Eine neue Ostpolitik ist möglich
Nach den Wahlen: Können Deutsche und Russen zu Dialog und Zusammenarbeit zurückfinden?
Der Berlin-Marathon endete am 26. September, am Tag der sportliche, abends der politische. Die Ergebnisse des Ersteren bekamen wir sofort, bei Letzterem dauert es etwas länger. Fest steht aber, dass die beiden Volksparteien SPD und CDU/CSU als erste über die Ziellinie gingen, gefolgt in einigem Abstand von Bündnis 90/Die Grünen und Freien Demokraten. Das Aparte der Situation besteht darin, dass gerade die Zurückliegenden darüber entscheiden werden, mit welcher der beiden Führenden sie in Verhandlungen über eine künftige Regierungskoalition eintreten möchten.
Am Montag begann der politische Halbmarathon nach den Wahlen. Seine Teilnehmer gingen daran, die aus ihrer Sicht optimalen möglichen politischen Kompromisse sowie die Zusammensetzung der Regierungsmannschaften zu sondieren, die Olaf Scholz oder Armin Laschet anführen könnten. Am Tag nach den Wahlen hatten beide ungefähr gleiche Chancen, das neue Kabinett zu bilden und selbst Kanzler zu werden.
Was bedeutet dies nun für das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland?
Egal, welchem der beiden Politiker die politische Fortuna gewogen ist, klar ist, dass sie es bei den anstehenden Koalitionsgesprächen mit den Parteien Bündnis 90/Die Grünen und FDP zu tun haben werden, deren Vorsitzende Annalena Baerbock und Robert Habeck sowie Christian Lindner für ihre Partei mit Verve die Schlüsselressorts einfordern werden – also mindestens das Außen- und das Finanzministerium. Und neben dem Kampf um diese Posten steht die schwierige Suche nach einem gemeinsamen Nenner in der Innen- und der Außenpolitik bevor.
Außenpolitik und Nord Stream 2
Während des Wahlkampfs stand, wie es in Deutschland Tradition hat, Außenpolitik eher im Hintergrund. Aber bei den bevorstehenden Koalitionsverhandlungen wird es zu den wichtigsten Themen gehören und wie immer besondere Aufmerksamkeit erhalten.
Alle etablierten Parteien (mit Ausnahme der AfD und der Linken) haben in ihren Wahlprogrammen in Bezug auf die Russische Föderation rote Linien gezogen – von der Ukraine und der Krim, den Cyberangriffen, hybriden Einmischungen und ausländischen Agenten bis zum Fall Nawalny. Bei den Grünen und den Liberalen treten sie mehr hervor, das gilt auch für den Komplex Nord Stream 2.
Die Grünen halten die Pipeline für ein geopolitisches Projekt (im Grunde genommen eine „Waffe des Kremls“) und fordern die Einstellung. Die Liberalen finden, das Projekt müsse gestoppt werden, bis Alexei Nawalny auf freiem Fuß sei.
Interessanterweise fokussieren sich Experten und Journalisten nur auf die Drohung der Grünen, die sie für den bedeutendste negativen Faktor halten, der die bilaterale Beziehung verschlechtern könnte, so als würden Baerbock und ihre Kollegen, wenn sie mit in der Regierung sitzen, alles denkbare unternehmen, um dieses Ziel zu erreichen. Tatsächlich kann man sich aber nur schwer vorstellen, dass eine der beiden Volksparteien sich auf solche Forderungen einlassen oder sie gar in einen Koalitionsvertrag aufnehmen würde.
Meine Prognose lautet: Nord Stream 2 wird, wie in der gemeinsamen Erklärung der USA und der BRD vom 21. Juli festgehalten, fertiggestellt und in Betrieb genommen abhängig vom Umfang des Transits russischen Gases über die Ukraine und dem „aggressiven Verhalten Russlands“. Die größten Risiken für das Projekt stehen nach wie vor im Zusammenhang mit Washington (Sanktionen gegen die Zertifizierungen und die Versicherungsgesellschaften) und Brüssel (Beschränkung durch das dritte Energiepaket). Die Grünen werden die objektiven Faktoren akzeptieren müssen – das hohe ökologische Niveau des Projekts einschließlich seiner technischen Eignung für den Transport von Wasserstoff in der Zukunft.
Moralischer Druck auf Moskau wird bleiben
Die „allgemein anerkannten“ roten Linien sind also vor allem wertorientierte Parameter der Außenpolitik, und bei den künftigen Koalitionspartnern dürfte es in dieser Hinsicht keinen wesentlichen Dissens geben. Sowohl der Kanzler als auch die Angehörigen seiner Regierungskoalition werden weiterhin moralischen Druck auf Moskau ausüben. Wahrscheinlich ist, dass die Grünen und die Freien Demokraten in den ersten Monaten der Tätigkeit der neuen Koalition versuchen werden, ihre „besondere Verbundenheit“ mit diesem kritischen Komplex zu unterstreichen (Ukraine, Nawalny, Nord Stream 2 etc.).
Aber die russische Regierung, einschließlich des Präsidenten, ist darauf vorbereitet. Ich würde dies als notgedrungene Fortsetzung der in den letzten Jahren entstandenen „Wertekoexistenz“ bezeichnen, bei der beide Seiten die gegenseitige Kritik akzeptieren, ohne ihr Verhalten im Wesentlichen zu verändern. Ich vermute, dass wir für die kommenden Jahre mit einer solchen Koexistenz zu rechnen haben.
Viele Probleme sind ohne Russland nicht lösbar
Die Berliner Politik wird jedenfalls, ob unter einem Olaf Scholz oder unter einem Armin Laschet (gegenwärtig hat es noch keinen Sinn, darüber nachzugrübeln, wer Kanzler wird, und ganz gleich wer es am Ende ist, der russische Präsident wird mit ihm ein effektives Arbeitsverhältnis eingehen), vor allem konstruktiv-kritisch sein; sie wird die Priorität auf eine partnerschaftliche, nicht auf eine konfrontative Beziehung legen.
Alle möglichen Teilnehmer an künftigen Koalitionsgesprächen haben in ihren Wahlprogrammen Russland als einen Staat definiert, ohne den die internationalen Probleme nicht zu lösen sind. Diese Position kann man uneingeschränkt auf die für sie strategisch wichtigen Fragen der Klimapolitik anwenden, die durch den Europäischen Grünen Deal festgelegt ist.
Erstens arbeiten Berlin und Moskau schon seit langem in vielen ökologischen Bereichen ressortübergreifend zusammen (Schutz der Wälder, Wiederherstellung der Torfsümpfe, Lagerung und Verarbeitung von Abfällen, Nutzung der besten verfügbaren Technologien usw.). Zweitens gibt es in beiden Ländern ein reges Interesse an einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit in den verschiedenen ökologischen Nischen wie zum Beispiel Wasserstoff- und erneuerbare Energien und ökologische Landwirtschaft.
Zudem wird sich die Kooperation in den traditionellen Wirtschaftszweigen fortsetzen, wie auch – unter jeder möglichen Regierungskoalition – die Zusammenarbeit in den Bereichen Wissenschaft, Bildung, Jugend und überregionaler Austausch sowie in der Kultur. Dies wird der wichtigste Faktor, um den Wertekonflikt auszugleichen .
Grundlagen einer neuen Ostpolitik
Leider besteht in den deutschen Medien nach wie vor ein negatives Bild von „Putins Russland“, das nicht nur die Bürger, sondern auch die Politiker in der Exekutive und der Legislative beeinflusst. Und das vor dem Hintergrund, dass die Zahl der Experten abnimmt, welche die Prozesse in unserem Land kennen und verstehen.
In dieser Hinsicht ist der Wunsch der Sozialdemokraten zu begrüßen, endlich die Grundlagen einer neuen Ostpolitik auszuarbeiten, die alle aktuellen Herausforderungen für die deutsch-europäisch-russischen Beziehungen berücksichtigen und „Wachstumspunkte“ für einen neuen konstruktiven, vertrauensbasierten Dialog festlegen sollen. Die Grünen und die Freidemokraten werden es schwer haben, sich einem solchen Ansatz zu widersetzen, sie werden sich sehr Mühe geben müssen, für die Beibehaltung der alten Konfrontationshaltung gewichtige Argumente zu finden.
Vermutlich wäre es dann doch besser, heute schon einen Teil der Anstrengungen in eine konstruktive Richtung zu lenken. Dazu gehört auch die Wiederherstellung unserer Plattform Petersburger Dialog.
Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann
Lesen und hören Sie dazu auch den KARENINA-Kommentar über die mögliche Russlandpolitik der künftigen Bundesregierung.