Frieden jetzt? Mission impossible
Wer jetzt für Waffenstillstand, Diplomatie und Friedensverhandlungen eintritt, verkennt Putins imperiale Fantasien
Idealtypisch enden Kriege auf dem Schlachtfeld, und am diplomatischen Verhandlungstisch wird dann um die friedenspolitische Nachkriegsordnung gerungen. Tatsächlich finden jedoch oft während eines länger dauernden Kriegs, in der keine Seite eine baldige Siegoption für machbar hält, Kampfhandlungen und diplomatische Auslotungen zu ihrer Beendigung parallel statt. Das kann beschrieben werden mit der Umkehr des bekannten Lehrsatzes von Clausewitz: Politik ist eine bloße Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln.
Deshalb offenbart der oft geäußerte Slogan, dass wer verhandelt nicht schießt, fatale historische Unkenntnis. Beispielhaft stehen hierfür die Friedensverhandlungen in Paris und Doha über das Kriegsende in Vietnam und in Afghanistan.
Der Ruf nach Waffenstillstand
Im Meinungsstreit über den Ukraine-Krieg prallen in den deutschen Medien Pazifismus und Alarmismus sowie Solidarität und Unterstützung aufeinander. Mit Bewunderung und Erstaunen die einen, mit Kopfschütteln und Ablehnung die anderen schaut die postheroische deutsche Gesellschaft auf den vielerorts stillen und stoischen, an anderer Stelle politisch inszenierten Heroismus der ukrainischen Gesellschaft.
Dass der Krieg in Europa, die täglichen Kriegsreportagen und die kontinuierlichen Atomdrohungen aus dem Kreml bei einer Wohlstandsgesellschaft mit mangelhaft ausgebildeter Resilienz Furcht auslöst, ist verständlich. Viele sind von der Ungewissheit und der Gleichzeitigkeit der vier Großkrisen mit jeweils flankierenden dystopischen Narrativen überfordert: Krieg, Klimazukunft, Pandemiefolgen, Sozialeinbußen.
Der im Sommer erfolgte Ruf nach einem Waffenstillstand lässt sich deshalb als Versuch deuten, wenigstens bei einer dieser Lasten die Komplexität zu reduzieren, wie auch die wahrgenommene Einflusslosigkeit zu konterkarieren. Es wäre eine interessante Fragestellung der empirischen Sozialforschung, warum im Vergleich zu anderen europäischen Nato-Staaten in Deutschland die Befürworter von „mehr Diplomatie wagen“ und einer sofortigen Waffenruhe und die Unterstützer von mehr Waffenlieferungen für die Ukraine medial einen so omnipräsenten wie verhärteten Diskurs führen. Einen Analysebaustein würde die Strategische Kultur in Deutschland bieten.
Friedensverhandlungen? Mission impossible
Der öffentliche Vorwurf an die Politik, es bestehe ein Ungleichgewicht zwischen Diplomatie und Unterstützung der ukrainischen Verteidigung, unterstellt eine westliche diplomatische Bringschuld gegenüber Russland, weil sich dieser Tadel nicht gleichwertig auch an Moskau richtet. Ohne zugleich Auskunft über eben nicht nachgedachte, versuchte oder ergriffene Chancen zu geben wirkt die Klage wohlfeil. Bekannt sind hingegen häufige lange Telefonanrufe europäischer Regierungschefs bei Putin, um ihn zu einer Waffenruhe zu bewegen. Dass der russische Präsident initiativ ebenfalls das Gespräch zu ihnen sucht, wurde noch nie gemeldet.
Der Sorge, der Krieg könnte in die unbeherrschbare nukleare Dimension eskalieren, war offensichtlich das auf US-Initiative stattgefundene vertrauliche Treffen im November in Ankara zwischen dem CIA-Direktor William Burns und seinem russischen Gegenpart, SWR-Chef Sergej Narischkin, geschuldet. Ob es dabei auch darum ging, potenzielle friedenspolitische Optionen auszuloten, ist nicht bekannt geworden. Eine detaillierte Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik vom Oktober bezeichnet die derzeitige Aussicht auf Friedensverhandlungen als „Mission impossible“.
Verpflichtung zum Beistand für die Ukraine
Das Budapester Memorandum (1994) zum Besitzverzicht der Ukraine auf Nuklearwaffen – analoge Abkommen wurden mit Weißrundland und Kasachstan abgeschlossen – verpflichtet zwar die USA, Großbritannien und Russland zum Gewaltverzicht und zur Beachtung der ukrainischen Unabhängigkeit, Souveränität und bestehenden Grenzen, aber es fehlen Sicherheitsgarantien und Sanktionsmechanismen für den Fall von Verstößen. Hilfe der Signatarstaaten besteht lediglich in der „bekräftigten Zusage, sich um sofortige Maßnahmen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu bemühen ... falls die Ukraine Opfer eines Angriffsaktes oder Gegenstand einer Angriffsdrohung werden sollte, bei der Kernwaffen eingesetzt werden“.
Weil die Krimannexion nicht konkret unter der Androhung eines Nukleareinsatzes stattfand, reagierten die USA mit einem dritten Weg zwischen Beileidstelegramm und Kampfeinsatz: mit militärischen Ausbildungsprogrammen und Waffenhilfe in dosierter Form für die ukrainischen Streitkräfte. Die langfristige Effektivität zeigte sich darin, dass die geplanten russischen Blitzkriegsinvasion im Februar verhindert wurde. Seit dem Angriffskrieg sind die Vereinigten Staaten der größte Waffensteller. Dahinter könnte – geplant, aber nicht diskursiv thematisiert – das geostrategische Kalkül stecken, Russlands machtpolitische Projektionsfähigkeiten in Europa durch einen Abnutzungskrieg auf längere Sicht zu schwächen und damit zugleich auch die russische-chinesische Zweifrontenlage sicherheitspolitisch beherrschbar zu machen.
Auf der anderen Seite wäre Russlands geostrategisches Ziel, durch die Annexion großer Territorialteile der Ukraine hohen Machtzuwachs in Europa zu bekommen. Als „Furchtmacht“ würde es zugleich signifikante Einflussmacht werden und damit auch seine Position in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) als strategischer Partner von China optimieren. Die SOZ soll gemäß der Gemeinsamen Erklärung von Putin und Xi Jinping vom 4. Februar 2022 „ihre Rolle bei der Gestaltung einer polyzentrischen Weltordnung ... weiter ausbauen.“ Was nichts anderes bedeutet, als das gegenwärtige internationale Ordnungsgefüge aufzulösen und neu zu gestalten.
Putin will die Ukraine auslöschen
Der ideologische Charakter als Spezifikum des Ukraine-Kriegs kompliziert eine friedenspolitische Perspektive. Die russische Regierung führt ihn eben nicht nur als klassische Eroberung, sondern insbesondere als ethnopolitischen Vernichtungskrieg. Beleg dafür sind Putins Existenzverweigerung der ukrainischen Staatlichkeit, die Leugnung der nationalen Identität sowie die systematische militärische Zerstörung der zivilen Infrastruktur.
In diesem Kontext irritiert die Einlassung von Frankreichs Präsident Macron, die Fragen nach seinen sicherheits- und ordnungspolitischen Vorstellungen für ein Nachkriegs-Europa stellt: „Einer der wichtigen Punkte dessen, was Präsident Putin immer wieder angesprochen hat, ist die Angst, dass die Nato bis an seine Tür kommt. Das ist die Stationierung von Waffen, die Russland bedrohen können. Dieses Thema wird zu den ‚Friedens‘-Themen gehören, die wir vorbereiten müssen. Wir müssen besprechen, wie wir unsere Verbündeten und die Mitgliedsstaaten schützen, indem wir Russland für seine Sicherheit Garantien geben – an dem Tag, an dem es an den Verhandlungstisch zurückkehrt.“
In Putins Verständnis kann es Sicherheit für Russland jedoch nur als Vasallentum der Ukraine oder annektiertes russisches Föderationsgebiet geben. Putins Sicherheitsdenken ist eine Melange aus Geopolitik und großrussischer betreuter Kulturpolitik gegenüber Weißrussen und Ukrainern.
Bedroht die Nato Russland?
Macron scheint die Kriegslogik der Auslöschung des Ukrainertums aber nicht als realpolitisches Ziel zu werten. Als Präsident eines wichtigen Nato-Staats sollte auch er die Behauptung von der bedrohenden Nato als alte ideologische Propagandaformel beurteilen können und ihr nicht den Gehalt realpolitischer russischer Einschätzung zusprechen. Bedrohungsperzeptionen und Sicherheitsinteressen des politisch-militärischen-geheimdienstlichen Herrschaftskomplexes (Silowiki) werden von ihm, wie allzu oft, mit denen von Russland als kongruent beurteilt.
Jede Diktatur kapert den Staat und behauptet den Volkswillen umzusetzen. Wie fluide vormals jahrzehntelange stoisch deklarierte vorgebliche nationale strategische Sicherheitsinteressen sind, demonstrierte Michail Gorbatschow mit seiner weitreichenden Abrüstung.
Sicherheitsgarantien für Russland?
Bekannt sind Macron natürlich auch die Sicherheitsgarantien, die Moskau von den USA und der Nato fordert und in zwei Vertragsentwürfen im Dezember 2021 quasi ultimativ vorlegte. Wenn Putin am Tag X am Verhandlungstisch sitzen sollte, wird er diese oder vergleichbare Sicherheitszusicherungen erneut verlangen. Würde Macron sie dann, anders als bei der damaligen geschlossenen Ablehnung des Bündnisses, neu gewichten?
Solange der Kreml-Chef seine imperialen Fantasien von einer „Russki Mir“ (Russischen Welt) nicht grundlegend aufgibt, bleibt auch die Sicherheit von Verbündeten wie den baltischen Staaten mit ihren hohen russisch sprachigen Bevölkerungsanteilen stark bedroht. Vor diesem Hintergrund ist wirklich dringende Diplomatie der EU-Staaten gefordert: Macrons Russland- und europäisches Ordnungsbild zu ergründen und nach dem Klärungsprozess eine gemeinsame europäische diplomatische Russland-Akte zu erarbeiten.