Blind für Geopolitik
Deutschlands egozentrische Kriegsdebatte: Habermas, Schwarzer, Wagenknecht und das deutsche Dilemma
Zwei Monate nach Russlands Einmarsch in die Ukraine im vergangenen Jahr veröffentlichte Jürgen Habermas, Deutschlands vielleicht führender öffentlicher Intellektueller, einen Kommentar, der eine der heftigsten politischen Debatten des Lands seit Jahrzehnten auslöste. Habermas fragte, wie sich Deutschland in dem sich ausweitenden russisch-ukrainischen Krieg positionieren sollte. Die Deutschen haben sich noch immer nicht auf eine Antwort geeinigt.
Zu Beginn des Kriegs wurde Bundeskanzler Olaf Scholz mit einer Flut von offenen Briefen konfrontiert, die von Hunderten von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterzeichnet wurden. Einige vertraten eine ablehnende Haltung und sprachen sich für ein energischeres und aktiveres Engagement für die Ukraine aus. Andere waren zurückhaltend und drängten auf eine Lösung, die es Russland erlauben würde, eine Art Sieg zu erringen und Europa vor einem sich ausweitenden und langwierigen Konflikt zu bewahren.
Habermas lehnte sowohl die Kriegslüsternheit der einen als auch den naiven Pazifismus der anderen ab. Stattdessen unterstützte er den vorsichtigen Ansatz von Scholz, der zu diesem Zeitpunkt die besten Aussichten auf eine gerechte Friedensregelung zu bieten schien.
Das Manifest von Schwarzer und Wagenknecht
Seitdem hat sich Russlands Krieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung verschärft, und Deutschland hat seine militärische und finanzielle Unterstützung für die Ukraine auf ein Niveau ausgeweitet, das im vorigen Frühjahr noch undenkbar gewesen wäre. Doch ein Jahr nach dem Einmarsch zeichnen sich Spaltungen in Scholz‘ Regierungskoalition ab, und es werden wieder offene Briefe eingereicht.
Ein solcher Brief, verfasst von der Grande Dame des deutschen Feminismus, Alice Schwarzer, und Sahra Wagenknecht von der Partei Die Linke, lässt den Leser nur vage erahnen, wer die Verantwortung für den Krieg trägt. In ihrem „Manifest für Frieden“ scheuen Schwarzer und Wagenknecht davor zurück, Russland für seine Gräueltaten verantwortlich zu machen, und rufen zu Verhandlungen auf, auch wenn das bedeutet, dass die Ukraine im Gegenzug für einen Waffenstillstand oder einen Friedensvertrag einigen territorialen Forderungen Russlands zustimmen muss.
Sie rufen auch zu massiven Demonstrationen auf, um Druck auf die Regierung auszuüben, damit sie ihr militärisches Engagement reduziert und ihre Zusagen für Waffenlieferungen zurücknimmt. Der Brief, mitunterzeichnet von Hunderten deutscher Intellektueller, Künstler und linker Politiker, sorgt für Aufruhr im politischen Establishment – vor allem jetzt, da bekannt ist, dass rechte und prorussische Gruppen die Friedensdemonstrationen unterwandern.
Meiner Ansicht nach handelt es sich bei dem Manifest um einen kaum verhüllten NIMBYismus (not in my backyard – nicht in meinem Hinterhof) und einen fehlgeleiteten Versuch, die übliche Neutralität Deutschlands an die ausdrückliche Unterstützung einer Verhandlungslösung zu binden.
Noch einmal Habermas
Ein paar Tage nach dem Erscheinen des Schwarzer-Wagenknecht-Manifests veröffentlichte Habermas einen weiteren Kommentar, in dem er die zunehmend harte Haltung der Regierung seit der Ernennung von Boris Pistorius zum Verteidigungsminister im vergangenen Monat beklagte. Er hält die pazifistische Position aber nach wie vor für politisch gefährlich und angesichts der rücksichtslosen Verfolgung revanchistischer Ziele durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin für zutiefst naiv.
Habermas spricht das an, was er als das grundlegende Dilemma des Westens ansieht. Im Zentrum seiner Argumentation steht eine zentrale Entscheidung: Soll sich der Westen dafür einsetzen, dass die Ukraine den Krieg gewinnt, oder soll er lediglich verhindern, dass Russland gewinnt? Nach den jüngsten Äußerungen von Pistorius auf der Münchner Sicherheitskonferenz zu urteilen, scheint die deutsche Regierung dazu zu tendieren, einen vollständigen ukrainischen Sieg sicherzustellen.
Aber wenn dies das Ziel Deutschlands ist, so Habermas, wird es schlafwandelnd auf den Abgrund zusteuern und einen sich ständig ausweitenden und verschärfenden Konflikt riskieren, in dem Deutschland selbst zum Kombattanten werden könnte. Lediglich zu verhindern, dass Russland den Sieg davonträgt, wäre Habermas zufolge weniger riskant, da dies mehr Möglichkeiten für Verhandlungen und gesichtswahrende Kompromisse auf dem Weg dorthin bieten würde.
Habermas’ Position überrascht nicht, da er seit langem davon überzeugt ist, dass der Dialog das zentrale Merkmal der Demokratie und damit der internationalen liberalen Ordnung ist. Aber kann der Westen wirklich erwarten, dass Putin nach seiner zunehmend kriegerischen Sprache, seinen nuklearen Drohungen und Lügen einen aufrichtigen Dialog führt?
Habermas umgeht dieses Problem, indem er einfach auf die UN-Charta verweist, die alle Mitgliedsstaaten verpflichtet, zur Sicherung einer friedlichen Welt beizutragen. Und wie in der deutschen Presse vielfach hervorgehoben wurde, macht er keinen konkreten Vorschlag, was zu tun ist. Wie das Schwarzer-Wagenknecht-Manifest ist auch Habermas’ Argumentation für einen Dialog im Rahmen des Möglichen viel zu deutschlandzentriert und blind für geopolitische Veränderungen.
Die Kindleberger-Falle
Aber es gibt immer noch Argumente, die dafür sprechen, einen russischen Sieg zu verhindern, anstatt einen ukrainischen Sieg zu sichern. Die Frage ist nur, wie man das macht.
Meiner Meinung nach ist Habermas nicht weit genug gegangen. Er hätte auf die „Kindleberger-Falle“ hinweisen müssen. Die Katastrophen der 1930er-Jahre, so argumentierte der Wirtschaftshistoriker Charles Kindleberger, rührten von dem Versagen der Vereinigten Staaten her, in die Fußstapfen Großbritanniens zu treten, nachdem sie es als überragende Weltmacht abgelöst hatten.
Als Großbritannien diese Position innehatte, so Kindleberger, koordinierte es sich mit seinen Partnern und Verbündeten, um globale öffentliche Güter wie Sicherheit und finanzielle Stabilität bereitzustellen. Doch mit dem Niedergang des britischen Empire verschwanden diese Güter und schufen die Voraussetzungen für Depression, Völkermord und einen weiteren Weltkrieg.
Habermas sollte sich Kindlebergers Lektion zu Herzen nehmen und seine strategische Perspektive über den Krieg in der Ukraine hinaus erweitern. Um Frieden und Stabilität wiederherzustellen, muss die Nato mit China, Indien und mittelgroßen Mächten wie Brasilien, Südafrika, Saudi-Arabien, Pakistan, Japan und Südkorea zusammenarbeiten, um einen neuen internationalen Sicherheitsrahmen zu schaffen und Kanäle für Kommunikation und Dialog zu öffnen.
Diesen anderen Mächten muss klar gemacht werden, dass der Krieg in der Ukraine leicht außer Kontrolle geraten kann, wenn nicht eine breite internationale Koalition versucht, den Kreml zu zügeln. Aber das kann nur durch einen sinnvolleren (wenn auch wahrscheinlich mühsamen) Dialog geschehen.
Jetzt ist nicht die Zeit für Zurückhaltung und Trittbrettfahrerei. Ein sich ausweitender Konflikt wird allen schaden. Wenn die Deutschen wollen, dass die Kämpfe aufhören, sollten sie von ihrer Regierung verlangen, dass sie ihren Teil dazu beiträgt, andere Regierungen an den Tisch zu bringen.
Übersetzung: Andreas Hubig / Copyright: Project Syndicate 2023