund-Feind-Denkfigur von Carl Schmitt.

Putins politische Ordnungsvorstellung erscheint aus der Sichtweise des oben stichwortartig beschriebenen europäischen integrativen Intergouvernementalismus aus der Zeit gefallen und erratisch. Doch nicht für ihn. Sein Rational im Krieg ist die Nachkriegsordnung, die er wesentlich aus- und mitgestalten will. Er versteht sich als Revisionist, in dem er die zeitgeschichtlichen Neuordnungen in Osteuropa im Zuge der Kriegsfolgen zu ändern plant. Insofern würde er, allerdings mit seinen Vorzeichen, auch den Begriff Zeitenwende unterschreiben: Aufbruch zur geopolitischen Neuordnung in Europa. Bereits 2005 hatte er bekanntlich den Zusammenbruch der Sowjetunion und der Diaspora von Millionen  Russischstämmigen als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ beklagt. Sein Ziel ist nicht die Restaurierung  der UdSSR, sondern der völkische Aufbau einer Russki Mir.

Für den russischen Präsidenten bleibt die Ukraine das Schlüsselland für die seit etwa 2004 reifende geopolitische und identitätspolitische Konzeption einer Eurasischen Union als Gegenmodell zur EU. Um Russland als macht- und ideologiepolitisches Zentrum sollen die Ukraine, Belarus und soweit möglich auch Kasachstan wie beim Saturn den Kreisring bilden. Soweit das theoretische Dogma.

Die Realität sieht anders aus: Trotz der politischen und ökonomischen Abhängigkeit Weißrusslands von Russland, erlaubt sich die Sicherheitsbeurteilung des Berliner Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (Nadja Douglas: „Die Rolle von Belarus in Russlands Krieg gegen die Ukraine“) keine klare Prognose, ob Lukaschenko ebenfalls den militärischen Marschbefehl in die Ukraine geben wird. Der Druck dazu aus Moskau wächst, der belarussische Diktator scheut aber noch vor daraus resultierenden innenpolitischen Destabilisierungsfolgen bei einem direkten Kriegseintritt, analysiert das Bundesverteidigungsministerium.

Kasachstan balanciert zwischen China und Russland, um schmale Spielräume zu erhalten und nach Möglichkeit zu erweitern. Die unterstützende Rolle der Türkei hierbei wird allerdings oft zu wenig untersucht. Und alle ukrainischen Regierungen haben nach dem Sturz von Viktor Janukowitsch den Russland-Orbit verlassen. Ihr Staat befindet sich seit dem umfassenden EU-Assoziierungsabkommen von 2016 und mit dem Kandidaten-Status seit Juni 2022 nunmehr in der Umlaufbahn der Gemeinschaft.

Die Eurasische Union als geoökonomisches Modell ist zwar bereits im Archiv. Doch ihre übergeordnete geopolitische Funktion bleibt. Sie zeigt sich aus russischer Sicht im geostrategischen Ukraine-Krieg mit der damit impliziten Inkaufnahme von Langfristigkeit.

Die Ukraine muss zerstört werden

Im dritten Punischen Krieg (149 bis 146 v. Chr.) zerstörte das Römische Reich Karthago. Nach den jahrelangen wirtschafts- und energiepolitischen Konflikten zwischen Kiew und Moskau sowie dessen kriegsmäßig gesteuerten Separatismus im Donbas von 2014 an führt die russische Regierung nun ihren „dritten Karthago-Krieg“ gegen die Ukraine. Wie einst Marcus Cato die Zerstörung Karthagos forderte, postuliert das Wladimir Putin heute für die Ukraine.

Viele im Westen, nicht jedoch in der Ukraine, fordern angesichts der urbanen infrastrukturellen Zerstörungen und humanitären Gräuel einen Waffenstillstand. Aber mit welchen robusten, sicherheitsgarantierten Instrumenten eine permanente Waffenruhe bewehrt werden könnte, darauf fehlen realistische Antworten. Wenn die Nato-Mitgliedschaft auszuschließen ist, müssten die Europäer adäquate Sicherheitsbürgschaften leisten.

Auf die damit verbundene Problematik verweist der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler: „Das hieße aber, dass sie bei einer erneuten russischen Aggression Kriegspartei würden. Diese Konsequenz haben diejenigen noch nicht begriffen, die ... jetzt nach einem Waffenstillstand rufen.“

Polen wird militärische Supermacht

Skizzenhaft zwei potenzielle geopolitische Kriegs-Implikationen in Europa: Polen wird nach Einschätzung des renommierten US-Magazins Politico zur „künftigen militärischen Supermacht“ aufsteigen. Ihre Analyse, dass die russische Außenpolitik strukturell eine Gefahr für Polen bildet, führte im Oktober letzten Jahres zur Entscheidung der Regierung in Warschau, den Streitkräfteumfang bis 2035 von derzeit 110 000 Berufssoldaten auf 250 000 zu erhöhen.

Vor diesem Hintergrund sagte Ministerpräsident Mateuz Morawiecki im Juli dieses Jahres voraus, dass sein Staat über die „die stärksten Landstreitkräfte in Europa“ verfügen werde. Der Einkauf der erforderlichen Rüstung in Südkorea und in den USA ist bereits in vollem Gange.

In Sorge vor einem Politikwechsel in Washington nach den Präsidentenwahlen 2024 sowie generell vor einer potenziellen russischen Aggression ist auch sein Statement vom 10. November zu verstehen: „Die polnische Armee muss so stark sein, dass sie allein aufgrund ihrer Stärke nicht kämpfen muss.“

Das bedeutet: 1. Militärtechnisch Aufbau einer hinreichenden konventionellen Abschreckung. 2. Sicherheitspolitisch implizite Zweifel an den Verteidigungsfähigkeiten der europäischen Nato-Mitglieder. 3. Als bedeutendste Ordnungsmacht in Ostmitteleuropa wächst Polens Einflussmacht in der EU und Nato.

Bislang entwickeln Deutschland und Frankreich dazu noch keine Strategiepositionen. Wahrscheinlich besteht in beiden Hauptstädten die Meinung, der in Warschau regierenden nationalistisch-konservativen PiS-Regierung damit keine innenpolitische anti-europäische Munition für die Parlamentswahlen im Herbst 2023 liefern zu wollen. Und wohl auch die Hoffnung auf einen Regierungswechsel.

Türkei: Selbstbewusst auch gegenüber Russland

Die Türkei tritt im Krieg als selbstbewusster Akteur auf: durch Lieferungen seiner Kampfdrohne Bayraktar TB2 an die Ukraine, durch seine ablehnende Haltung zur westlichen Sanktionspolitik gegen Russland, durch diplomatische Vermittlungen zwischen Moskau und Kiew für einen Waffenstillstand, beiderseitige Gefangenenaustausche sowie ukrainische Getreideexporte. Ankara wird versuchen, seine gewachsene Rolle als geopolitischen Machtstatus in der Schwarzmeer-Region zu etablieren.

Man darf gespannt sein, ob Russland auf Dauer eine solche ordnungspolitische Funktion zugestehen wird oder dieses vielleicht gar nicht verhindern kann. Denn Einfluss-Konkurrenz durch türkische Handels-, Energie- und Infrastrukturprojekte erwächst Russland auch in der Kaspi-Region durch die enge türkisch-aserbaidschanische Allianz – Stichwort: siegreicher aserbaidschanischer Krieg um das armenisch besiedelte Bergkarabach im September 2020 – und in Zentralasien.

Der schwedische Eurasien-Experte Stefan Hedlund beurteilt das so: „Indem die Türkei in der Geopolitik des Südkaukasus eine entscheidende Rolle spielt, hat sie ihre Position in Zentralasien gestärkt. In dem Maße, wie sie ihre Zusammenarbeit mit den Staaten der Region vertieft, wird sie eine immer wichtigere Rolle beim Ausgleich des Einflusses von Russland und China spielen.“

Präsident Clintons damaliger Leitsatz „It‘s economy stupid“ könnte Präsident Erdoğans ehrgeiziger Profilierung Grenzen setzen. Denn 40 Prozent des Erdgases, 20 Prozent des Ölbedarfs und 70 Prozent der Getreideimporte liefert Russland. Auch die Wirtschaftsbranche Tourismus ist auf russische Urlauber angewiesen. Ein Moskauer Export- und Reisestopp hätte für die ohnehin schwere ökonomische Lage dramatische Konsequenzen und würde die Aussicht auf seine weitere Präsidentschaft nach den Wahlen im nächsten Jahr verhindern.

Putin wird deshalb abwägen zwischen Politikfortsetzung mit einem schwierigen Partner und ambitiösen Konkurrenten oder einem Stoppschild und seinem potenziell mehr euroatlantisch geprägten Nachfolger. Sowohl EU als auch Nato werden aus übergeordneten sicherheitspolitischen Gründen nolens volens Ankaras Schlingerkurs mit Russland und Drohverhalten gegen Griechenland und Zypern weiter hinnehmen. Spiegelt das die Geopolitik der EU-Kommission, die ihre Präsidentin Ursula von der Leyen zum Amtsantritt postuliert hatte?

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