Das Schweigen der Parlamentarier
Eiszeit auch zwischen EU-Russland-Delegation und Duma schwächt die soft power der EU
Die EU hat nichts zu bieten. Das meint nicht nur der russische Außenminister Sergei Lawrow, der den Hohen EU-Außenbeauftragten bei seinem Moskau-Besuch vergangenes Jahr mit den Worten „Die EU ist kein verlässlicher Partner“ öffentlich demütigte. Das meinte auch die US-Top-Diplomatin Victoria Nuland, heute in der Biden-Administration tätig, als sie beim Maidan-Umsturz im Februar 2014 in einer vertraulichen Aussprache über die ukrainische Regierungsbesetzung die US-Meinung legendär machte: „Fuck the EU.“
Bekanntlich begann wenig später die neue Eiszeit. Als „grüne Männchen“ getarnte russische Sondertrupps besetzten die Krim-Halbinsel, hissten an den Gebäuden der Regionalregierung russische Flaggen. In der Folge kappte die Europäische Union (EU), neben der Verhängung von Sanktionen, nahezu alle diplomatischen Kanäle.
Dazu zählte nicht nur das Aus für die EU-Russland-Gipfel, die zuvor zweimal im Jahr auf Kommissions- und Ministerialebene abgehalten wurden, sondern auch der Totalstopp aller parlamentarischen Beziehungen zwischen der Russland-Delegation des Europaparlaments und dem russischen Nationalparlament, der Staatsduma.
Es war, aus heutiger Sicht, eine Riesen-Torheit! Welch verlorene Option, zählt es doch zum diplomatischen Einmaleins, das Parkett für politische Erfolge durch Beziehungen auf Arbeitsebene zu pflegen, auch bei schweren Wettern. Stattdessen leistet sich das Europaparlament die Abwesenheit jeder eigenen Strategie zum großen Nachbarn im Osten.
„Man muss doch sehen, welche Erfahrungszuwächse solche Delegationskontakte bringen“, bilanziert der deutsche Europaabgeordnete Peter Jahr aus Leipzig, Vollmitglied in der EU-Russland-Delegation. Die Ukraine-Kontakte hätten es schließlich auch gezeigt, sagt er. Im Fall von Russland dagegen fiel das Parlament in Tiefschlaf.
Nur zu gut weiß die Führungsebene in den EU-Institutionen, dass die Union außenpolitisch als vielstimmiger Chor auftritt, um nicht zu sagen: kakophonisch. Strategisches und sicherheitspolitisches Gewicht mögen einzelne EU-Mitgliedstaaten haben, die EU als Ganzes verfügt über dieses, außer in der Außenhandelspolitik, kaum.
EU-Parlament: Kein Austausch mit Russland
Ob dieser Defizite hält sich der Staatenbund seit langem sein Potenzial als „soft power“ zugute. Mit einer Kombination aller zur Verfügung stehenden wirtschaftlichen, programmatischen, unterstützenden, symbolpolitischen und zivilgesellschaftlichen Instrumente soll kooperationsstiftend auf Partner wie auch auf Rivalen eingewirkt werden. Ein Dialog ohne Streitmacht, und dennoch oft erfolgreich.
Wäre unter diesen Bedingungen gerade die Aufrechterhaltung des Austauschs zwischen europäischen Abgeordneten und russischen Duma-Mitgliedern nicht ein starkes zivilgesellschaftliches Signal gewesen, ein Signal, wie es notorisch in keiner Rede von EU-Außenpolitikern fehlt und als eine der strategischen EU-Prioritäten angeführt wird? Es wäre die Diplomatie der Parlamentarier, auf die man zählen sollte.
„Man könnte auf dieser Ebene viel lockerer sein und sich manche Wahrheiten einfacher sagen als an einem Tisch von sieben Meter Länge“, meint Peter Jahr in Anspielung auf den jüngsten Meinungsaustausch zwischen dem französischen und russischen Staatsoberhaupt im Kreml, bei dem das Foto vom weißen Verhandlungstisch in Überlänge sinnbildlich um die Welt ging. Auch könnte im Dialog auf der Ebene der Gewählten eventuell mancher politische Beschluss angeschoben werden, so Jahr.
Während dies EU-Parlamentarier, zumindest bis zur Corona-Krise, in der Partnerschaft zum US-Kongress mit vielen Atlantikflügen unterstrichen, oder in den jeweiligen Delegationen beste Beziehungen zu japanischen, kanadischen oder australischen Abgeordnetenkammern unterhalten, lässt das EU-Parlament diese Instrumente in Bezug auf die Russische Föderation ruhen.
Sitzungen der Russlanddelegation finden statt, um sich von Think Tanks die Lage in der Ukraine-Krise deuten zu lassen. Strategiepolitisch indes scheint das Europaparlament keinerlei eigenes Standing zu besitzen.
Selbstamputation des EU-Parlaments
Es mag für die Selbst-Amputation des Gremiums vielerlei Gründe gegeben haben. Nicht zuletzt sorgten schwarze Listen und wechselseitige Einreisesperren für Politiker, darunter gegen den früheren Parlamentspräsidenten Davide Sassoli, für Eskalation und verbale Aufrüstung. Ebenso führte die vermutete Desinformationskampagne Russlands zur Beeinflussung der Europawahlen 2019 zur weiteren Verhärtung.
Andererseits trägt das Muster der parlamentarischen Eiszeit die Handschrift der Nato, in deren Windschatten die EU ihre Politik gegen Moskau in den vergangenen Jahren ausrichtete. Rätselhaft bleibt, dass so selbstbewusste EU-Institutionen wie das Parlament dabei auf eine eigene Haltung verzichteten.
Entsetzt über „harte Sprüche“ im Europaparlament, wenn es um Russland geht, zeigt sich ein finnisches Mitglied der Russlanddelegation. „Wir treiben mit Russland Handel, wir haben eine 1300 Kilometer lange gemeinsame Grenze, da pflegt man einen anderen Umgang miteinander“, beschreibt die Parlamentarierin das Verhältnis ihres Lands, das durch Neutralität mit seinem schwierigen Nachbarn seine Stärke gewann. Auch deutschen SPD-Mitgliedern geht die „konfrontative Rhetorik“ im EP gegenüber Moskau angesichts der historischen Erfahrungen der Ost-Entspannungspolitik zuweilen zu weit. Treiber sind dabei nicht nur Parlamentarier aus den baltischen Ländern oder Polen, die ihre jeweiligen historischen Erfahrungen mit Russland haben, sondern auch Abgeordnete aus westlichen EU-Ländern, die sich ihrer von Washington geprägten Kalter-Krieg-Logik oft nicht bewusst zu sein scheinen.
Vor 2014 wurden die Beziehungen zu den russischen Gesetzgebern überwiegend im Ausschuss für parlamentarische Kooperation (APK) weiterentwickelt, einem im Rahmen des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens zwischen der EU und Russland eingerichteten interparlamentarischen Gremium. Der APK bot von 1997 bis 2014 eine stabile Plattform für die Entwicklung der Zusammenarbeit und des Dialogs zwischen den Delegationen des Europäischen Parlaments und der Föderationsversammlung von Russland. Es scheint hohe Zeit zu sein, diese Partnerschaftsabkommen auf eine neue, moderne Grundlage zu stellen und den Duma-Vertretern in Moskau die Hand zu reichen.
Nicht die europäische Bürgerkammer hat die Einreisesperren und Sanktionen verhängt. Viel mehr würde das Europaparlament jetzt durch eine smarte, eigenständige Parlamentarier-Diplomatie und sichtbare zivilgesellschaftliche Kontakte an Unabhängigkeit und strategischer Kompetenz gewinnen.